Die Burka

gehört zu Deutschland? Nein, hier geht es nicht um die Frage, ob die archaischen Kleidungsstücke des fundamentalistischen Islams bei uns heimisch werden sollen. Sondern um das iPhone X.

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Das neue Gerät von Apple ist nämlich erstmals mit „Face ID“, einer Einrichtung zur Gesichtserkennung, ausgerüstet. Derzeit ist das iPhone X in der 256 GB Variante mit einem Preis von über 1300 Euro nur für wenige interessant. Aber bekanntlich findet man ja ziemlich bald den Schnickschnack hochpreisiger Geräte als Standardfeature normaler Smartphones wieder.

Mit Face ID soll man sich eindeutiger als mit einem Fingerabdruckscanner bei seinem Smartphone anmelden können. So weit, so unspektakulär. Die verbauten Sensoren für die Gesichtserkennung lassen sich aber noch für ganz andere Dinge einsetzen, sobald die dazu nötige Software als App für jedermann auf dem Markt ist.

In diesem Zusammenhangist eine Studie der Stanford University vom Februar 2017 von Bedeutung: In der Studie ging es um die Frage, ob Gesichtserkennungs-Software in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz in der Lage ist, aus den optischen Daten eines beliebigen Gesichts zu erkennen, ob jemand schwul oder lesbisch ist. Das Ergebnis ist erschreckend: Ja, mit ca. 80 prozentiger Sicherheit ist das möglich. Sind mehrere Fotos des gleichen Gesichts verfügbar, steigt die Zuverlässigkeit der Erkennung sogar auf 91%.

Wenn hingegen einer Kontrollgruppe von Menschen die gleichen Bilder vorgelegt werden, erkennen diese Menschen die sexuelle Orientierung nur mit einer Zuverlässigkeit von 54 bis 61%. Dabei sind wir Menschen mit einer Trefferquote von 98% durchaus in der Lage, festzustellen, ob ein Foto einen Mann oder eine Frau zeigt, selbst wenn nur ein Teil des Gesichts zu sehen ist. Aber ob ein Mann schwul oder eine Frau lesbisch ist, können wir Menschen nur raten und liegen in der Hälfte der Fälle daneben.

Das Verfahren hat noch Schwächen, die mit der Größe und dem „Gehalt“ der untersuchten Gruppe zusammenhängen. Werden von Gesichtserkennungs-Software unter 1000 willkürlich präsentierten Fotos mit fast 100prozentiger Genauigkeit die 7% Schwulen erkannt, die der Verteilung in der Normalbevölkerung entsprechen, so sinkt die Trefferquote deutlich auf 47%, wenn man nur 100 Fotos analysiert, die vorsortiert wurden anhand der von der Software verwendeten geschlechtsspezifischen Gesichtsmerkmale für Schwulsein.

Der Studie lagen Fotos aus zwei Kontrollgruppen zugrunde: Über 2 Millionen Gesichter aus Facebook und über 35.000 Fotos aus einer Dating-App. Damit sollte bewiesen werden, dass der Hintergrund der Fotos bei der Bestimmung der sexuellen Identität keine Rolle spielt. Um keine Probleme mit Datenschutzregeln zu bekommen, haben die Autoren nur Gesichter von weißen US-Bürgern aus diesen beiden Online-Medien verwendet. Ob sich die Träger dieser Gesichter bewusst waren, dass sie, ohne gefragt zu werden, Teil einer Studie geworden sind, die nur aufgrund der riesigen Anzahl von privaten Gesichtsfotos zu stichhaltigen Forschungsergebnissen führen konnte? Fotos auf Facebook, LinkedIn und Google Plus sind in den USA per Definition öffentlich und können daher von jedermann verwendet werden.

Fundamentalisten in Ländern wie Saudi Arabien oder Yemen, wo Homosexualität ein Verbrechen ist, das mit dem Tod bestraft werden kann, würden sich die Hände reiben, wenn sie bei einer Polizeikontrolle nur das Handy zücken müssten um die sexuelle Orientierung eines Verdächtigen zu ermitteln. Daher sind saudische Frauen mit Vollverschleierung in Zukunft vielleicht im Vorteil?

Als mein Vater heiraten wollte, musste er sich einer „Rassenanalyse“ des Reichssippenamtes unterziehen. Die Nazis wollten mit der Analyse anhand des Knochenbaus und anderer anthropologischer Merkmale herausfinden, ob sich unter den Vorfahren meines Vaters Juden befanden. Abgesehen von der Perfidie dieses Vorhabens war die Vorgehensweise völlig willkürlich und unwissenschaftlich. Nicht mal Hitler und Göbbels entsprachen ja optisch dem Ideal des arischen Menschen, den die Nazis propagierten. Man stelle sich mal vor, die Nazis hätten über Smartphones mit Gesichtserkennungs-Software verfügt, die mit 90prozentiger Zuverlässigkeit jüdische Abstammung erkennen kann!

