Texte zur Theorie des Internet

Reclam Das 356 Seiten dicke Heft behandelt mehrere Hauptaspekte des Internets, indem zu jedem dieser Aspekte Auszüge aus Original-Schriften präsentiert werden.

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Das Internet wurde 1958 als „ARPANET“ vom US Militär bei der Rand Corporation in Auftrag gegeben um in einem nuklearen Krieg eine dezentrale Kommandostruktur zu ermöglichen. Der Projektleiter und Psychologe C.R.LICKLIDER plante von Anfang an ein Netz, das auch für zivile Zwecke nützlich sein konnte.

Der Wissenschaftler TIM BERNERS-LEE veröffentlichte 1992 am Kernforschungszentrum CERN in Genf die Grundlagen, welche für eine breite Nutzung des Internet bis heute wesentlich sind: Das Protokoll http, die URL als eindeutiger Name einer Webseite, der Browser www und die Sprache HTML.

Im ersten Themenblock des Reclam Heftes findet sich ein Gesamtüberblick, wie sich die Kommunikationstheorie seit der Erfindung der Schrift und später des Buchdrucks, des Rundfunks und des Fernsehens entwickelt, und wie das Internet die Theorie und die Praxis der Kommunikation befruchtet hat. Dabei kommen die maßgeblichen Denker mit kurzen Originalbeiträgen zu Wort. Für BERTHOLD BRECHT ist das Massenmedium seiner Zeit, der Rundfunk, ein Medium für seichte Geschwätzigkeit, dem die Interaktion mit dem Publikum fehlt. Für den kanadischen Philosophen MARSHAL McLUHAN zertrümmert das Alphabet die Magie der Stammeswelt und macht aus dem Menschen ein spezialisiertes, emotional verarmtes Individuum. Der französische Philosoph PAUL VIRILLO kritisiert vor allem die Geschwindigkeit der modernen Medien, die den Menschen überfordert. Der deutsche Medienwissenschaftler FRIEDRICH KITTLER beschäftigt sich mit den Kulturtechniken, die das Internet hervorbringt: vom Umgang mit geistigem Eigentum bis zum Cybersex sowie mit dem Gegensatz von der Freiheit des Internets und der Allmacht der Internetkonzerne.

Es folgen sehr unterschiedliche Originaltexte zu Manifesten des Internets:

Die Hackerethik des deutschen CHAOS COMPUTERCLUBs . Das Hackermanifest von Lloyd Blanenship alias „THE MENTOR“. Von JOHN PERRY BARLOW lesen wir etwas über die „Unabhängigkeit des Cyberspace“ Ihm zufolge gibt es im Cyberspace keine Materie, daher treffen alle bisherigen Regeln und Gebote von Regierungen und Institutionen für den Cyberspace nicht zu. Alles, was der menschliche Geist erschafft, darf kostenfrei reproduziert und verteilt werden. Schwer verständlich ist das sich anschließende „Cyberfeministische Manifest“ der australischen Künstlergruppe „THE MATRIX“. Es beginnt mit „Wir machen Kunst mit unserer Möse“. Viel eingängiger liest sich TIM BERNERS LEEs Manifest „lang lebe das Web“, ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Netzneutralität. Die Gruppe „THE ANONYMOUS“ hingegen verherrlicht in ihren „Rules of the Internet“ die zerstörerischen Kräfte des Internets Wir lernen: Original-Inhalte sind nur für wenige Sekunden original, danach sind sie "veraltet". Je schöner und reiner etwas ist, desto größer ist die Befriedigung, es zu verfälschen, usw.

Der zweite Themenblock behandelt das Internet unter philosophischen und gesellschaftlichen Aspekten.
Der französische Philosoph PIERRE LÉVY untersucht als einer der ersten das Potential des Internets für die Zusammenarbeit. Sein Ausgangspunkt ist: „Niemand weiß alles, jeder weiß etwas, in der Menschheit liegt das gesamte Wissen.“ Das Internet ermöglicht verteilte bzw. kollektive Intelligenz. Der US-amerikanische Journalist HOWARD RHEINGOLD beschäftigt sich mit virtuellen Gemeinschaften. Das können Gemeinschaften zum Austausch von Wissen sein, aber auch Gemeinschaften von Spielsüchtigen, „die ein Leben führen, das außerhalb von Computern keine Existenz hat“. Er befürchtet, dass die Reichen und Mächtigen einen Weg finden werden, diese virtuellen Gemeinschaften zu kontrollieren. Die britische Kulturwissenschaftlerin SADIE PLANT beschreibt Computer und Internet als genuin weibliche Technologien. Dieser Cyberfeminismus gründet sich auf der Idee einer Konvergenz von Frau und Maschine, die mit der Automatisierung der Webstühle begann und mit der Entwicklung des ersten High Level Language Compilers für den IBM Großrechner Mark I durch Grace Murray Hopper noch lange nicht zu Ende ist. Für Sadie Plant ist „jede Software-Entwicklung eine Verlagerung der Steuerung weg vom Mann…hinein in die Matrix oder den Cyberspace“.

