Es gibt von Alexander Kluge eine Geschichte mit dem Titel Götterdämmerung in Wien. Dort wird erzählt, dass die Wiener Oper mitten im Untergang des Deutschen Reichs noch ein Fanal setzen wollte. Es sollte der letzte Tag von Wagners Ringzyklus zur Aufführung gebracht werden.
Kurz vorher wurde die Oper bombardiert und brannte aus. Dennoch wurde weitergeprobt. Die einzelnen Orchestergruppen, Chor und Sänger verteilten sich über die Luftschutzkeller der Stadt. Die Verbindung wurde durch Funktelefone aufrechterhalten, die Proben mitgeschnitten, teilweise wurden Filmaufnahmen gemacht. Alles sollte dann in den Studios des Salzburger Rundfunks zusammenmontiert und im allgemeinen Zusammenbruch als Zeichen des geistigen Endsiegs ausgestrahlt werden. Aber der Rundfunk verw
r der Rundfunk verweigerte sich aus Feigheit.Kluges Erzählung folgt einer Ästhetik des Zerlegens in Einzelteile, die daraufhin neu zusammengesetzt werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Summe der Teile nicht weniger, sondern mehr sei als das Ganze. Gerade in Bezug auf Oper und Musiktheater ist ein solcher Ansatz nötig. Hier sind die großen Theaterreformen des 20. Jahrhunderts nur in äußerst gedämpfter Form angekommen. Noch immer steht das suggestiv überwältigende Ganze im Vordergrund. Die Partitur ist sakrosankt, alle Mittel des integralen Kunstwerks sollen zu dem einen, das Publikum hypnotisierenden Eindruck zusammenwirken.Die Kritiker liebten esMit dem Blick auf die Konflikte, die sich an der Opernbühne in Halle seit etwa zwei Jahren aufgeschaukelt haben, liest sich die Erzählung wie eine Blaupause. Opernintendant Florian Lutz, dessen Vertrag nach diversen Querelen Ende Februar durch die Entscheidung des Aufsichtsrats der Halleschen Theater GmbH (TOOH) nicht über 2021 hinaus verlängert wurde, hat sich in vielen Inszenierungen diese Zerlegung, oder sagen wir: Dekonstruktion des Musikdramas zur Aufgabe gemacht.Das hat nicht nur, aber doch vor allem etwas mit den zwei Raumbühnen zu tun, die Lutz für einige Inszenierungen von seinem Bühnenbildner Sebastian Hannak hat konstruieren lassen: eine „Bühnen-Installation, die das gesamte Auditorium umfasst und von dort aus eine begehbare Rauminstallation auf der Hauptbühne bis in die entlegensten Winkel der Hinter- und Seitenbühne vorsieht“ (Hannak). Unter anderem wurden Wagners Der fliegende Holländer, Elfriede Jelineks Wut, Sarah Nemtsovs Auftragsoper Sacrifice und Verdis Messa da Requiem darauf inszeniert.Die Raumbühne hebt die Trennung von Bühne und Publikum auf. Damit verschwindet die autoritäre zentralperspektivische Anordnung des klassischen Theaters. Die gemeinsame Wirklichkeit, die auf der Guckkastenbühne hergestellt wurde, war: Unterwerfung unter einen privilegierten Blick. Im Fall der Raumbühne sieht und hört jede/r etwas anderes. Keine Perspektive ist per se einer anderen überlegen. Es ist eine „demokratische Szenografie“ (Kornelius Paede), in der ein Gemeinsames nicht autoritär, sondern durch die Aushandlung von Differenzen hergestellt werden soll.Als ich vom Opernstreit in Halle hörte, dachte ich zunächst: Na typisch, ein Intendant, dessen Inszenierungen überregional gefeiert werden – die erste Raumbühne bekam den deutschen Theaterpreis „Der Faust“, in der Zeit wurde die Hallenser Oper zu „einem der aufregendsten Musiktheaterhäuser in Deutschland“ ernannt –, aber einer, der sich mit dem Blick auf die großen Zentren über die Bedürfnisse der Bevölkerung hinwegsetzt. Halle ist nicht Berlin, die