A bas le pédagogisme (2. Teil) - Die Schule der Ignoranz

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Jean-Claude Michéa ist auf diesem Blog schon einmal vorgestellt worden. Das Denken des erfahrenen Lehrers und belesenen Philosophen (kein Oxymoron!) kreist um den "capitalisme total" und die Frage, ob eine widerstehende Common Decency heute noch möglich ist. 1999 erschien im Verlag Micro-Climats das seitdem mehrmals aufgelegte Büchlein L'enseignement de l'ignorance (Die Schule der Ignoranz).

Wie viele andere Autoren geht auch Michéa von der Krise der Schule aus (wer wollte die manifeste Unbildung vieler Schüler bestreiten! Damals wie heute erst recht), im Unterschied zu diesen sieht er darin aber kein Dysfunktionieren unserer Gesellschaft. sondern im Gegenteil die notwendige Bedingung ihrer Expansion.

Die politische Ökonomie basiert für Michéa auf der permanenten Entfernung aller Markthindernisse und der Produktion gesellschaftlicher Menschenmonaden, die dem Axiom des "Interesses" entsprechen. "Normal"agieren und reagieren heißt mit Mandeville überzeugt zu sein, dass das "Vice" immer rentabler ist als die "Virtue". In dieser Perspektive interpretiert Michéa auch die "Caillera", die Vorortbande, als völlig systemintegriert. Deutsche Leser mögen hier an die Rackettheorie Horkheimers und Adornos aus den dreißpiger Jahren denken. Oder an diverse Banker der Jetztzeit, deren Unternehmen ja auch "systemrelevant" sind.

Jedoch hat sich dieses kapitalistische Paradigma nur in Schüben gegen Widerstände durchgesetzt. Mit Orwell beschreibt Michéa die Comman Decency vor allem der Arbeiterklasse, die sich bewusst oder unbewusst im Namen von Würde, Freundschaft, Solidarität gegen den Egoismus wehrt, dies jedoch immer schwächer. Michéa interpretiert die letzten vierzig Jahre als permante Versuche der neuen Welteliten, zu welchem Preis auch immer diese ihre negative Utopie des "capitalisme total" durchzusetzen.

Einer der Kampfplätze ist sachlogisch die Schule. Seit der französischen Revolution setzt diese einerseits die Neue Ordnung durch (Kampf gegen die Dialekte, gegen "irrationale" Traditionen etc.), gleichzeitig bemühte und bemüht sich die republikanische Schule um die Vermittlung eines humanistischen Wissens, bestimmter Tugenden und Haltungen. Wie sollte man sonst den Latein-, Griechisch-, Literatur- und Philosophieunterricht erklären? Hier grenzt sich Michéa von Bourdieu ab ("le naif Bourdieu"), der mit seiner Kritik an der bourgeoisen Kultur dem Kapital nur den Anlass ihrer Abschaffung gegeben habe.

Diese für Michéa humanistische Funktion der Schule wurde durch die "Große liberal-libertäre kulturelle Revolution" - wie er ironisch formuliert - ins Wanken gebracht, nicht nur in Frankreich. Er zitiert den Philosophen Finkielkraut: Die kontestären Flugblätter von früher sind die Regierungserlasse von heute. Die Verteidiger der Common Decency und der so genannten bourgeoisen Kultur wurden des Populismus beschuldigt. Michéa weist den ideologischen Trick nach, der darin besteht, Menschen, die auf Bildung in geschichtlichen Lebenszusammenhängen bestehen und gegen die kapitalistische Kommodifizierung der Schüler argumentieren, zu Reaktionären zu machen. Wer die Bildungsdiskussion des FREITAG verfolgt hat, konnte erkennen, dass dies keine französische Spezialität ist.

Es waren die Sozialisten und die Libertären, die "das Mammut Schule entfetten" wollten (Claude Allègre) und die Libertären, die das "Es ist verboten zu verbieten" zur Handlungsperspektive des pädagogischen Personals machten (inlusive Vertragstheorien und psychopädagogischer Plastiksprache). Michéa verweist auf den Philosophen Clouscard und dessen Interpretation der Revolte der bürgerlichen Söhne. Ebenso stellt er die Gefälligkeit von Gewerkschaften dar, die sich im Anbiedern überbieten, bis sie zahnlose Tiger sind. Auch hier sind die Parallelen etwa zur GEW überdeutlich. Michéa ironisiert die CFDT: Vielleicht muss in den christlichen Ursprüngen der CFDT den Schlüssel zum Verständnis einer solchen Hingabe an Märtyrertum und Kreuzigung suchen. Für die konservativen Lehrerverbände hat er ebenfalls ein Bonmot: Die Rechte verehrt den Markt, verflucht aber die Kultur, die er erzeugt.

Es zeichnet sich mittlerweile das neue Schulsystem ab: Selektierende "Exzellenztürme" (ein Ausdruck, der unseren Bildungsjournmalisten so gefällt) für die "happy few", Schulen für die mittleren technischen "Kompetenzen" (mit schnellem Verfallsdatum) und - Michéa zitiert den ehemaligen US-Verteidigungsminister (der mit der Knarre an der afghansichen Grenze, als dort noch die Sowjetunion vergeblich Krieg führte) Brzezinski - : "tittytainment" für die Massen. Da ist kein Platz mehr für die Civilité. Michéa verweist auf den ideologischen Gegenbegriff der "Education citoyenne", der mit Orwell das exakte Gegenteil des Gesagten meine. Die Lehrer werden von Wissensvermittlern zu Animateuren, die Wake-up-Aktivitäten, pädagogische Exkursionen, Diskussionsforen usw. leiten - nach dem Modell der Talkshows. Schulen werden mittelfristig zu offenen "Lernparks". Hier unterschätzt er m.E. das schulische Beharrungsvermögen, das die Bertelsmen so nervt.

Noch gibt es Michéa zufolge in den Schulen Residuen der Common Decency. Doch drohen sie unter den hohen Wellen des Psychopädagogismus zu verschwinden - und sei es durch Einsatz der Inspektoren und Lehrerausbilder - den missi dominici des neoliberalistischen Pädagogismus. Auch hier sind die allerdings ans Lächerliche grenzenden Performances der von vielen so gelobten Qualitätsinspektoren in deutschen Landen - manche sprechen sozialtechnologisch vom Bildungs-TÜV - zu erwähnen. Aber trotz ihrer Nackheit sind sie in den Augen vieler Unterrichtender des Kaisers.

Natürlich sieht ein Michéa die Schülerdemonstrationen in Frankreich, von denen sich die teutonischen Brüder und Schwestern einiges abschneiden könnten, positiv. Andererseits ist er kritisch genug, darauf hinzuweisen, dass es sich um einen gesellschaftskonformen Protest handelt (handeln könnte). Demonstrieren hier nicht die jungen Leute für den konsumerischen Hedonismus? Handelt es sich nicht um eine Pseudo-Rebellion? Mit freundlicher Unterstüzung von ARTE oder MTV? Oder EINS Live?

Und so formuliert Michéa am Ende mit Jorge Semprun das entscheidende Problem:

Wenn der umweltbewusste Staatsbürger zu verstören vorgibt, indem er fragt: "Welche Welt hinterlassen wir unseren Kindern?", weicht er der wirklich beunruhigenden Frage aus: "Was für Kindern hinterlassen wir die Welt?"

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden