Falken und Tauben

Appeasement Wer die westlichen Reaktionen auf den Ukrainekrieg zu kritisieren wagt, muss mit dem Vorwurf des "Appeasement" rechnen. Die 30er Jahre zeigen: Autokraten macht man keine Zugeständnisse, man zeigt die Instrumente. Ist das wirklich plausibel?

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15. Juni 1983. Heiner Geissler, Familienminister der Regierung Kohl, redete im frisch gewählten Bundestag zum so genannten NATO-Doppelbeschluss. Er musste nicht nur gegen die erstmalig vertretenen grünen Abgeordneten argumentieren, sondern auch gegen Millionen Friedensbewegte, die aus Angst vor einem Atomkrieg gegen den so genannten NATO-Doppelbeschluss demonstrierten. Geissler zitierte – aus dem Gedächtnis – eine Äußerung des Abgeordneten Joschka Fischer. Der hatte eine Woche zuvor in einem SPIEGEL-Interview formuliert:

Ich finde doch moralisch erschreckend, dass es offensichtlich in der Systemlogik der Moderne, auch nach Auschwitz, noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten - diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts.

Dem Auschwitz-Argument setzte Geissler folgendes entgegen: Der „Pazifismus“ der 30er Jahre unterscheide sich in der „gesinnungsethischen Begründung“ nicht vom heutigen, und man habe zur Kenntnis zu nehmen:

Dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.

"Die geschichtliche Wahrheit"

Der Satz erzeugte Tumulte im „hohen Saal“. Nur mühselig, von Zwischenfragen unterbrochen (unter anderem von Petra Kelly), konnte der Redner erklären, dass es ihm um die Appeasement-Politik der 30er Jahre gehe, aber nicht nur. Es sei eine „geschichtliche Wahrheit“, dass

der Nationalsozialismus nicht in der Lage gewesen wäre, den Krieg 1939 zu beginnen, wenn die Westmächte eine klare Position in ihrer Verantwortung genommen hätte... In derselben Situation befinden wir uns heute auch.

Damals erntetet der Scharfmacher Geissler heftige Proteste bei den Grünen und großen Teilen der SPD. Geissler wurde später viel konzilianter. Er wurde gar Mitglied von Attac. Aber an seiner Verurteilung des Appeasement änderte sich nichts. Dafür konnte er (und mussten wir) beobachten, wie seine Gegner von 1983 sich peu à peu seiner Auffassung anschlossen. Heute ist der Begriff „Appeasement“ zum Kampfbegriff geworden, der sich weit vom historischen Entstehungskontext entfernt hat. Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der bayrischen Grünen, schießt vielleicht den Vogel ab, wenn sie in der TAZ fordert: „Querdenkern gegenüber: Schluss mit der Appeasement-Politik“. Aber bleiben wir beim normalen Bellizismus. Der liberal-moderne Grüne Ralf Fuecks zeigt exemplarisch Richt- und Haltung, indem er aus der „historischen Wahrheit Geisslers eine „harte Wahrheit“ macht:

Die harte Wahrheit ist: Die deutsche Appeasement-Politik hat zu diesem Krieg beigetragen, ebenso die Finanzierung der russischen Aufrüstung durch unsere Öl- und Gasimporte. Wir müssten deshalb jetzt mehr tun als andere, um die Ukraine zu unterstützten. Aber wir tun wenige (Twitter, 16.4.22).

Sogar die Ikone Angela Merkel verliert vor diesem harten Gericht ihre Aura und muss sich die Bezeichnung „Germany's Chamberlain“ (The Trumpet) gefallen lassen. Auch Scholz, Steinmeier und sogar Lindner wandern in die Rubrik „nützliche Idioten Moskaus“ (Politico). Erklärt dies Lindners Urteil vom März dieses Jahres?

Wer kann Wladimir Putin noch ausrechnen? Ich nicht. Ich kann nur die Antwort geben: kein Appeasement. Mit der Härte der Möglichkeiten...(Rheinische Post).

Wie ist der Begriff "Appeasement" zu verwenden? Paradigmatisch setzt Sven F. Wellerhoff in der Welt die Eckpunkte. Er entdeckt „erschreckende Parallelen“ mit den Ereignissen im August und September 1939. Das wertende Attribut ist für das gesamte Setting signifikant. Nein, Putin ist für Kellerhoff nicht Hitler, aber beide sind „imperialistisch“ motiviert und wollen bestehende Grenzen aushebeln, angeblich, um ihre „Volksgenossen“ zu schützen. Letzterer Begriff ist nicht zufällig und widerspricht implizit der angeblichen Nicht-Identität. Aber der Autor nennt – etwas ungeordnet – weitere „Parallelen“:

- die Flucht der Polen 1939 und die der UkrainerInnen

- das „Appeasement“des „Westens“ gegenüber „Autokraten“ (also doch P.= H.?)

- die berühmte rhetorische Frage „Mourir pour Danzig?“ 1939 und die 5000 Helme-Hilfe heute.

