Albert Camus - theoretisch libertär, pragmatisch sozialdemokratisch?

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Der Leserbrief beginnt mit einem höflichen Monsieur le Directeur, um diesen anschließend als einen dieser bourgeoisen Intellektuellen zu bezeichnen, die unbedingt für ihre Herkunft büßen wollen, und sei es auf Kosten ... ihrer eigenen Intelligenz. Er sei es satt, so der Schreiber, ständig Lektionen in Wirksamkeit zu erhalten, und dies von Zensoren, die immer nur ihren Mantel nach dem Wind gehängt haben. "Monsieur le Directeur" antwortet prompt: Mein lieber Camus, unsere Freundschaft war nicht einfach, aber ich werde sie vermissen. Und mit vernichtender Herablassung: Ich wage nicht, Sie auf "Das Sein und das Nichts" zu verweisen, die Lektüre erschiene Ihnen unnötig schwer: Denkschwierigkeiten sind Ihnen ein Greuel. Erst acht Jahre später findet Sartre wieder herzliche Worte für Camus, nach dessen spektakulärem Unfalltod.

Zu unterschiedlich sind die beiden Stars des "Existentialismus". In den "Sartre-Jahren" gilt Camus als "revoltierte", ja als "schöne Seele" - ein nachhaltiges Urteil. Noch heute wird der Nobelpreisträger von 1957 als "Autor für Abiturklassen" ironisiert. Und auch der Verfasser dieser Zeilen hat zeitlebens Sartre vorgezogen - trotz dessen Irrtümern und Ungeheuerlichkeiten.

Ungerecht, falsch und oberflächlich, vom Sartre-Clan in die Welt gesetzt, sei diese Verurteilung , behauptet Michel Onfray in seinem neuen, medial wieder ungemein beachteten Werk (1). Onfray ist einer der "öffentlichen Intellektuellen" Frankreichs, Autor unzähliger Bücher, von denen nicht wenige auch ins Deutsche übertragen worden sind. Camus' Leben und Werk, das mittlerweile sehr gut dokumentiert ist, müsse nur richtig "gelesen" werden - und die Legende sei durch die Geschichte zu ersetzen.

Die Legende. Camus ist weder Philosoph noch Romancier, ein "Second-Hand-Autor", ein "socialiste très rose", ein Kalter Krieger und ein "kleiner weißer Kolonisator".

Dagegen stellt Onfray auf über 500 Seiten seine Geschichte des "wahren Camus". Es ist eine Pro-Camus und eine Anti-Sartre-Geschichte. Von Sartre unterscheide sich Camus vor allem durch eine quasi organische Intoleranz gegenüber jeder Ungerechtigkeit. Onfray stellt ziemlich überzeugend und mithilfe kaum ertragbarer Kriegsfotos die Genealogie dieser "Viszeralität" dar: Camus' Kindheit als Halbwaise in einem Armenviertel Algers, die körperliche Rebellion des im Ersten Weltkrieg gefallenen Vaters gegen blutige Gewalt (Kolonialkriege, öffentliche Hinrichtungen), den dulderischen Habitus der analphabeten Mutter, die prügelnde Großmutter, die Geißel Tuberkulose - und die Befreiung durch die republikanische Schule.

Fast genüßlich erinnert Onfray an die bekannte überbehütete bourgeoise Kindheit des kleinen "Poulou" Sartre, dem zufliegt, was Camus sich hart erarbeiten muss, ohne das "Niveau" Sartres je erreichen zu können. Camus verdankt fast alles zwei Lehrern (die sich als Bildungs- und nicht als Kompetenzvermittler sahen, en passant gesagt): seinem Grundschullehrer Germain und seinem Philosophielehrer Grenier. Grenier eröffnet ihm Nietzsche - und Onfray die Möglichkeit einer linksnietzscheanischen Interpretation der frühen Erzählung "Noces à Tipasa". Angesichts des "heidnischen" Paysage von Tipasa (römische Ruinen, überwuchert von duftendem Rosmarin, Strand, Meer, Sonne) entwickelt Camus einen "Discours de la méthode dionyséenne". Es gibt keinen Gott, nur DAS Leben, den Körper, die (freie) Liebe. Man schreibt sein Leben in den puren Augenblick ein, ohne ihn zu verderben durch die Nostalgie des Vergangenen oder die Angst vor dem Kommenden, beschreibt Onfray einen bei Sartre unvorstellbaren Habitus.

