Es sind keine Anfänge mehr

Chemnitz Der Literaturwissenschaftler Wolfram Ette beobachtet, wie sich in Sachsen etwas Bahn bricht, das protofaschischtes Potenzial hat – und das man nicht mehr ignorieren kann
Die Kräfteverhältnisse waren eindeutig
Die Kräfteverhältnisse waren eindeutig

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Was hat sich da im Zeichen von Karl Marx versammelt, wer schwenkt die nationalen Banner unter dem Schriftzug „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“? Eine düstere, disziplinierte Masse, 2-3000 Menschen (es gibt auch Schätzungen, die sehr viel höher liegen), fast regungslos über Stunden, bis sie sich dann plötzlich in Bewegung setzten.

Und wir? Naja, wie's halt so ist: ein bunter Haufen von Individualisten, ein weng verspielt, träge, im Zweifel ängstlich, auf dem Döner herumkauend, wartend und schwatzend mit alten Bekannten. Es war vollkommen klar. Wenn die kompakte Truppe da drüben einmal Luft holt und gemeinsam losrennt, dann sind wir alle platt, und von den Wannen dazwischen wird nichts übrig sein. Die Kräfteverhältnisse waren eindeutig. Die nationale, antikapitalistische Rechte, die sich hier aufgebaut hat, ist die kommende Kraft, und sie weiß das ganz genau. Ich hatte schon im Mai vor der Selbstzufriedenheit all derer gewarnt, die glaubten, dem III. Weg und seinen Anhänger*innen eine Niederlage beigebracht zu haben. Gestern kam das Illusionäre, letztlich Wahnhafte dieser Vorstellung an den Tag.

Kurze Zeit sah es ja so aus, als würden meine Phantasien wahr werden und die Rechten den Stadthallenpark stürmen (und wenn sie gestern nicht getan haben, so werden sie es übermorgen tun). Menschen rannten herum und schrien, die altgediente Chemnitzer Antifa wirkte überfordert, nur die autonomen Grüppchen zogen sich langsam und kontrolliert zusammen, sammelten sich und begannen sich zu vermummen. Bei ihnen habe ich mich sicherer gefühlt. Und glaubt mir, ich mag sie eigentlich nicht besonders.

Die Polizei steht im Fokus der Kritik. Zu Recht: Sie war naiv und miserabel vorbereitet. Nach den Ereignissen am Tag zuvor, an dem die Rechten nur wenige Stunden gebraucht hatten, um knapp 1.000 Leute auf die Straße zu bringen, hätte man ja anfangen können, zu rechnen – also hochzurechnen, nicht runterzurechnen ...

Die Politik bleibt stumm

Viel entscheidender finde ich allerdings etwas anderes: Die vollkommene restlose Abwesenheit der Stadtpolitik bei der Gegenveranstaltung, insbesondere die der Oberbürgermeisterin. Wie kann diese Frau am Tag zuvor verlauten lassen, die Ereignisse der vergangenen Nacht, in denen nazistische Stoßtrupps durch die Innenstadt zogen und vermeintlich Nichtdeutsche jagten, seien „entsetzlich“ gewesen und sich dann nicht blicken lassen? Keine Rede, kein Grußwort, kein Zeichen der Solidarität mit der hastig und provisorisch zusammengetrommelten Gegenveranstaltung – nichts, das ihr Kraft und ein wenig Zuspruch von oben gegeben hätte. Nichts außer einem weiteren Rücktrittsgrund dieser Katastrophe in Person. (Natürlich waren einige Kommunal- und Landespolitiker anwesend, aber als Privatpersonen. Dass die Politik sich für diesen fast schon verzweifelten Versuch, einer rechten Übermacht standzuhalten, überhaupt interessiert, war für den unbefangenen Betrachter nicht erkennbar.)

Zu den vielen Posts und Tweets, in denen sich für „meine Stadt“ geschämt wird: Klar, es ist ärgerlich, dass es gerade hier passiert ist. Aber wenn es nicht hier passiert wäre, wäre es anderswo passiert. Und da man Chemnitz, bzw. Sachsen nicht en bloc abschieben kann, wie in einigen linksreaktionären Tweets gefordert wurde, sollte man sich eher mit der unbequemen Wahrheit anfreunden, dass sich hier eine Situation auskristallisiert hat, die insgesamt ein vorfaschistisches Potenzial enthält. Vielleicht ist die Mischung aus Verlustängsten und Nichtabgebenwollen, die mir die affektive Grundlage der neurechten Gesinnung zu sein und in der wir das historische Ergebnis des neoliberalen Paradigmenwechsels vor uns haben, hier am brisantesten. Vielleicht ist sie durch die ja schon sprichwörtliche sächsische Blindheit gegen Rechts besonders kultiviert worden. Vielleicht – ich weiß nicht. Fest steht jedenfalls, dass das Ding verallgemeinerungsfähig ist, und dass die Neurechten alles tun werden, um eine fette nationale ,Bewegung‘ daraus zu schmieden.

„Wehret den Anfängen“ hieß es früher immer. Es sind keine Anfänge mehr.

Dieser Beitrag erschien zunächst auf Wolfram Ettes Blog

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