Immerhin konzediert der Autor Unterschiede. Es ist kein Hitler-Stalin-Pakt in Sicht. Und das Damoklesschwert Atomkrieg hemmt die letzte Eskalation (wohl durch Putin, denn der demokratische '“Westen“ würde bekanntlich nie Atomwaffen einsetzen).

Damit sind die Prämissen für den Anti-Appeasement begründeten Bellizismus formuliert:

Putin ist als Autokrat „irgendwie“ Hitler geistesverwandt. Deswegen entfacht er einen faschistischen und imperialistischen Krieg. Seine Tollheit wuchs proportional zur sanften Friedfertigkeit der Demokratien, die Handel und Frieden über alles stellten. Spätestens jetzt ist der „big stick“ (Roosevelt) angesagt. Nicht zu „helfen“, wäre zynisch. Man könnte anschließen: „Gerade wir als Deutsche müssten aus der Geschichte gelernt haben““ und damit „unser“ militärisches Handeln antifaschistisch legitimieren (die „Lehren aus der Geschichte“).

Nun ist die Herstellung von Analogien eine äußerst schwierige historische Übung. Und die meisten Historiker gehen mit viel Skepsis an den Vergleich 1938/39 – 2014/22. Die SZ hat anlässlich der Krim-Annexion 2014 einige von ihnen befragt: „Geschichte ist unwiederholbar“, so Andreas Wirsching. Es gebe keine „einfachen Parallelen, keine Handlungsanweisung für die Gegenwart“. Ute Frevert verweist auf die inhärente „Schiefheit historischer Analogien“ und spricht von „politischen Botschaften, die sich ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen“. Ulrich Herbert wird konkreter: Die Drohungen des Westens hätten eskalierenden Charakter. Die NATO-Aufnahme der Ukraine würde von Russland als Drohung verstanden. Wolfgang Wette schreibt über die historischen Erfahrungen Russlands seit 1812 und die Dauerdemütigungen Russlands nach der Implosion der UdSSR. Der einzige Historiker, der der Analogie eine gewisse Berechtigung zugesteht, ist der Politikwissenschaftler Münckler. Er polemisiert vor allem gegen Teile der Grünen und der SPD, „Sentimentalpazifisten“, die jede Form strategischen Denkens als kriegstreiberisch ansehen“. Solange geredet werde, so ihr Postulat, gebe es keinen Krieg. Dies werde durch das Münchener Abkommen falsifiziert, das den Krieg nur um 1 Jahr hinausgezögert habe. Paradoxerweise würden aber eben diese Pazifisten Frankreich und England ihre Nachgiebigkeit von 1938 vorwerfen. Dabei übersähen sie das „strategische Verhalten“ Chamberlains (Zeitgewinn um aufzurüsten).

Spätestens jetzt ist ein Blick auf die 30er Jahre angesagt. Hat die Appeasement-Politik der Chamberlain und Daladier wirklich Hitler zum Einmarsch in die „Resttschechei“ im März 1939 und zum Überfall auf Polen im September desselben Jahres motiviert? Was wäre (das berühmte „what if“?), wenn „man“ ihm früher in den Arm gefallen wäre? Wäre gar der 2. Weltkrieg verhindert worden? In vielen Lehrbüchern wird diese Doxa verbreitet.

Zugestehen bis zum nächsten Mal?

Wir kommen um einen genaueren Blick auf einen historischen Abriss der „Appeasement-Politik“ nicht herum. Dafür wäre aber ein Buch nicht ausreichend. Es gibt im folgenden also viele unvermeidbare Reduzierungen und Auslassungen. Deutlich wird: Die vehemente Kritik der „Appeasement-Politik“ ist eine ziemlich grobe Verkürzung.

Eigentlich müsste man mit dem Ersten Weltkrieg und dessen Folgen beginnen (am besten noch früher). Ich folge hier dem französischen Historiker Johann Chapoutot, der die komplexe Diplomatiegeschichte mit der B-Version des „Plan Barthou“ beginnen lässt. Der französische Außenminister versucht ein osteuropäisches Pendant zum Locarno-Pakt von 1925. 1932 gelingt der Abschluss eines franko-sowjetischer Nichtangriffspakst. Gleichzeitig ist Frankreich in Allianz mit der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. Polen stellt ein größeres Problem dar. Der „Außenbeauftragte“ Pilsudskis, General Josef Beck zieht einen Nichtangriffspakt mit Deutschland vor (1934). Auf Initiative Frankreichs wird die UdSSR endlich Mitglied des Völkerbunds. Selbst Italien scheint eingebunden werden zu können. Die Gelegenheit ist günstig: Mussolini beunruhigt die Anschlussbestrebungen in Österreich. Im Januar 1935 kann der neue Außenminister Laval in Rom tatsächlich einen franko-italienischen Vertrag unterschreiben. In Stresa, im April 1935, bekräftigen Frankreich, Großbritannien die Souveränität Österreichs. Als Deutschland 1935 die Wehrpflicht einführt, arbeiten die italienische und französische Diplomatie gerade an einer Militärallianz. Deutschland scheint wirklich bündnispolitisch isoliert werden zu können.