Camus entwickelt eine Art "mediterranen Gramscismus", zu dessen Genese auch die (negative) Erfahrung einer fast zweijährigen Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei gehört, mit der ein Camus zwangsläufig brechen muss. Zu stark sind die "mediterranen Lektionen": Gastfreundschaft, Generosität, Vitalität, Mut und Loyalität. Das intransigente Verhalten der Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg (Camus Mutter ist spanischen Ursprungs) und in der Kolonialfrage (für algerische Kommunisten gilt er als "Trotzkist") verstärkt die Sympathien mit dem Anarchosyndikalismus. "Der Fremde" und "Der Mythos des Sisyphos", Bücher, die Camus' Ruhm begründen, werden von Onfray als Werke des Übergangs interpretiert: vom "Ja zum Leben" in Richtung "Nein zum Tod".

Im Zweiten Weltkrieg wird Camus Chefredakteur der klandestinen Zeitung "Combat". Er ist ein echter Résistant, während das Paar Sartre/Beauvoir Onfray zufolge auch kollaborieren konnte, ein etwas ungerechtes Urteil, schließlich gründet Sartre (kurzfristig) die Widerstandsgruppe "Socialisme et liberté", deren Konzeption sich kaum von der Camus' unterscheidet. Überhaupt ist es einer der Mängel des Werks, die notwendige historische Kontextualisierung - wenn überhaupt - nur einem angedeihen zu lassen: Camus. Gerne wirft Onfray Sartre binäres Denken vor. Er selber ist nicht immer frei davon.

Nach der Befreiung hat Camus eine enorme publizistische Bedeutung. Er fordert die Zeitungen vom Geld zu befreien und entwickelt eine journalistische Deontologie: Energie statt Hass, stolze Objektivität statt Rhetorik, Humanität statt Mittelmaß. Dass er gegen die Todesstrafe - auch für Kollaborateure - eintritt, liegt in der Konsequenz seines Werkes. Schon 1941 hat er mit der "Pest" begonnen, Camus' zentrales Werk gegen den Faschismus, aber auch - so Onfray - gegen den sowjetischen Kommunismus und libertär gegen jede Kontrollgesellschaft. Für Camus ist der Kollaborateur kein Untermensch und der Résistant kein Übermensch ... juste un homme.

Dieser Humanismusder Bescheidenheit kann der kommunistischen Partei, dem parti des fusillés, nicht gefallen, noch weniger der Homme révolté (1951). Allzu deutlich scheint Camus ins Lager der Totalitarismustheorie übergegangen zu sein. er schreibt vehement gegen Bolschewismus, die jakobinische Tradition (ob die präferierten Girondisten wirklich so glorifizierbar sind, wie Camus/Onfray insinuieren, ist sicher diskutierbar), gegen die literarischen "Befreier" de Sade, Baudelaire, die Surréalisten, aber für die Commune de Paris von 1871. Auch hier versucht Onfray das Bild zu berichtigen: Camus sein kein "Contre-Révolutionnaire", sondern ein "Révolutionnaire-Contre". Der libertäre Camus zeige, dass jede Macht verrückt mache. Die Sartreschen Temps Modernes sehen das 1951 anders. Das eingangs berichtete Zerwürfnis ist die Folge dieses "Missverständnisses".

Für Onfray ist Camus eben kein Sozialdemokrat, auch wenn er im selben Jahr die Labour-Party und den skandinavischen Sozialismus lobt. Er zitiert Camus: Ich bin kein wirklicher Sozialist, meine Sympathie gehört den libertären Formen des Syndikalismus, aber ich wünsche den Wahlsieg von Labour.