partiell unheilige Allianz zwischen den Theaterkritikern, die nach Neuem gieren, und den Touristen, denen man sowieso alles vorsetzen kann, greift nicht. Das hat Nachteile, aber auch Vorteile. Jedenfalls kann sich das Theater als Medium, in dem eine Gesellschaft sich selbst reflektiert, in der Provinz über den kommunalen Rahmen, in dem es sich artikuliert, nicht – oder nur mit viel Geduld – hinwegsetzen.Der Ost-West-Konflikt schien mir hinzuzukommen und die Spannungen einer Ästhetik mit überregionalem Anspruch mit den Gegebenheiten vor Ort zu potenzieren. Lutz: ein Zuzügler aus dem Rheinland, mobil und gewandt, der den Ossis zeigt, wo’s ästhetisch langgeht und nun die Quittung dafür bekommt. „Volk vs. Elite“ mal wieder.Aber es stimmt einfach nicht. In den Gesprächen, die ich mit Bürgern aus Halle geführt habe, fanden sich keinerlei Indizien dafür, dass Konflikte dieses Typs die Gemüter überhaupt interessieren würden. Geredet wurde vor allem über die Inszenierungen selbst und über die ökonomischen Zahlen, die als Begründung für Lutz’ Rauswurf angeführt worden waren.Publikum ging verloren, etwa 20.000 Besucher pro Jahr, ein Rückgang der Einnahmen von 300.000 Euro. Das sagt die eine Seite. Die andere entgegnet, dass die Zahlen sich langsam erholen und dass auf alle Sparten gerechnet nur etwa neun Prozent weniger Zuschauer gekommen wären, was für einen ästhetischen Paradigmenwechsel wohl vertretbar sei. Ob die Raumbühne, die nur eine geringere Auslastung des Opernhauses ermöglicht, Publikum generiert oder abschreckt, ist nicht zu sagen. Man kommt mit Zahlen nicht weiter.Der Buchhändler Raimund Müller erzählte, dass auch das ältere Publikum sich an den neuen Stil gewöhne, dass Neugier und die Bereitschaft, sich auf die Inszenierungsexperimente einzulassen, langsam zunehmen würden. Das ist statistisch nicht belastbar, eher so ein Gefühl. Aber ein Buchhändler ist so etwas wie der Friseur der Kulturszene. Ihm wird viel erzählt, Meinungen und Stimmungen laufen quer durch seinen Laden hindurch. Man sollte etwas darauf geben – zumal es Indizien gibt, die es bestätigen. Fidelio spaltete das Publikum, Ariadne auf Naxos (das am Tag der Aufsichtsratsentscheidung Premiere hatte) war ein voller Erfolg. Demnächst steht als Gastspiel Händels Julius Cäsar in Ägypten in der Inszenierung von Peter Konwitschny an, das als Doppel-Heimspiel – Konwitschny und Händel – ein sicherer Stich zu werden verspricht. Das kann folgenlos bleiben, aber auch das Interesse für das, was an der Oper geschieht, erhöhen.An einem Punkt enden die Gemeinsamkeiten zwischen Kluges Geschichte und der Situation in Halle. Die dekonstruktiven Experimente wurden, das ist sicher, nicht aus Feigheit vor der ästhetischen Avantgarde beendet. Lutz hat einen Machtkampf verloren. Die Frage ist, welchen. Denn auch von dieser Geschichte gibt es mehrere Versionen. Nummer eins läuft darauf hinaus, dass es sich um einen internen Machtkampf handelte. Auf der einen Seite steht Lutz, außerdem der Schauspielintendant Matthias Brenner, auf der anderen Stefan Rosinski, Geschäftsführer der TOOH.Intrigen drinnen wie draußenRosinski ist eine interessante Gestalt. Sein Lebenslauf irrlichtert zwischen Kommerz und Kultur hin und her. Er war Storyliner für Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Generaldirektor der Berliner Opernstiftung, kurz leitender Dramaturg an Castorfs Volksbühne.Geschichte Nummer eins läuft darauf hinaus, dass Rosinski seit seiner und Lutz’ Anstellung im