Der nächste Themenblock beschäftigt sich mit den ökonomischen Auswirkungen des Internets.
Zentrale These ist, dass die dem Internet typische Form der Wissensgenerierung wie Blogs und freie Software mit der mit einem Preisschild versehenen Verwertung von Wissen im Kapitalismus nicht in Einklang zu bringen ist. Weil digitale Daten verlustfrei immer wieder kopiert werden können, widerspricht die digitale Ökonomie der Grundannahme der traditionellen Wirtschaftswissenschaft von der Knappheit der Güter. Wie bei der Speisung der 5000 mit fünf Broten und zwei Fischen „ist auch im Netz immer genug Information für alle da“. In ihrem Aufsatz „Die kalifornische Ideologie“ kritisieren der britische Politologe RICHARD BARBROOK und der Mediengestalter ANDY CAMERON die neoliberale Ideologie der Internetkonzerne. Die "kalifornische Ideologie" ist eine seltsame Verbindung der Hippie Kultur von San Francisco mit der Juppie-Kultur der Hightech Industrie des Silicon Valley. „In dieser digitalen Utopie wird jeder gut drauf und reich sein“. Diesen „Hightech-Künstlern“ gefällt die freie Zeiteinteilung, die mit Zeitverträgen und Klickworking einhergeht. Sie glauben, dass Kapitalismus und der starke Staat durch eine Hightech-Geschenkökonomie ersetzt werden können. Die „reale“ soziale Schere geht derweil immer weiter auseinander. Es entsteht eine Art Apartheid zwischen den meist weißen „Information-Rich“ und den meist farbigen „Information-poor“. Wenn man sich auf die dunkelhäutigen „Sklaven“ nicht verlassen kann, müssen sie durch unbelebte Roboter ersetzt werden. Eine starke Motivation für die Entwicklung von „Künstlicher Intelligenz“! Der US-amerikanische Physiker MICHAEL H. GOLDHABER führt den Begriff der „Aufmerksamkeitsökonomie“ ein. Die industrielle Produktionsweise habe dazu geführt, dass materielle Güter im Überfluss vorhanden sind. Ihr Wachstum ist dadurch beschränkt, dass die Konsummöglichkeiten der Konsumenten irgendwann gesättigt sind. Der Überfluss an Informationen ist aber noch weitaus größer und die meisten Informationen finden überhaupt keine Beachtung. Es geht also im Internet vor allem darum, Aufmerksamkeit zu erregen. Wer große Aufmerksamkeit erhält, ist ein Star. Folglich werden im Internet immer neue Techniken der Erregung von Aufmerksamkeit erfunden. Wenn im Internet etwas Geld kostet, wird es als zu kompliziert erachtet und links liegen gelassen. Geistiges Eigentum, also die Möglichkeit, damit Geld zu verdienen, wird völlig obsolet. Die Folge ist: „Kostenlos im Web und kostenpflichtig off-line“.