All diese Bemühungen werden konterkariert durch das deutsch-englische Abkommen vom 18. Juni 1935, das Deutschland die Wiederbewaffnung seiner Kriegsflotte ermöglicht (35% der britischen Tonnage). Hitler spricht von seinem “schönsten Tag“., zudem ein symbolischer: es ist der 120. Geburtstag Waterloos. Für Frankreich kommt dieser Bruch des Versailler Vertrages völlig überraschend. Er verweist aber auch auf das Kräfteverhältnis zwischen Großbritannien und Frankreich. Allerdings hat sich Hitler seit der Machtübernahme geschickt als „Friedenskanzler“ präsentiert. Noch einen Monat vor dem Flottenabkommen bekennt er sich vor dem extra zusammengerufenen Reichstag zum Locarnopakt und inszeniert sich gleichzeitig als Retter vor dem Bolschewismus. Sicher gebe es Konflikte:

Dass in Europa die politischen Grenzen nicht die Ideengrenzen sind, kann schwerlich bestritten werden.

Andererseits versichert Hitler:

Die deutsche Reichsregierung ist jederzeit bereit, sich an einem System kollektiver Zusammenarbeit zur Sicherung des europäischen Friedens zu beteiligen

Ewas unerwartet durchkreuzt Mussolini die Pläne der Allierten. Im Oktober 1935 beginnt auf seinen Befehl der Abessinienkrieg. Italien führt mit Gottes Segen einen Krieg mit allen möglichen Vernichtungsmitteln der Zeit (Luftangriffe, Giftgas, Flammenwerfereinsatz, Erschießungen von Gefangenen etc.). Der Völkerbund verurteilt Italien und verhängt ein Embargo, von dem aber – auf Initiative Englands und Frankreichs - Öl und Eisen ausgeschlossen sind. Auch der Suezkanal wird nicht gesperrt schließlich muss der freie Handel gewährleistet sein. Trotz der milden Reaktion der Alliierten, die fast an Appeasement erinnert, nähert sich Mussolini nun Deutschland an. Er spricht nun von einer „Schicksalsgemeinschaft“ und akzeptiert die Remilitarisierung des Rheinlands (7. März 1936) mit anschließendem Referendum (mit 99% Zustimmung). Der Duce protestiert nicht einmal gegen den deutsch-österreichischen Vertrag (11. Juli 1936), den Vorläufer des „Anschlusses“.

Der deutsche Einmarsch in das Rheinland ist offensichtlich ein klarer Verstoß gegen den Versailler Vertrag. Der französische Ministerpräsident Sarraut erwägt konsequent eine militärische Intervention. Der britische Außenminister Anthony Eden beschwichtigt jedoch: Die Aktion Hitlers sei keine Bedrohung für den Frieden in Europa. Die französische Republik beschäftigt in dieser Zeit allerdings anderes: Aus den Wahlen im Mai 1936 ist der „Front populaire als Sieger hervorgegangen (im Februar hat in Spanien der „Frente popular“ die Wahlen gewonnen).

Und das sollte die Verhältnisse wohl ändern. Ohne Zweifel ist die Volksfrontregierung antifaschistisch. Aber wie äußert sich dies außenpolitisch? Von den drei möglichen Bündnispartnern schließt sich Italien selbst aus, die Allianz mit der UdSSR wird aufgrund der Sensibilität gegenüber Polen und Rumänien nicht aktiviert. Es bleibt nur Großbritannien, ein Land,

dessen Führer, wie Serge Halimi schreibt, zu dieser Zeit antifranzösischer und antisozialistischer waren als antideutsch.

Und diese haben die Angewohnheit, ihre Entscheidungen ohne große Konsultation der Verbündeten zu treffen. Das Dilemma zeigt sich in der Frage des Waffenverkaufs an die spanische Republik nach dem Francoputsch. Chamberlain beschreibt lakonisch die britische Haltung:

Wir hassen den Faschismus, aber wir hassen nicht weniger den Bolschewismus.Wenn sich in einem Land Faschisten und Bolschewisten gegenseitig töten, ist dies eine große Wohltat für die Menschheit.

Geben wir dem Anti-Appeaser Churchill das Wort:

Falls Frankreich der aktuellen Regierung in Madrid Flugzeuge schickt und wenn andererseits Deutschland und Italien intervenieren, bin ich sicher,dass die hiesigen Führungskräfte Deutschland und Italien zustimmen und sich von Frankreich distanzieren.

