The Times, they are a-changin’ –: Der Fortschritt, das große Paradigma der Neuzeit, das uns alle miteinander verband, egal welcher politischen Glaubensüberzeugung, wird brüchig, dünn, fadenscheinig – ein Traum unserer Vorfahren, aus dem wir langsam erwachen und feststellen, dass es in Wirklichkeit ein Albtraum ist. Unser Blauer Planet kann uns kaum mehr tragen, das System gerät mit rasch zunehmender Geschwindigkeit an seine Belastungsgrenzen, eine evolutionäre Agonie könnte uns bevorstehen, nach der er, befreit von einem zum Monster ausgewachsenen Parasiten, weiter seine Kreise zieht. Wir können kein einziges Problem mehr lösen, stecken zwischen allen Fronten des Verschuldungs- und Verblendungszusammenhangs und sehnen uns manchmal nach den Führern, die uns von diesen Querelen erlösen und sagen, was zu tun ist.
Wie Bob Dylan vor 60 Jahren
Merkwürdige Zeiten, die zu den Extremen drängen: auf der einen Seite einen sich überschlagenden, jede Restvernunft ablehnenden Konsumismus, der auf dem Vulkan tanzt und wieder und wieder letzte Feuerwerke abbrennt; einen Fundamentalismus der Reinheit auf der anderen: Schwarmgeister, Esoteriker, rechte und linke Extremisten, Landkommunenbewohner; Menschen, die die Welt retten wollen, indem sie sich anders ernähren; Prepper, die sich auf Bürgerkriege vorbereiten: Gerechte und Ungerechte, die eint, dass sie die Idee der Menschheit aufgegeben haben. Eine Zeit der Verwesentlichung, die heraustreibt, wer wir in Wahrheit sind.
Und Stimmen. Wir hören Stimmen, die wir lang vergessen hatten. Worte wie diese: „But what’s to be done / when the only way to defend ourselves / from what we have created / is to merge with it / ... / the Angel is rising, the Fury / the which side are you on?/ the when will the guilty be called to account?“ Sie stammen aus dem Song All humans too late der englischen Lyrikerin, Spoken-Word-Poetin und Rapperin Kate / Kae Tempest*. Tempest ist Mitte 30. Man würde es nicht vermuten, wenn man diese Zeilen liest. Wenn man die Stimme hört, erst recht nicht. Aber vielleicht sind nur die Jungen in der Lage, uns mit der Weisheit der Greise etwas vorzusingen. Das gab’s schon einmal. 1961, als der noch viel jüngere Bob Dylan im Gaslight Cafe Hard Rain sang, in einer Kaskade prophetischer Visionen eine untergehende Welt beschwor, auf der er, der Sänger, sich noch einen Moment halten konnte, bevor auch er sank. Dieser Moment ist der Song, seine Bilder schilfern ab aus der Konstellation von Stimme und Tod. Was Tempest mit Dylans prophetischen Songs der 1960er verbindet, ist ein Ton verstörender Bündigkeit, fast unmenschlicher Direktheit, in dem einfache Sätze so klingen, als habe sie noch nie jemand gesagt. Auf Dylans „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows“ antworten Sätze wie „these days are not days but strange symptoms“. „What have you seen, my blue-eyed son?“ findet Resonanz in: „What’s the matter with you / my lovely brown-eyed man?“
All das ist ganz einfach. Jede/r hätte im Prinzip darauf kommen können. Tempest sagt es selbst: „All I’ve got to say has already been said / I mean, you heard it from yourself / when you were lying in bed and couldn’t sleep / thinking , ‚Couldn’t we be doing this differently?‘ “ Und selbst das sagt / singt sie so, als hätte noch niemand es ausgesprochen. Vielleicht haben nur wenige sich dem zur Geschäftsgrundlage der Kunst in der Moderne gehörenden Originalitätsbedürfnis so souverän entledigt wie Tempest: Es geht um die Wahrheit, die uns alle verbindet. Denn: „we are all one and the same flesh“. Das letzte Album, The Book Of Traps And Lessons von 2019, drückt dies mit größter Konsequenz aus. Es ist fast schon Spruchdichtung. Die Zeiten sind so, dass allzu aufgedrehte Metaphern, ja im Extrem die Kunst selbst als frivoler Luxus erscheinen könnten. Tempest spricht und singt im Angesicht einer rettungslos verlorenen Welt, direkt und schnörkellos: „Europe is lost“ – „Happiness, the brand, is not happiness“ – „where is the good heart to go but inwards“ – „We should be fasting two days out of seven / Sleeping in shifts with the others who share our households / To make sure that, at all times, someone is up with the candle“.
Das sind Botschaften, unverschlüsselt ausgestoßen, solange noch jemand zuhört. Es gibt keine Verheißungen mehr wie noch in den 60ern, als die Drohung des Atomkriegs und die Verheißungen neuer Menschlichkeit ineinander umschlugen. Das Evangelium der Liebe, das Tempest zuletzt predigt – „wake up / and love more“ sind die letzten Worte von Let Them Eat Chaos von 2016, „I love to see people’s faces“ die von The Book of Traps und Lessons –, ist Trauerarbeit, Widerstand ohne Hoffnung. „ ‚I’ve seen how blind I’ve been‘, said all prophets, too late / All humans, too late“.