Der vierte Themenkomplex behandelt die Wechselwirkung von Internet und Politik.
Mit dem Internet verknüpft sich die Hoffnung, dass es ein Ort sein könnte, wo zumindest teilweise die herrschenden Ordnungen suspendiert sein könnten und Informationen verbreitet werden, die von den Massenmedien verschwiegen werden. Das Netz könne politische Wirkung entfalten für Anliegen, die sonst nirgends aufgegriffen werden. Die Enthüllungsplattform Wikileaks und der arabische Frühling sind hier Beispiele.
In seinem „Aufruf zum Kryptokampf“ beklagt JULIAN ASSANGE, der Mitbegründer von Wikileaks, dass sich das Internet als großartigstes Mittel der Emanzipation verwandelt hat in einen Wegbereiter des Totalitarismus. Wer sich dagegen wehren will, hat einen Trumpf: Die Kryptographie. Denn es sei leichter, Informationen zu verschlüsseln als sie zu entschlüsseln. „Verschlüsselung ist eine Verkörperung der physikalischen Naturgesetze, sie schert sich nicht um das Gepolter einzelner Staaten und ist selbst gegen die Schreckensvision eines transnationalen Überwachungsstaats immun“. Der US-amerikanische Anwalt und Journalist GLENN GREENWALD gehört zu den drei Personen, denen 2013 der amerikanische Whistleblower Edward Snowdon Dokumente übergab, welche die Massenausspähung durch den US Geheimdienst NSA bewiesen. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Geschwister-Scholl Preises bestreitet Greenwald , dass irgendeine Regierung das Recht habe, das Internet ohne jegliche demokratische Kontrolle in einen Raum beispielloser Überwachung zu verwandeln.
Der österreichische Rechtswissenschaftler VIKTOR MAYER-SCHÖNBERGER fordert in seinem Buch „Vergessen und das digitale Gedächtnis“, dass es Regeln geben müsse, die das Internet zwingen, zu vergessen Andernfalls verstärke sich das Machtgefälle im Internet, denn die Internetkonzerne könnten auf uralte Datenbestände zurückgreifen, deren Existenz die Betroffenen längst vergessen haben. Zumal die im Netz gespeicherten Informationen einfach zu manipulieren seien. Seine Ideen fanden Eingang in die Gesetzgebung zum Datenschutz in der EU. In seinem Buch „Prima leben ohne Privatsphäre“ stellt der deutsche Blogger CHRISTIAN HELLER die Auflösung der Privatsphäre im Digitalzeitalter als unaufhaltsam und letztlich positiv dar. „Analog der Coming-out-Bewegung der Homosexuellen erhöhe sich so nicht nur die gemeinsame Schlagkraft gegen Diskriminierung, sondern auch die gesellschaftliche Sichtbarkeit von Andersheit, was der Gesellschaft idealerweise eine Ausweitung ihrer Toleranzräume abverlangen könnte.“

Der fünfte Themenkomplex befasst sich mit der Psychologie des Internets.
Die amerikanische Psychologin SHERRY TURKLE beschreibt das Internet als einen „Identitätsworkshop, in dem man sich in andere Persönlichkeiten verwandeln und deren Eigenschaften in einer Art postmodernen Simulation spielerisch erfahren kann“. Hierzu gehört auch die Selbstdarstellung durch Selfies auf dem Smartphone. Andererseits ermöglicht der Schutz der Anonymität Identitäts-Diebstahl, Cybermobbing, Trolle, Shitstorms und Hasstiraden. Und das Smartphone führt zur Vereinsamung und Isolation. Das Ganze gipfelt in der Ahnung: „Die herkömmliche Trennung zwischen Mensch und Maschine lässt sich immer schwerer beibehalten.“ Der amerikanische Wirtschaftsjournalist NICHOLAS CARR macht Web 2.0 für eine Kultur der Mittelmäßigkeit verantwortlich. In seinem Essay „HAL und ich“ berichtet Carr, dass er kein Buch mehr lesen kann und alle Informationen aus dem Internet bezieht. Der Gedanke, ein Buch zu lesen erscheint altmodisch und dumm „als ob man seine Hemden selbst nähte oder sein Fleisch selbst schlachtet“. Unsere alte lineare Denkweise werde von einem neuen Geist verdrängt, der Informationen in kurzen zusammenhanglosen Happen möglichst schnell serviert bekommen möchte. Der israelische Kommunikationswissenschaftler LIMOR SHIFMAN befasst sich in „Wenn Meme digital werden“ mit der Kultur der Memes. Das sind kurze Videoclips oder Bild-Text Kombinationen. Sie verdrängen den Witz als schriftliche oder mündliche Äußerung. In einer Art vernetztem Individualismus bringen Menschen zugleich ihre Einzigartigkeit und Verbundenheit mit anderen zum Ausdruck. In einer Kultur des „Teilens“ im Web 2.0 prägen Memes durch ihre schnelle Ausbreitung die Einstellungen und Verhaltensweisen von gesellschaftlichen Gruppen. Wer einen lustigen Clip bei Facebook postet, verbreitet damit nicht nur ein kulturelles Statement, sondern drückt gleichzeitig seine Empfindungen dazu aus. Und geht davon aus, dass das, was ihm selbst so viel Freude bereitet hat, von anderen in einem Schneeballsystem weiter verbreitet werden wird. Vor der Weiterleitung werden die Inhalte häufig einem Remix unterzogen, indem z.B. ein Foto mit Fotoshop bearbeitet oder ein anderer Soundtrack hinzugefügt wird. Schon lange vor dem Internet gab es Memes. Das bekannteste zeigt die obere Gesichtshälfte eines Mannes mit langer Nase und der Bildunterschrift „Kilroy was here“. Es ist amüsant zu lesen, wie auch dieses frühe Meme seinen Ursprung im US Militär hat. Für den deutsch-koreanischen Philosophen BYUNG-CHUL HAN ist die Selbstdarstellung in den sozialen Medien kein Individualismus, sondern eine Form der Selbstaufgabe und Grundlage neoliberaler Ausbeutung“. Die aktuelle Philosophie ist der „Dataismus“ und tritt als eine Art zweite Aufklärung auf. Die erste Aufklärung im 18. Jh. basierte auf einer Statstik-Euphorie. Man traute der Statistik zu, das Wissen von der Mythologie zu trennen. Die zweite Aufklärung geht davon aus, dass die Zahlen für sich sprechen, sobald genug Daten vorhanden sind. Eine Erklärung, warum Menschen das tun, was sie tun, ist dann nicht mehr nötig. Korrelationen ersetzen Kausalität. Auch der Dadaismus verzichtet auf jeden Sinnzusammenhang. Daher ist Dataismus eine Art Dadaismus. Das Internet der Dinge 3.0 macht eine totale Protokollierung des Lebens möglich, weil wir dann auch von den Dingen kontrolliert werden, die wir täglich benutzen. Das auf der Auswertung massenhaft gesammelter Daten beruhende Mikro-Targeting ist eine „datengetriebene Psychopolitik“. Diese ist in der Lage, proaktiv in die psychischen Vorgänge einzugreifen. Sie ist vermutlich schneller als der freie Wille. Und macht das Kollektiv-Unbewusste zugänglich. Menschen werden als Datenpakete gehandelt.

Der letzte Themenkomplex behandelt den Einfluss des Internets auf Kunst und Kultur.
Die sich entwickelnde Hackerkultur beachtete nicht das Handbuch für die verwendeten Technologien, sondern probierte praktisch aus, wozu allem diese fähig wären. Schon in den 60er Jahren begann der Südkoreaner NAM JUNE PAIK wie ein Hacker an der Elektronik von Fernsehgeräten herumzuschrauben, um aus dem Flimmern auf dem Bildschirm abstrakte Muster zu zaubern. Das Vorgehen übertrug er später auf Computerbildschirme und Videoapparaturen. Lange Zeit wusste der kommerzielle Kunstbetrieb nichts mit solchen Kunstformen anzufangen, „die sich wegen der digitalen Immaterialität scheinbar nicht gewinnbringend verkaufen ließen“. Der Essay „Der Datendandy“ der niederländischen AGENTUR BILWET dreht sich um die skurrile Figur des „Datendandys“. Diesem geht es nicht um eine komplette Datensammlung, sondern um die „Anhäufung von soviel immateriellen Kleinkram wie möglich. Er betrachtet sein Avatar im Cyberspace als das Zentrum des digitalen Weltalls“. Für ihn ist das Netz kein Raum zur Kommunikation, sondern ein Raum, in dem er sich zur Schau stellen kann. Gegen das Navigieren durch die Datenmassen setzt der Datendandy den Geistesblitz. Das Flanieren der Datendandys längs der Datenboulevards kann nicht verboten werden und verstopft schließlich die gesamte Bandbreite. Der Journalist DIRK VON GEHLEN plädiert für einen neuen Begriff des „Originals“. Während in Europa das Kopieren von Originalen verabscheut wird, gilt in den asiatischen Sportarten wie Karate, Taekwondo oder Aikido das Nachahmen der Bewegungen des Trainers als höchstes Ziel. Schon Bertold Brecht erkannte, dass die Verachtung des Kopierens dazu führt, dass es keinen Gedanken gibt, der übernommen und keine Formulierung eines Gedanken, die zitiert werden könnte. Anstelle des Begriffs „Original“ plädiert Gehlen für die Originalität. Die Originalität ist der Punkt, von dem aus man sich dem durch die Möglichkeiten der digitalen Kopie herausgeforderten Original nähern muss. Mash-ups von Texten und Bildern im Netz sind Beispiele einer neuen Form der demokratischen Auseinandersetzung in unserer Jugend und sollte nicht kriminalisiert werden. Der Medientheoretiker und Herausgeber dieses Reclam-Heftes TILMAN BAUMGÄRTEL beklagt in seinem Essay über „Netzkunst und Post-Internet Art“, das Künstler, die die Technik des Internets benutzen, aus der „Welt der „richtigen“ Kunst exkommuniziert werden und sich im Paralleluniversum der Medienkunst wieder finden“. Eine Ausstellung in Kassel, in der sich im Jahr 2013 Internetkünstler erstmals als Gruppe präsentierten, trug vorsichtshalber den nichts sagenden Titel „Speculations on Anonymous Materials“. Die Internet-Künstler verstehen sich selbst als eine Art Materialprüfungsamt im Internet. Der britische Musikredakteur SIMON REYNOLDS beklagt in seinem Beitrag „Die totale Erinnerung“ die Rückwärtsgewandheit der Popmusik, für die er u.a. das Internet verantwortlich macht. Youtube verspricht jedem dort hoch geladenen Video Unsterblichkeit. Das wirkt sich auf das Mischungsverhältnis der verkauften Musiktitel aus. Hierbei unterscheidet man aktuelle Musik von „Katalogmusik (das sind Musiktitel die älter als 15 Monate sind). Von den „Tiefen des Katalogs spricht man, wenn die Titel zwischen 16 Monaten und drei Jahren alt sind. Im Jahr 2000 standen 1/3 Katalogverläufe 2/3 verkauften aktuellen Titel gegenüber. Heute ist das Verhältnis umgekehrt. Seit die Musiktitel alle online sind, gibt es keinen Grund, die älteren und sich schleppend verkaufenden Titel schnell los zu werden um Platz für Neuware zu schaffen.