Angesichts dieser Haltung, die auch der Position der nationalen Rechten in Frankreich entspricht, entscheidet sich die Regierung Blum offiziell für die „Non-Intervention“, um einen europäischen Krieg zu vermeiden, so die Sprachregelung. Bis heute wird das „Appeasement“ im Spanischen Bürgerkrieg kaum wahrgenommen und diskutiert. Dabei stellt sich die Frage des „What-if“ gerade hier. Und es wird deutlich: Unter der diplomatischen Oberfläche agieren handfeste ökonomische Interessen. It's capitalism, stupid. Und "der Kapitalismus trägt den Krieg in sich, wie die Wolke das Gwitter (Jaurès)."

In der zweiten Hälfte der 30er Jahre sind die Bündnisse geschnürt. Auf der einen Seite die „Achsenmächte“, auf der anderen die parlamentarischen Demokratien. Die UdSSR und die USA bleiben offiziell außen vor.. In den USA sieht sich Roosevelt mit der Lobby-Bewegung „America first“ konfrontiert. Bis 1937 gibt es insgesamt 4 „Neutrality Acts“. Die in den 30ern einsetzende Umfrage-Industrie belegt: die Bevölkerungen in den USA, Frankreich und Großbritannien sind mehrheitlich „pazifistisch“ eingestellt, pro Völkerbund, kollektives Sicherheitssystem und Abrüstung. Der Erste Weltkrieg steckt den Menschen noch „in den Knochen“, übrigens auch in Deutschland. Das wird selten in der Interpretation der „Appeasement“.Politik thematisiert.

Trotzdem verblüfft uns heute die Nachgiebigkeit gegenüber dem italienischen und dem deutschen Diktator. Aber halten wir uns an die Kontexte. In den Dreißigern sieht man sie als quite ordinary Dictators und als klassische politische Partner. Viele überzeugt Hitlers Antibolschewismus. Nicht nur King Edward VIII. ist ein regelrechter Fan des Diktators. Und über die Ungeheuerlichkeiten der italienischen Armee in Äthiopien sieht man in kolonialistischer Tradition hinweg. Myan ist übrigens diesbezüglich Kenner. Der überzeugte Pazifist Neville Chamberlain, seit Mai 1937 Premierminister, ist sich weiterhin sicher, mit Hitler verhandeln zu können. So wie mit Mussolini, mit dem er im April 1938 ein über koloniale Einflusszonen in Afrika abschließt.

Hitler ist sich seinerseits nach 1936 der Unterstützung Mussolinis sicher. Am 13 März 1938 verkündet er den „Anschluss“ Österreichs. Es erfolgt keine Reaktion der liberalen Demokratien. Selbst die brutale Repression von Juden und politischen Oppositionellen direkt nach dem „Anschluss“ beunruhigt nicht all zu sehr. Schließlich ist die Vereinigung durch „Volksabstimmungen“ zu fast 100% angenommen und entspricht damit perfekt Wilsons Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Dass das auch für die Sudetendeutschen geltend gemacht werden würde, hätte klar sein müssen (auch wenn der „Fall Grün“ nicht bekannt war). Wie steht es mit der Verlässlichkeit Frankreichs gegenüber der Tschechoslowakei, gemäß dem Abkommen von 1924? Und ist die Tschechoslowakei nicht auch mit der UdSSR verbündet? Der neue Ministerpräsident Daladier ist jedenfalls entschlossen. Am 10. September fragt sein Außenminister Bonnet in London an:

Wir müssen der Wirklichkeit ins Auge sehen. Deutschland kann morgen die Tschechoslowakei angreifen. In diesem Fall würde Frankreich sofort mobilisieren. Es würde vor England hintreten und ihm sagen: Wir marschieren. Marschiert ihr mit uns? Wie wird die Antwort Großbritanniens sein?

Am 12. September hält Hitler seine Abschlussrede auf dem Parteitag in Nürnberg. Er ist deutlich:

Ich bin Nationalsozialist und als solcher gewohnt, gegen jeden Angriff sofort zurückzuschlagen. … Ich werde unter keinen Umständen gewillt sein, einer weiteren Unterdrückung der deutschen Volksgenossen in der Tschechoslowakei in endloser Ruhe zuzusehen. (…) Was die Deutschen fordern, ist das Selbstbestimmungsrecht, das jedes andere Volk auch besitzt,und keine Phrase.

Aber London lehnt weiter harte Maßnahmen gegen Deutschland ab. Chamberlain schreibt am 21. September an den englischen Botschafter in Paris:

Soweit ich (…) in der Lage bin, in diesem Stadium eine Antwort auf die Frage von Monsieur Bonnet zu geben, würde es die sein, dass Seiner Majestät Regierung niemals zulassen wird, dass die Sicherheit Frankreichs bedroht wird, dass sie aber nicht in der Lage ist, genau zu sagen, wie und wann sie unter Umständen handeln wird, die sie noch nicht zu überschauen vermag.

Entschlossenheit sieht anders aus.