Im Juli 2020 ist Running Upon The Wires von 2018 bei uns erschienen, zweisprachig bei der Edition Suhrkamp, die sich Tempests Lyrik annimmt. Es sind Liebesgedichte. Auch hier, in diesem alten Genre, gelingt das Kunststück, das zu sagen, was alle sagen, und es doch so zu sagen, dass man das Gefühl hat, sie sage es zum ersten Mal. Wie schafft sie das, so einfach zu bleiben und der Phrase zu entgehen?
Sicherheit der Formulierung und ein Ingenium, das vor dem nicht zurückschreckt, was alle empfinden, und sich den Phrasen, die etwas davon aufbewahren, furchtlos nähert, um etwas von der in ihnen enthaltenen kollektiven Verbindlichkeit zu retten: das ist die eine, am Detail sprachlicher Fügungen arbeitende Seite. Die andere lässt sich als ein Formbewusstsein beschreiben, das weit über das einzelne Gedicht hinausführt. Let Them Eat Chaos war ein Konzeptalbum, wie es lange keins gab: sieben Geschichten von sieben Londonern, die in derselben Straße wohnen und nachts schlaflos liegen, ein Gewitter zieht auf, sie treten im strömenden Regen auf die Straße, sehen und begegnen einander, dann fällt der Vorhang. Der Zusammenhang ist lose, aber es entsteht doch ein Bild von etwas, das über Einzelerfahrungen hinausgeht; Regungen einer kollektiven Stadtseele, von denen Tempest hier etwas auffängt.
Die formale Groß-Entscheidung, die Running Upon The Wires zugrunde liegt, ist so einfach wie wirksam. Drei Teile hat diese Liebesgeschichte von zwei Frauen, die hier erzählt wird; Tempest hat aber die Reihenfolge umgekehrt, und so kommt „the end“ an den Anfang zu stehen und „the beginning“ ans Ende: Die Liebesbeziehung, die nicht die erste große war, aber eine große, ist in Trümmern; das lyrische Ich, das seine Partnerin heiraten und mit ihr Kinder haben wollte, ist wieder allein und macht das, was alle machen: Mühsam, Fetzen um Fetzen rekapituliert es das, was war, und sucht zu verstehen, wie alles kam und was entstand aus dem Glück. Gab es Risse, über die ich mich hinweggesetzt habe? Vielleicht von Anfang an? Was bleibt, obwohl es vorbei ist? Und was, weil es vorbei ist?
Jede/r kennt diese Fragen. Aber sie gewinnen eigentümliche Prägnanz dadurch, dass es sich bei diesen Gedichten um Augenblickskonzentrate handelt, in denen die Zeiten sich überlagern. Etwa in „Well„ aus „the beginning“: „the wetness of her mouth is an ocean I / sail on or swim through or stare for peace // There was someone else who lived in this skin before now // ... // She is vocal music. Choral. / The rest is canned laughter“. Etwas bricht da ein ins erotische idyll – eine Andere, Verflossene? Oder das lyrische Ich, wie es früher einmal war? Die Geliebte? Wer auch immer, sie alle waren ja „in dieser Haut“: Sind sie es jetzt nicht mehr? Aber warum drängt es sie, wenn auch im Modus der Abwesenheit, in dem Moment der Liebe nach oben? Das „Lachen aus der Konserve“, mit dem das Gedicht endet, zeigt jedenfalls an, dass dieser Moment, in dem die Zeit sich endlos dehnt – „she makes time a vast plain“ heißt es vorher –, so ganz rein und ungetrübt eben doch nicht war und bleiben konnte. Aber nahm sie es schon damals so wahr? Wurde es dadurch, dass es endete, herausgetrieben? Und was an der Erinnerung daran ist vielleicht verzerrend? Denn raus aus der Geschichte ist das lyrische Ich noch lange nicht – und weil unsere Gefühle nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Zukunft entwerfen, scheint es ihr so, als würde es noch lange so bleiben: „With enough time / it will be like that never happened / With enough distance / our bodys will forget // Waiting for the kettle, suddenly / we’ll be drawn backwards / Understanding the unfathomable / things the other said“. Und auch das stimmt ja nicht. Irgendwann gibt es kein „we“ mehr; dann gibt es aber auch kein Bedürfnis mehr, eine Geschichte zu erzählen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen Zusammenhang zu bringen, der mir das Unfassbare verständlich macht.
So ist Running Upon The Wires vor allem eine grandiose Phänomenologie des Moments in between, in dem man die Trennung so weit überstanden hat, dass man das Zerbrechen überhaupt in Worte fassen kann, der Leidensdruck aber noch so groß ist, dass man sie wieder und wieder in Worte fassen muss. Neu ist das nicht. Aber ich finde, dass Tempest durch Klugheit und Mut, durch ein lyrisches Sprechen, das sich an der Wahrheit und nicht an der Schönheit orientiert, Härte und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst und ein Formbewusstsein, das auf die Sache bezogen ist, diesen Moment insistierend auslotet wie wenig andere. „This poem was written to be read aloud“ heißt es am Anfang von Let Them Eat Chaos. Das möchte man auch diesem Band wünschen.
*) Tempest hat ihren Namen in Kae geändert. Auch ihre geschlechtliche Identität – sie will kein „he/she“ mehr sein, sondern ein „they“: ein être collectif, wie es der späte Goethe und nun auch der späte Dylan („I contain multitudes“) von sich behauptet. Wie trägt man dem Rechnung? Ich habe es mit Neutralisierung versucht. Aber ich bin nicht sicher, ob Kae Tempest das will.
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