A bas le pédagogisme! Teil 1: Die sanfte Barbarei

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Die Bildungsdebatte des FREITAG ebbt ab, die Wogen glätten sich, die politische Dimension wird wieder durch die psychologisierende abgelöst. Still ruht der See. Ich möchte diese Ruhe nutzen und auf die Bildungsdiskussion in unserem Nachbarland eingehen. Frankreich ist immer noch extrem bildungszentralistisch, und doch finden sich Gemeinsamkeiten mit der Situation in "diesem unseren föderalen Lande".

Ich möchte in lockerer Folge die Bücher einiger "modernisierungsresistenter" Professoren und Lehrer vorstellen, die vielleicht geeignet sind, auch unseren Blick auf die Bildungslandschaft (wie poetisch dieses Bild ist!) zu schärfen. Schon in den späten neunziger Jahren begann die Auseinandersetzung mit den neoliberalen Reformen in einem Land, in dem1792 der große Aufklärer Condorcetals Berichterstatter in der Nationalversammlung postulierte, dass es das erste Ziel einer nationalen Bildung sei, allen Individuen der menschlichen Gattung die Möglichkeit zu geben, ihre Bedürfnissen zu befriedigen, ihr Wohlsein zu sichern, ihre Rechte zu kennen und auszuüben und ihre Pflichten zu verstehen und zu erfüllen.

Jean-Pierre Le Goff ist Philosoph und Soziologe, Autor von Monographien über Managementsoziologie, aber auch über den Mai 68. Regelmäßig veröffentlicht er in der renommierten Zeitschrift "Débats". 1999 erschien in den Editions La Découverte La barbarie douce (Die sanfte Barabarei) mit dem bezeichnenden Untertitel Die blinde Modernisierung von Unternehmen und Schule.

Damit ist der rote (ausgerechnet) Faden des Buches vorgegeben: In den Betrieben und in den Schulen (das Buch erschien lange vor Bologna, darum werden die Hochschulen nicht analysiert) findet eine blinde neoliberale als naturnotwendig verstandene Modernisierung statt, die katastrophale Konsequenzen zeitigt. In den Betrieben ist der kleine autoritäre Chef verschwunden, flache Hierarchien sind angesagt. Die Mitarbeiter sind zu "Autonomie" und "Verantwortung" angehalten. Leitbild ist das individualisierte Unternehmen. Le Goff weist deren Widersprüchlichkeit, ihr "Double Bind" nach: Jeder Lohnabhängige soll gleichzeitig autonom sein und sich den strikten performativen Normen unterwerfen. Autonom sein, ohne die Wahl zu haben. Sei gefälligst selbstständig und tu das, was von dir gefordert wird! Le Goff stellt für die hierarchische Kette eine Verantwortungsabladung auf das nächst untere Glied fest, was natürlich die Schwächsten fragilisiert und verängstigt. Überforderung und Selbstausbeutung sind die Konsequenzen.

Im Folgenden analysiert Le Goff den Siegeszug des Kompetenzbegriffs in der Wirtschaft, aber auch in den (noch) öffentlichen Unternehmen. Ziel ist das Erreichen von Variabilität und Elastizität der Arbeitenden. Also werden die einzelnen Berufsfelder bis ins kleinste Detail analysiert. So entsteht für die Tätigkeit ein "Profil" und für den (potentiell) Tätigen ein "Kompetenz-Portfolio" - heute für jeden Arbeitssuchenden ein "Musthave". Es entsteht ein Prozess, in dem die Berufstätigkeit auf eine funktionale Machinerie reduziert wird, die ständig perfektioniert werden muss, um ihre Performanzen zu verbessern. Ein Prozess der Entmenschlichung, sagt Le Goff.

Das Interessante an Le Goffs Ansatz ist der Bezug zum Bildungssystem. Der Kompetenzbegriff ist der Schlüssel zur Verbetrieblichung der Schule. Schon in den französischen Grundschulen werden die Kleinen gemäß einem Kompetenzgitter "evaluiert": Sprachkompetenzen, mathematische Kompetenzen, naturwissenschaftliche Kompetenzen etc. etc. Diese allgemeinen Kompetenzen werden wieder operationalisiert. Ein Prozess ad infinitum beginnt. Und das alles - déja vu! - begleitet von den süßen Klängen der Autonomie und Verantwortung. Eine Scheinwelt entsteht, eine pseudowissenschaftliche Diagnostik und Therapie "deshumanisiert" die Beziehungen zwischen Eltern, Schülern und Lehrern. Pädagogik wird allmächtig. Wenn man an ihre Allmacht glaubt. An dieser Stelle kritisiert Le Goff den "Guru" der modernen Pädagogik in Frankreich: Philippe Meirieu, der unter anderem gefordert hatte, die Klassen so heterogen wie möglich zu gestalten, damit sich die Schüler gegenseitig "bereichern" können. Nur so könne der "Bürgerkrieg" vermieden werden. Le Goff wirft ihm völliges Absehen von sozialen und ökonomischen Umständen vor. Meirieu sollte zum Hauptangriffsziel der Antipädagogisten werden (dazu später).

Gegen Ende seiner Streitschrift fragt Le Goff nach den Ursprüngen der "sanften Barbarei". Als Experte der 68er-Bewegung nimmt er deren pädagogischen Tabula-rasa-Forderungen unter die Lupe. Diese Forderungen wurden in der Folge "sozialisiert", d.h. gesellschaftsfähig (auch dazu später). Die Linie geht ebenfalls zurück zu den Modernisierungstendenzen, wie sie im Parti socialiste entwickelt wurden: der Unternehmenskult der achtziger Jahre, die Technikgläubigkeit (Informatik!), die Faszination für das "japanische Modell". Die (Aus-)Bildung wird zum "Wunderinstrument", wie Le Goff schreibt. Die Begriffe "Methoden" und "Kompetenzen" beginnen ihre Herrschaft auch in den Schulen. Ich ergänze: bis heute. Und bis zur Grenze des Erträglichen und Verantwortbaren.

Das Buch endet mit der entscheidenden Frage, auch wenn sie banal klingen mag: Wozu dient die Modernisierung? Was bedeutet sie für die sozialen Errungenschaften und den Zweck des Zusammenlebens? Zu welchem Gesellschaftstyp führt sie?

Grundfragen jeder "Reform" des Bildungssystems.

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