Noch am selben Tag einigen sich London und Paris, die Tschechoslowakei nicht verteidigen zu wollen. Hitler ist so geschickt, die autokratisch regierten Polen und Ungarn mit Territorialversprechen in „sein Boot“ zu holen. Und er ist (nicht „scheint“) zum Krieg entschlossen. Am 28. September werden die deutschen Truppen mobilisiert. Frankreich ruft die Reservisten ein, was in der Bevölkerung zu großer Unruhe führt. Ebenso wie in Großbritannien, wo die Royal Navy in Alarmbereitschaft versetzt wird. Chamberlain hält seine berühmte Rundfunkrede am 27. September. Sie ist ein Manifest des Appeasement:

Es ist schrecklich, verrückt, unglaublich. Wir heben wieder Schützengräben aus. Wir erproben Gasmasken, wegen eines Streits in einem fernen Land,. zwischen Leuten, die wir nicht kennen. Noch scheint es unmöglich, dass ein Streit, der geregelt ist, zu einem Krieg werden könne... Ich werde nicht zögern, noch ein drittes Mal nach Deutschland zu fahren, wenn ich wüsste, das dies von Nutzen wäre.Wie auch immer unsere Sympathie für eine kleine, von einem großen und mächtigen Nachbarn bedrohten Nation sein mag, wir können das britische Empire nicht in den Krieg führen nur wegen dieser kleinen Nation. Wenn wir uns schlagen müssten, wäre es für wichtigere Dinge.

Chamberlain schafft mit Unterstützung Mussolinis die Einberufung einer internationalen Konferenz mit Frankreich, Italien und Deutschland (ohne die Tschechoslowakei) einzuberufen (ein Replay des Versailler Modells). Das Münchener Abkommen wird am 30. Oktober unterzeichnet. Es ist fatal: Das Sudetenland wird Deutschland zugesprochen, alle Nicht-Deutschen müssen es verlassen. Daladier hat immerhin durchgesetzt, dass die Übereinkunft bezüglich der Sudetendeutschen nicht die Existenz der Tschechoslowakei infrage stellt. Aber sein Land hat den Vertrag mit der „kleinen Nation“ gebrochen. Und da ist noch der große Abwesende Stalin , der das Versagen der liberalen Demokratien genau beobachtet (wie schon im spanischen Bürgerkrieg) und bewertet. Immerhin wäre die UdSSR, nicht eingeladener Verbündeter der ČSR, bereit gewesen militärische Sicherheitsgarantien zu geben.

Noch am 30. September, auf dem Flugplatz von Heston, hält Chamberlain seine bejubelte „Peace-für-our-time“-Rede:

Wir betrachten das gestern Abend unterzeichnete Abkommen und das deutsch-englische Flottenabkommen als symbolisch für den Wunsch unserer beiden Völker, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen.

Daladier ist wesentlich skeptischer. Als er beim Verlassen des Fliegers die jubelnde Masse sieht und die Rufe „Vive la France! Vive l'Angleterre! Vive la paix!“ hört, zischt er durch die Zähne: „Les cons!“ (diese Idioten!). Schnell ist eine Umfrage zur Hand: 57% der Franzosen billigen das Münchener Abkommen. Das Parlament stimmt mit großer Mehrheit zu. Ebenso das Unterhaus, in dem Churchill am 5. Oktober seine immer wieder zitierte Rede hält:

Wenn sie engen Kontakt mit Russland gehalten hätten, was sie aber nicht taten, hätten Frankreich und Großbritannien zusammen in diesem Sommer mit ihrem Prestige die kleineren Staaten Europas beeinflussen können, auch die Haltung Polens...

Zwischen Unterwerfung und sofortigem Krieg gab es diese dritte Alternative, welche Hoffnung machte, nicht nur auf den Frieden, sondern auch auf Gerechtigkeit. Eine erfolgreiche Politik verlangte von Großbritannien die gut vorbereitete Erklärung, mit anderen die Tschechoslowakei zu verteidigen. Die Regierung ihrer Majestät weigerte sich, diese Garantie zu geben, als es die Situation gerettet hätte, und als sie sie am Ende gab, war es zu spät...

Ich möchte wissen, welche Haltung Frankreich und England in diesem und im nächsten Jahr einnehmen werden... Die deutsche Armee ist größer als die Frankreichs, obwohl sie bei weitem nicht so vollendet ist. Nächstes Jahr wird sie noch stärker sein und reifer... Wenn der Nazi-Diktator nach Westen schauen wird, was wirklich möglich ist, werden Frankreich und England den Verlust der feinen Armee des alten Böhmens bedauern...

Chamberlain antwortet:

In der Tat glaube ich, dass wir den Frieden für unsere Zeit sichern können. Aber ich habe nie vorgeschlagen, dies durch Abrüstung zu tun, so lange die anderen nicht auch abrüsten. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass Schwäche in bewaffneter Stärke diplomatische Schwäche bedeutet, und wenn wir dauerhaft Frieden sichern wollen, stelle ich fest, dass Diplomatie erst wirksam sein kann, wenn überall das Bewusstsein existiert, dass hinter der Diplomatie Stärke steht.