Vorhersehbare Auswirkungen der neuen Technologie

Die Autoren „hoffen, dass zukünftige Forschungen weitere Zusammenhänge zwischen Gesichtsmerkmalen und anderen Phänomenen wie Persönlichkeit, politische Einstellungen oder psychische Zustände zum Vorschein bringen wird“.

Werden wir in Zukunft mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware erkennen können, ob jemand ein potentieller oder praktizierender Gewaltverbrecher, Terrorist, Kommunist oder Kinderschänder ist, oder ob er gerade von einem Schäferstündchen mit seiner Geliebten kommt?

Selbst falls Gesichtserkennungs-Apps für solche Fragestellungen nicht zuverlässig genug sein sollten, könnten repressive Regierungen, so wie seinerzeit die Nazis, Merkmale willkürlich festlegen, wie gemäß ihrer Ideologie ein Gewaltverbrecher, Terrorist, Pädophiler, Kommunist oder Ehebrecher im Gesicht auszusehen hat und dann die Bevölkerung aufhetzen, mit ihren Smartphones Jagd auf Menschen mit diesen willkürlich festgesetzten Gesichtsmerkmalen zu machen.

Oder man stelle sich das weit verbreitete Mobbing vor, das heute schon mit Smartphones unter Schülern betrieben wird. Werden wir in Zukunft auf Facebook und Youtube Gesichter von Schülern präsentiert bekommen, denen aufgrund ihrer optischen Merkmale unvorteilhafte Charaktereigenschaften angedichtet oder sogar wissenschaftlich korrekt bestätigt werden?

Dann vielleicht doch lieber eine Zukunft mit Burka in Deutschland!

Im Zusammenhang mit Mobbing ist noch ein zweites Feature des iPhone X interessant, das in der Komponente ARKit für Software-Entwickler daherkommt: Augmented Reality. Darunter versteht man die Verschmelzung digitaler Objekte mit realen Objekten oder Umgebungen. Wir alle erinnern uns an Pokemon Go, als Menschen plötzlich scheinbar sinnfrei hinter ungegenständlichen Pokemon-Monstern in der Natur herjagten, die sie nur auf ihren Smartphones sahen. Das wird mit den neuen iPhones nun sinnhafter: Mit einer App von IKEA kann man bereits ein Möbel aus dem IKEA Katalog in sein Wohnzimmer holen, indem man die Kamera seines iPhones auf das Wohnzimmer richtet. Das Möbel wird dann in den Sucherausschnitt des Wohnzimmers eingeblendet und man kann es dort verschieben und betrachten, so als sei es bereits real im Wohnzimmer vorhanden. Angewandt auf das Mobbing bedeutet das, selbst Kinder können in Zukunft Fotos von Mobbing-Opfern in eine Umgebung einfügen, in der sich das Opfer in der Realität nie aufgehalten hat, das aber eine kompromittierende Situation suggeriert. Und dieses Mischbild oder Misch-Video dann auf Facebook posten.

Die neuen technischen Möglichkeiten für Jedermann werden sicher auch bald die Erzeugung von Fake-News professionalisieren und uns glauben machen, ein Ereignis habe tatsächlich stattgefunden, weil entsprechende (bewegte) Bilder präsentiert werden.

Unsere Politiker aller Couleur, die sich gerade am Modewort „Digitalisierung“ berauschen, werden noch kaum verstanden haben, was da auf sie zukommt. Ich habe meinen Blogbeitrag daher nicht unter „Kultur“, sondern unter „Politik“ gepostet, damit unsere Politiker auch einmal auf dieses brisante Thema gestoßen werden.

Den Autoren der Studie ist die Brisanz ihres Themas bewusst. Sie haben ihre Erkenntnisse publiziert, weil solche Gesichtserkennungsmethoden bereits von staatlichen Autoritäten angewandt werden und die Allgemeinheit ein Recht hat, zu erfahren, was heute bereits möglich ist. Die Autoren machen sich allerdings keine Hoffnungen, dass es durch ethisch verantwortungsvolle Gesetzgebung gelingen wird, den Missbrauch der neuen Technologien zu unterbinden. Stattdessen empfehlen sie, dass sich in der nun anbrechenden „Postprivacy“ Welt gut ausgebildete, tolerante Menschen mit Sinn für die Menschenrechte freiwillige Beschränkungen auferlegen. Wir brauchen also mal wieder den „neuen Menschen“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Querlenker

Zu den Problemen unserer Zeit stelle ich funktionierende Lösungen vor, die aber aus Gründen der Konvention, der Moral oder Faulheit niemand anpackt.

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