Wenn Bach wie Chopin klingt, spielt Lang Lang

Musik Der „Posterboy der Klassikszene“ versucht sich an einem Alten Meister und schafft eine große Leere
Ausgabe 39/2020
Hauptsache, es geht irgendwie um ihn: Pianist Lang Lang
Hauptsache, es geht irgendwie um ihn: Pianist Lang Lang

Foto: Agencia EFE/Imago Images

Wenn man diesseits aller Theorie anschaulich erleben will, wie Kulturindustrie heute läuft, sollte man sich mit der Neueinspielung der Goldberg-Variationen des chinesischen Pianisten Lang Lang auseinandersetzen. Von bloßem Hören kann freilich nicht die Rede sein. Die ganze Sache wurde und wird zu einem multimedialen Großereignis aufgepustet, dessen Peinlichkeit sich proportional zu dem symptomatischen Interesse verhält, das es verdient: Neben der Standard Edition mit zwei CDs gibt es eine barock ausgestattete 4-fach-CD mit einem Booklet, das den Pianisten in verschiedenen Posen der Innerlichkeit zeigt – „auch wenn er sich zugleich wie der Posterboy der Klassikszene lasziv auf dem Flügel räkelt und die Noten als Schlafhaube missbraucht“ (Zitat eines Freundes, mit dem ich darüber diskutiert habe); dazu gibt es eine 3-sat-Dokumentation, die ihn über verschiedene Stationen seines Selbst- und Bachfindungsprozesses in Szene setzt, bis zum Konzert in der, logo, Leipziger Thomaskirche und zur Studioproduktion in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche.

Damit rührt man an den einen Punkt dieser opulenten Unsäglichkeit. Lang Lang, der bislang vor allem im romantischen Repertoire brillierte, unternimmt es nun nach einer mehrjährigen Pause, einen der Achttausender der „deutschesten der Künste“ zu erklimmen – in der hochmerkwürdigen Figur des Leipziger Thomaskantors, in dessen Werk Sakralität und Säkularität in einer historisch und künstlerisch einmaligen Konstellation zusammenfinden. Ihm nähert sich Lang Lang mit gespielter Demut. Er besucht seine chinesische Klavierlehrerin, die er um Rat fragen will, bevor er sich mit dem Monument an die Öffentlichkeit wagt. Er geht zu Harnoncourt und Andreas Staier in der Pose des Schülers, um sich von diesen Großmeistern der Alten Musik, die ihn vor laufender Kamera ja nicht blamieren können, bestätigen zu lassen, wie großartig er das macht. Er fährt nach Arnstadt, um mit dem dortigen Kantor zu reden. Und schließlich geht’s nach Leipzig. Überall wird belangloses Zeug geplaudert, überall diese peinlichen Demutsgesten vor den großen Meistern, die nichts sind als eine Verkaufsstrategie und eine Hoffart.

Das merkt man spätestens, wenn man sich durchs Merchandising durchgekämpft hat und die CD einlegt. Ich bin kein Verfechter der historischen Aufführungspraxis; ich schätze den energischen Zugriff auf die Tradition. Man kann Bach wie Beethoven spielen, wie es Glenn Gould in der legendären Einspielung der Goldberg-Variationen von 1955 getan hat. Man kann die komplizierte Architektur dieses Werkes in eine fast haptische Innerlichkeit zurücknehmen: derselbe Gould als wunderlich gewordener Klaviergorilla 1981. Man kann vieles. Aber den Ausverkauf dieses Werks an atomisierte Einzeleffekte kann man nicht. Die Aria klingt bei Lang Lang wie Chopin, delirant kommen die Verzierungen als schwankende Gestalten daher, die nichts zu erkennen geben, außer den Wunsch aufzufallen. Die extremen Temposchwankungen der Variationen wirken willkürlich; alles ist gestelzt, gesetzt, leerer Ausdruck. Das ganze Gebäude gerät bei Lang Lang ins Rutschen, alle Wände verschieben sich ständig gegeneinander wie auf Bildern von Escher. Aber es ist nicht „Dekonstruktion“, sondern Willkür als knallhartes Kalkül, das nur eine einzige Währung kennt: die der zerstreuten und zersplitterten Aufmerksamkeit der Hörerinnen und der Hörer. Flach vor Tiefe hat Lukács dieses Phänomen genannt, Adorno nennt es den Fetischcharakter der Musik. Aber es reicht auch, wenn man findet: Es ist Kitsch.

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