Interessant ist, dass sich Polen und Ungarn an der Aufteilung der Tschechoslowakei beteiligen. Am 2. Oktober annektiert Polen manu militari die Region von Teschen. Ungarn verleibt sich Anfang November die Südslowakei ein. Die Münchener Ordnung hält – wie wir heute nur zu gut wissen - nicht lange. Am 15. März 1939 gibt Hitler den Befehl, in die „Resttschechei“ einzumarschieren. Einen Tag zuvor hat sich die Slowakei für „unabhängig“ erklärt. Damit ist die „Versailler Ordnung“ endgültig zusammengebrochen. Chamberlain erklärt sich am 17. März:

Man hat suggeriert, dass die Besetzung der Tschechoslowakei die direkte Konsequenz meines Besuches in Deutschland im letzten Herbst sei..., was beweise, dass sämtliche Umstände dieser Besuche falsch wären. Man hat gesagt, dass, da dies die persönliche Politik des Premierministers gewesen sei, er die persönliche Verantwortung für das Schicksal der Tschechoslowakei trage. Dieser Schluss ist völlig ungerechtfertigt. Die Fakten von heute können die Fakten vom letzten September nicht verändern. Wenn ich damals recht hatte, habe ich auch heute noch recht... Ich fuhr nicht nach Deutschland um populär zu werden. Ich ging vor alle dorthin, weil es mir in einer fast verzweifelten Situation als die einzige Chance erschien, einen europäischen Krieg zu verhindern. Als ich meine Fahrt ankündigte, hörte ich keine einzige kritische Stimme. Das kam erst später, als klar wurde, dass die Ergebnisse des Abkommens den Erwartungen einiger nicht entsprach...

Was war denn die Alternative? Nichts, was wir hätten tun können, nichts, was Frankreich getan haben könnte, was Frankreich oder Russland hätten tun können, hätte die Tschechoslowakei vor Invasion und Zerstörung bewahren können. Selbst wenn wir in den Krieg gezogen wären, um Deutschland zu bestrafen und wenn wir, nach schrecklichen Verlusten aller Teilnehmenden, am Ende siegreich gewesen wären, hätten wir nicht mehr die Tschechoslowakei des Versailler Vertrages wieder aufbauen können.

In Frankreich hat sich die Stimmung völlig gedreht. Drei Viertel der Bevölkerung fordern Umfragen zufolge das Ende der Zugeständnisse an Hitler. Dabei spielt auch die endgültige Niederlage des„Frente popular“ Ende März 1939 eine Rolle. Die rhetorische Frage „Mourir pour Dantzig?“ (Sterben für Danzig?), diese von den heutigen Bellizisten immer wieder zitierte Überschrift eines Artikels des späteren „Collabo“ Marcel Déat repräsentiert im Frühjahr 1939 nur die Meinung einer rechten germanophilen, vor allem aber antisowjetischen Minderheit.

Aber allem Antibolschewismus zum Trotz ist für die britische und französischen Diplomatie ein Bündnis mit der SU zur einzigen Alternative geworden, um den nächsten großen Krieg vielleicht doch noch zu verhindern. Die Drohung mit einem Zweifrontenkrieg könnte abschreckende Wirkung auf Deutschland (nicht unbedingt auf Hitler) haben. Undtatsächlich: im August 1939 schickt das französische Außenministerium eine Mission nach Moskau... per Schiff, und nicht per Luft, mit Diplomaten. ohne Entscheidungskompetenz. Die Frage, wie Polen zur Toleranz russischer Flugzeuge in seinem Luftraum zu bewegen ist, um die deutsche Luftwaffe zu treffen, bleibt weiter ungelöst. Umso überraschender kommt die Nachricht vom deutsch-sowjetischen Pakt. Und dann geht es sehr schnell: am 1. September eröffnet die „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf Danzig. 2 Tage später, um 11 Uhr, erklärt Großbritannien Deutschland den Krieg. Frankreich 6 Stunden später. Hitler ist vor allem über die Kriegserklärung Englands bestürzt. Sein Friedensangebot vom 6. Oktober schlägt Chamberlain aus.

Die Kriegserklärung hat in den liberalen Demokratien drastische Konsequenzen. Oft wird übersehen, dass die Kriegsführung in der Regel die demokratischen Rechte einschränkt (oder abschafft). Das trifft vor allem die „inneren Feinde“. In Frankreich wird am 17. September die kommunistische Partei verboten, obwohl sie in der Nationalversammlung den Kriegskrediten zugestimmt hat. Viele Kommunisten landen im Gefängnis (sie „dienen“ später den deutschen Besatzern als „Geiseln“).