Aber wie ist das so widersprüchlich erscheinende Verhalten Camus im algerischen Befreiungskrieg zu erklären? Die Vorwürfe sind Legion: Camus sei ein "petit blanc", ein "Kolonist, der für ein franhzösisches Publikum schreibt" (E. Said). Auch diese Vorwürfe sind falsch, sagt Onfray. Camus ist ein viszeraler Antikolonialist, ein gelebter, kein zerebraler oder ideologischer. Er will aber keinen neuen unterdrückenden Staat mit Fahnen und Hymne, sondern freie Kommunen und autonome Kooperativen. Er verurteilt scharf das kolonialistische Massaker von Setif (11.5.1945) - im Unterschied zu den Kommunisten. Allerdings warnt er vor der mörderischen Kriegsdialektik. Achtzig Prozent der algerischen Pieds noirs sind kleine Leute wie die Familie Camus. Wir sind dazu verurteilt, zusammen zu leben. Sartre denkt und schreibt anders. Wenige Monate nach Camus' Tod lesen wir: Töten ist notwendig, einen Europäer zu vernichten ..., es bedeutet einen Unterdrücker und einen Unterdrückten zu befreien: es bleiben ein toter und ein freier Mann. Camus stirbt zu früh, um auf die weitere Brutalisierung des Krieges auf allen Seiten zu reagieren.

Gegen Ende des Werks versucht Onfray - unter Bezug auf Camus, Zeitzeugen und die anarchistischen "Meisterdenker" - die Camussche Konzeption eines "Ordre libertaire" zu rekonstruieren. Er holt dabei zuweilen etwas sehr weit aus:

1. Camus ist nicht gegen den Staat. Ihm schwebe wie Proudhon ein libertairer Staat nach föderativem Prinzip vor. Wer solle sonst die Wirtschaft nationalisieren?

2. Camus ist nicht gegen Wahlen. Sie sind nicht nichts, schreibt er. Wahlen - die Aktualität ist natürlich nicht zu übersehen - sind nach Onfray eine "populäre Modalität" neben den Modi des Aufstands und der Revolution. So unterstützt Camus 1951 den Sozialdemokraten Mendès-France. Ähnlich wie 2012 der libertäre Philosoph Onfray einen gewissen Francois Hollande?.

3. Camus ist nicht gegen den Kapitalismus, auch hier in - wie Onfray meint - Koinzidenz mit Proudhon, der bekanntlich zwischen "Eigentum" (gleich Diebstahl) und "Possession individuelle" unterschied. Das Problem im Kapitalismus, schreibt Onfray (nicht Camus), ist nicht sein Sein, sondern sein Gebrauch. Den kritischen Leser überrascht neben der Allgemeinheit die scheinbare Problemfreiheit einer der Aussage.

4. Camus ist antiautoritär. Wie Bakunin will er ni Dieu ni Maître. Er ist frei, lautet ein berühmtes Camuszitat unter vielen, niemand dient ihm.

Wie auch immer. Camus ist "in". Ein Sarkozy möchte ihn ins Pantheon überführen. Und das Camusbuch Onfrays ist von einigen eher linken Medien zum "Buchevent des Jahres" gemacht worden. "Der wahre Camus" titelt "Marianne". Er sei der Philosoph, den die Krise unabdingbar macht. Wird Camus wieder einmal instrumentalisiert? Von Onfray für Onfray? Der Camusbiograph Olivier Todd stellt zum Beispiel die Frage, ob Camus nicht doch eher Sozialdemokrat sei und ob das Camusbild Onfrays nicht eher ein Onfraybild sei. Und die Literaturkritikerin Juliette Cerf höhnt: Es dröhnen alle Trompeten, aber der Kreuzzug klingt falsch. Als ob es radikal wäre, sich Camus anzueignen (Télérama).

Am Interessantesten ist die Wahlempfehlung des Historikers und Editorialisten Jacques Julliard, der Onfray im besagten "Marianne"-Heft fast hymnisch bespricht und dann schlussfolgert: Theoretisch libertär, pragmatisch sozialdemokratisch: warum nicht?

Hat Onfray das so gemeint?

(1) Michel Onfray, L'Ordre Libertaire. La vie philosophique d'Albert Camus. Paris 2012 (Flammarion)

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