August 2016 hinter den Kulissen aktiv gewesen sei, um den Kollegen zu vertreiben. Er habe außerdem die unangekündigte Entlassung des früheren Generalmusikdirektors Josep Caballé-Domenech zu verantworten und stecke hinter einem Brief, mit dem seine designierte Nachfolgerin, Ariane Matiakh, sich an den Aufsichtsrat gewandt und gegen die Vertragsverlängerung von Lutz ausgesprochen hatte. All dies mag sein. Rosinskis Karriere wäre sicherlich ohne einen ausgeprägten Machtinstinkt nicht so verlaufen, wie sie verlaufen ist. Er ist zwar selbst nicht im Aufsichtsrat vertreten, aber viel spricht dafür, dass er in diesem Gremium Einfluss besitzt und diesen geltend gemacht hat. Es mag sein, dass er Kalif werden möchte anstelle des Kalifen: dass also ein Generalintendantenmodell das geheime Ziel seiner Wünsche darstelle. So jedenfalls äußerte sich die künstlerische Leitung der TOOH nach der Entscheidung.Machtkampf Nummer zwei fand mutmaßlich auf einer anderen Bühne, einem anderen Spielfeld statt, das von ästhetischen Fragen ebenso unberührt ist wie von ökonomischen Kennzahlen und internen kulturpolitischen Querelen. In Provinzstädten mittlerer Größe, die wie Halle über ein Haus mit mehreren Sparten verfügen, sind Kommunalpolitik und Kultur eng miteinander verwoben. Am 26. Mai sind in Sachsen-Anhalt Kommunalwahlen, im Oktober findet in Halle eine davon unabhängige Oberbürgermeisterwahl statt. Der derzeit amtierende OB, Bernd Wiegand, ist parteilos; sein Verhältnis zum Stadtrat ist ziemlich angespannt, belastet durch eine Verurteilung wegen Mobbings und einer Anklage wegen Untreue, die sich über Jahre hinzog. Wiegand möchte im Oktober wiedergewählt werden und ist, da ihm der Hintergrund einer Parteiorganisation fehlt, auf starke Bündnisse innerhalb der Stadt angewiesen. Ein Bündnispartner ist Florian Lutz. Ob es sich dabei um ein vor allem politisches Bündnis handelt oder um eines, das aus ästhetischen Grundüberzeugungen herrührt (oder um beides), ist schwer zu sagen; die Aussagen darüber gehen auseinander.Dem sei, wie es wolle: Für die womöglich im Hintergrund stehende kommunalpolitische Machtkonstellation sind die ästhetischen Überzeugungen des Oberbürgermeisters (falls er welche haben sollte) sowieso nicht von Belang. Denn die Vertreterinnen der Parteien, die zur Wahl zum Teil mit eigenen Kandidaten antreten werden, mussten ein natürliches, politisch zwingendes Interesse daran haben, das Bündnis zwischen ihm und Lutz zu zerschlagen. Das könnte zuletzt der wirksamste Grund für die Nichtverlängerung seines Vertrags gewesen sein. Nicht Kunst, nicht Ökonomie, die Politik wäre die treibende Kraft gewesen.Aber das bleibt natürlich eine unter mehreren Perspektiven. Andere mögen es anders sehen, was im Grunde der „demokratischen Szenografie“ im Theater von Lutz folgt, der sich von dieser lebensweltlich gewendeten Einsicht allerdings nichts kaufen kann, weil sich ein Gemeinsames in seinem Fall ja nicht einstellen wollte. Für mich als Bericht erstattendem Theatergänger ist die schlichte Resultante all dieser Konfliktvektoren: Lutz hätte bleiben sollen. Alle, mit denen ich gesprochen habe, waren sich darin einig, dass er gut nach Halle passt und viel für die Akzeptanz seiner Arbeit bei der Bevölkerung getan hat. Man hätte Geduld haben sollen. Auch, wenn er weiter Verluste eingefahren hätte, gilt es im Kopf zu behalten, dass auch diese GmbH ein zu 93 Prozent subventionierter Betrieb ist.
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