Polen ist nach 6 Wochen besiegt und wird – ein viertes Mal – aufgeteilt. Großbritannien und Frankreich bereiten sich auf einen Krieg langer Dauer vor. Sie verstärken ihre militärische und wirtschaftliche Kooperation. Französische Sabotagepläne (Bombardierung des Ruhrgebiets, Attacken auf sowjetische Ölfelder, von denen aus Deutschland beliefert wird) werden von Großbritanniien abgelehnt. Deutlich wird jedoch: Von „Appeasement“ spricht niemand mehr. Der 14. Juli 1939 wird zu einer gewaltigen Demonstration französischer, aber auch britischer Militärmacht. Hinter der Hand, so der Historiker und spätere ermordete Résistant Marc Bloch, kursierten unter bestimmten Miglieder der „Elite“, unter konservativen Politiker, Unternehmern und hohen Militärs, Sprüche wie „Lieber Hitler als Blum“ oder „Lieber Hitler als Stalin“.

Die "What-if"-Frage

Aber ich will mich nicht vor der „What-if?"-Frage „drücken“ (um im Militärjargon zu bleiben): Hätte der Krieg verhindert werden können, wenn Großbritannien und Frankreich gegenüber Diktatoren wie Mussolini und Hitler von Beginn an mit einem „bigger stick“ geantwortet hätte? Diese Frage ist den Akteuren gegenüber ziemlich unfair. Denn im Unterschied zu ihnen, wissen wir, was ihrem Handeln mittel- und langfristig folgte.. Wenn wir kontextualisieren und die Akteure eben nicht aus ihren sozialen, politischen und ideologischen Bezügen und Widersprüchen lösen, müssen wir nicht selten unser strenges Urteil revidieren. Die „Anti-Appeasement“-Richter von heute bleiben daher argumentativ auf der Oberfläche, verwischen Unterschiede oder weisen auf Ähnlichkeiten und Parallelen hin, die jedoch im historischen Kontext ganz andere Funktionen haben können. Aber sie können auf ihren Helden Churchill verweisen, der glaubte:

If the Allies had resisted Hitler strongly in his earlier stages, the chance wood have been given to the sane elements in German life, especially in the High Command, to save Germany from the maniacal system... into which it was falling.

Genau dies bezeichnet der Militärhistoriker Andrew Roberts als weniger plausibel als eine andere Alternative: ein deutscher Sieg über Großbritannien. Das Empire durchlief in den dreißiger Jahren eine lange ökonomische Krise. Der Staat war hochverschuldet. Die extreme Arbeitslosigkeit, verursacht durch die Great Depression und die Deflationspolitik verlangte hohe Sozialausgaben. Der Militäretat war mit unter 5% des Wirtschaftsproduktes für Empire-Verhältnisse extrem niedrig. Politische Falken wie Churchill waren eher selten, und der Gewerkschaftsfresser und Antikommunist war nicht der Beliebteste. Die „Kriegsmüdigkeit“ (um ein aktuelles Wort zu benutzen) durchzog die Bevölkerung, von den Kommunisten und Labour über die Liberalen bis zu den Konservativen, und das war nach all den Erfahrungen des Großen Schlachtens nur zu verständlich. Und hatte nicht selbst Keynes die Behandlung der Deutschen durch den Versailler Vertrag scharf kritisiert? Galt das berühmte „Selbstbestimmungsrecht“ nicht für das Deutsche Reich? Hitler wusste um die Friedenssehnsucht der Bevölkerungen und spielte damit ziemlich virtuos. Am Ende hätte Europa jedoch ein Deutsches Reich, das größer wäre als 1914. Die Konservativen beherrschte ein viszeraler Antikommunismus, der fast jede Zusammenarbeit mit der SU verbot, die ihrerseits alles tat, um unattraktiv zu werden. Die beiden Volksfronten der 30er Jahre schreckten manchen mehr als faschistische Diktaturen, zumal sich Ende 1936 eine gewisse „Normalisierung“ anzudeuteten schien.

Die „Appeasement“-Politik hatte also eine gewisse Plausibilität. Noch 1938 waren weder. Frankreich noch Großbritannien auf einen Krieg vorbereitet. Sie holten auf (gerade durch die Rüstungspolitik der Volksfrontregierung), konnte aber nicht ernsthaft drohen. Dass, wie Churchill glaubte, die Kriegsdrohung eine Art Putsch der deutschen Generalität provoziert hätte, ist sehr unwahrscheinlich. Dass Hitler schon ein halbes Jahr nach München in Prag einmarschieren würde, war im September 1938 nicht absehbar. In unserem historischen Bewusstsein ziehen sich die Zeiträume zusammen. Dass es ein „Hitler-Stalin-Pakt“ zustande kam, der den Deutschen vorerst einen Zweifrontenkrieg ersparte, war bis Ende August 1939 außerhalb der Vorstellungswelt. Ebenso auch nur die Möglichkeit von den im Krieg generierten ungeheuren Menschheitsverbrechen, wobei schon die Kriege der ersten 30 Jahre des Jahrhunderts schlimm genug waren. Auch hier sehen wir erst in der Retrospektive eine Art Genese: von den Kolonialverbrechen über den Ersten Weltkrieg und den Abessinienkrieg zum Holocaust, aber auch den Kriegsverbrechen an den sowjetischen Gefangenen. Die „What-if“-Frage ist natürlich legitim und manchmal erkenntnisfördernd. Diesbezüglich gibt es viel interessantere Fragen: was wäre gewesen, wenn die Deutschen demokratiefähiger gewesen wären? Antimilitaristischer? Antiautoritärer? Antifaschistischer?