Die Schnelllebigkeit des Internets wird dem vorliegenden Büchlein selbst zum Verhängnis. Bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen fehlen bereits wesentliche Entwicklungen: Der Wahlsieg von Donald Trump und das erfolgreiche Brexit Votum, die durch gezielte Beeinflussung einzelner Wähler über das soziale Medium Facebook aufgrund von Datenanalysen und Micro-targeting möglich wurde, welche die Firma Camebridge Analytica mit Hilfe der Auswertung von Millionen illegal erworbener Datensätze von Facebook perfektionierte und die gerade durch einen Vergleich Facebooks mit den Justizbehörden mit fünf Milliarden Dollar gesühnt wurde, fehlen ebenso, wie die Beeinflussung von Diskussionen im Netz durch russische Trolle. Es fehlen der Aufbau eines totalen Überwachungsstaats in China mittels des Messengerdienstes Wechat ebenso wie die Verödung und gleichzeitige Verstopfung unserer Innenstädte durch den Online-Handel. Es fehlt das Hass-Potential, das sich im Internet steigert, bis reale Politiker wie der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübke ermordet werden. Es fehlt das Youtube Video von Rezo, welches eine gestandene Volkspartei wie die CDU erschüttert und der Lächerlichkeit preisgibt. Es fehlt Greta Tunberg, der das Internet in kurzer Zeit zum Aufbau einer weltweiten Ökologiebewegung verholfen hat. Es fehlen die jahrelangen Vergewaltigungen kleiner Kinder auf einem Campingplatz in Lüdge, die dazu dienten, eine weltweite Fangemeinde im Internet mit Kinderpornographie zu beliefern. Das Heft von Reclam müsste also jedes Jahr ein Update erfahren, was geradezu nach einer Instanz wie Wikipedia im Netz schreit anstelle eines Büchleins aus Papier. Aber damit würde sich der Verlag in dem von ihm selbst thematisierten Widerspruch verfangen, dass mit Texten im Netz kein Geld zu verdienen ist, sondern nur mit physischen Gütern. Ein echter Teufelskreis!

Das Büchlein sei allen empfohlen, die wissen wollen, warum wir schon so weit gekommen sind auf unserem Weg vom realen Leben in den Cyberspace.

Reclam Texte zur Theorie des Internets, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 19476,
herausgegeben im Jahr 2017 von Tilman Baumgärtel

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Geschrieben von

Querlenker

Zu den Problemen unserer Zeit stelle ich funktionierende Lösungen vor, die aber aus Gründen der Konvention, der Moral oder Faulheit niemand anpackt.

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