Lehren aus der Geschichte oder simple Instrumentalisierung?

Geisslers These scheitert also durch extreme inhaltliche Verdünnung. Er reduziert die Komplexität der historischen Wirklichkeit bis zur ihrer Unkenntlichkeit. Sie ist eine im Sinne Ute Freverts „politische Botschaft“: aber sie ist scheinplausibel. Das gilt auch für die Aktualisierungen der Appeasementkritik durch die oben zitierten Fuecks, Kellerhoff und vieler anderer. Sie übernehmen die einfache Prämisse „Hätte man Hitler Starke entgegengesetzt, hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben“ und parallelisieren sie durch Anwendung auf Putin. Hätten wir bei der Annexion der Krim „klare Kante“ gezeigt (Militärpolitiker und -journalisten lieben "Kanten"), und hätte bestimmte Politiker des "freien Westen" kein „Appeasement“ praktiziert, hätte Putin es nicht gewagt, die Ukraine anzugreifen. Der Syllogismus wirkt durch die Kraft der Bilder, die er in uns erzeugt. Ein Zelensky weiß das, wenn er auf der Münchener Sicherheitskonferenz unter Beifall vorträgt:

Eine Politik des Appeasement führt doch zu nichts. Wir haben alle die Geschichtsbücher gelesen.

Die Schwäche des Syllogismus sind die falschen Identifikationen, die er benötigt: Putin ist weder Stalin noch Hitler, auch wenn die Medien dies suggerieren. Er hat bei weitem nicht die Machtposition des „Führers“, die russische Bevölkerung ist keine „Gefolgschaft“. Er spricht auch nicht wie Hitler von "Volksgenossen". Und er fordert auch keinen „Lebensraum im Westen“. Putins „Münchener Abkommen“ ist das „Abkommen von Minsk“ (2015), dessen Eckpunkte bisher von der Ukraine nicht erfüllt wurden und nun eigentlich – aus Putins Sicht – „klare Kante“ verlangen. Die sowjetische Föderation ist auch nicht „faschistisch“, auch dies ein Attribut, das die Analogie verlangt. Es sei denn, man macht daraus einen beliebigen Feindbegriff, um den Preis des Unhistorischen. Wer vom „Imperialismus Putins“ spricht, sollte zumindest andeuten, was er meint (römischer, klassischer, ökonomischer Imperialismus, Hobson, Lenin, Luxemburg?). Seit über einem Jahrzehnt sind die Intentionen Putins bekannt: die Begrenzung der territorialen „Schäden“ der Implosion der SU, die Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen, ein „starkes Russland“ mit einer "starken Regierung". Dafür führt er sogar einen Krieg, mit all der schrecklichen Dynamik, die Kriege der Moderne haben. Mit Mitteln, die uns alle zu recht entsetzen. Was ist, wenn ein wenig mehr „Appeasement“ diesen Krieg tatsächlich verhindert hätte? Wer trüge die Verantwortung für ein gewisses Nichtstun, das von lautem Säbelrasseln begleitet wurde?

Aber „wir“ haben ja gelernt. Jetzt wird aufgerüstet. Wer gegen das "Sondervermögen" ist, ist gegen das Grundgesetz. Haben wir eigentlich schon "innere Feinde"? Schluss mit dem „Appeasement“:

Was wir brauchen - das mag martialisch klingen - Sie brauchen, um aus Sicht der Bundeswehr zu agieren, ein Feindbild. In den letzten Jahren ist Russland nicht mehr als solches empfunden worden, ein Bild eines möglichen Feindes, der unsere Demokratie und Freiheit beseitigen will.

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Marie Agnes Strack Zimmermann, weiß um ihre Verantwortung. Sie weiß auch, wovon sie spricht, gerade auch als Mitglied des Lobbyverbands "Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik". Sie weiß auch, was ihre Forderung, endlich Leopardpanzer an die Ukraine zu liefern, bedeutet. Und wie schnell der Partner von heute zum "möglichen Feind" von morgen promoviert werden kann. Anti-Appeasement und Feindbild-Konjunktur als Bedingung der Rüstungskonjunktur. Das sind also die Lehren aus der Geschichte?

Der große Jean Jaurès, der wenige Tage vor dem Ersten Weltkrieg ermordete Kriegsgegner, wusste es anders:

On ne fait pas la guerre pour se débarasser de la guerre. Man führt keinen Krieg, um den Krieg los zu werden.

Johann Chapoutot, 1939-1940. Les Démopcraties et la guerre, in: La guerre-monde, t.1, Paris 2015

Niall Ferguson, Virtual History. London 2014 (1997)

Serge Halimi, Quand la gauche essayait. Paris 2012

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