Arbeit, Familie, Vaterland

Frankreich Die Republik erlebt krisenhafte Erschütterungen. Selbst die Möglichkeit einer faschistischen Machtübernahme wird diskutiert. Ist alles nur Alarmismus?

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Kündigt das historische Ereignis der Gelben Westen eine Krise an? Hat der liberale Staat seine Totengräber erzeugt?
Kündigt das historische Ereignis der Gelben Westen eine Krise an? Hat der liberale Staat seine Totengräber erzeugt?

Foto: Geoffroy Van Der Hasselt/AFP/Getty Images

Am späten Abend des 23. April 2017 kann die Brasserie La Rotonde wieder einmal prominente Gäste begrüßen. Diesmal sind es keine Künstler, sondern Wahlkämpfer, die das edle Ambiente der 30er Jahre genießen. Emmanuel Macron hat eingeladen, per SMS. Der junge Mann hat mit 24 Prozent der Stimmen die Stichwahl erreicht, gegen die Kandidatin des Front national, die 21,3 Prozent verzeichnen kann, weniger als erwartet. Die vorzeitige Fête des Hoffnungsträgers kommt allerdings nicht überall gut an. Der Generalsekretär der Ecologistes twittert zum Beispiel:

Ziemlich unwürdig, in einer politischen Situation, in der die extreme Rechte für den zweiten Wahlgang qualifiziert ist.

Unwürdig? Vielleicht, aber auch verständlich. Jederman weiß, dass genau dieses Faktum ihm die Präsidentschaft sichert. Schließlich gilt (noch) das „Gesetz“ des elektoralen Antifaschismus: Wer gegen eine(n) Le Pen antreten muss, hat die Wahl schon gewonnen. Und tatsächlich erreicht Macron im zweiten Wahlgang fast spielerisch zwei Drittel der gültigen Wählerstimmen. Schließlich muss das noch größere Übel verhindert werden. Schon wieder.

Macron, so heißt es später, habe den Front national entzaubert und Marine Le Pen auf ihr reales Maß geschrumpft. Die Partei nennt sich jetzt Rassemblement national, und der spielt im Parlament eine sehr marginale Rolle. Die einstige Hoffnungsträgerin Marion Maréchal hat auf ihre Parteifunktionen (und bedeutungsschwanger auf den Zusatznamen Le Pen) verzichtet. Florian Philippot, der zweite Mann der Partei, hat eine eigene Splitterpartei gegründet. Mit Marine Le Pen ist wohl kein Staat mehr zu machen.

Der französische Soziologe Ugo Palheta warnt allerdings vor falschen Evidenzen. Die Beschränkung auf die Vogelscheuchen-Funktion des Front national im zweiten Wahlgang sei gefährlich. Sie verdeckt den gewaltigen Stimmenzuwachs des Front zwischen 2002 und 2017. Und er geht noch weiter: Ein zukünftiges faschistisches Frankreich ist durchaus möglich.

Die F-Frage

Das überrascht ein wenig. Der Begriff Faschismus scheint in letzter Zeit - zumindest in politikwissenschaftlichen Kontexten – obsolet geworden zu sein. Als Unterscheidungsinstrument bevorzugt man in Medien und Politik den Terminus „Populismus“, gerne auch in der totalitarismustheoretischen Variante, die es ermöglicht, rechtsextreme und linke Bewegungen in einen rot-braunen Sack zu stecken, schließlich kritisieren beide „unsere“ liberale Demokratie, die beste aller möglichen politischen Welten. Palheta fragt jedoch:

Aber welchen Sinn macht die Vermischung von Le Pen und Tsipras, von Trump und Sanders, von Grillo und Mélenchon, von Berlusconi und Corbyn...?

Ganz abgesehen von der tiefen uralten Volksverachtung, die das Konzept Populismus transportiert. Wissenschaftlich fragwürdig und politisch konfus, hat es zudem für die extreme Rechte den Vorteil, sich terminologisch aus der faschistischen Kontinuität schleichen zu können. Der Vorwurf des Populismus entlastet die extreme Rechte und belastet die Linke, die gerade im Kampf gegen den Faschismus Stärke präsentieren müsste.

Der Begriff Faschismus hält seinerseits nicht wenige Fallstricke bereit. Da ist vor allem die des Anachronismus. Kopieren die heutigen Faschisten ihre Vorbilder der dreißiger Jahre, machen sie sich lächerlich (obwohl einem das Lachen oft im Halse stecken bleibt). Eine ernste Gefahr werden sie jedoch als „funktionales Äquivalent“ (Robert Paxton). Ebenso lähmend ist andererseits die ubiquitäre Anwendung des Begriffs. Nicht der Neoliberalismus ist faschistisch. Es ist seine Praxis, die Faschisten produziert.

Palheta schlägt eine einfache „pragmatische“ Definition vor: Faschismus ist zu begreifen als Massenbewegung mit dem „Willen zur Macht“. Die Anhänger sind besessen von der Idee der Regenerierung einer imaginierten nationalen/völkischen Gemeinschaft. Sie sind fremdenfeindlich bis rassistisch und – letzten Endes – gewaltbereit. Dafür werden Milizen und – nach der Machtgewinnung – die repressiven Staatsapparate eingesetzt. Die faschistische Bewegung ist „multiklassistisch“, wobei ihre Kader eher aus den Mittelschichten stammen. Objektiv konterrevolutionär, sehen (oder geben) sich Faschisten als nationale Revolutionäre.

Allerdings erscheint der Faschismus nur in einer tiefen Krise der kapitalistischen Ordnung als Lösung, sowohl für die große Teile der herrschenden, als auch in den subalternen Klassen. Kündigt das historische Ereignis der Gelben Westen eine solche Krise an? Hat der liberale Staat seine Totengräber erzeugt?

Seit der neoliberalen Offensive in den achtziger Jahren haben sich die Klassenunterschiede schubweise verschärft, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Bevölkerung in den industrialisiserten Ländern verschlechtert. Die Sklerosierung der „linken Hand des Staates“ (Pierre Bourdieu), der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme, erschwert zunehmend die symbolische und materielle Integration der dominierten Klassen. Die historisch erkämpften Errungenschaften werden zu „Privilegien“ umgedeutet (und von nicht wenigen Prekarisierten so verstanden). Der französische Eisenbahnerstreik dieses Frühjahrs illustriert – neben der Schwäche der Gewerkschaften – die De-Solidarisierung in der Arbeiterklasse und die Fraktionierung der Bevölkerung.

Macron vollendet das Werk seiner Vorgänger. Charakteristisch ist die enge Verzahnung von Liberalismus und Autoritarismus. Wie sein Hollande greift Macron auf Verordnungen zurück. Er perpetuiert den temporär gedachten Ausnahmezustand im neuen Polizeigesetz, setzt martialische Repression gegen Demonstranten, Hausbesetzer und Migranten ein und verhindert auch disproportionale Hausduchsuchungen bei der politischen Opposition nicht. Seine lockeren „kleinen Sätze“ voller Klassenverachtung zeigen längst vergangen geglaubte Herrenattituden. Schon für die Kapitalisten des 19. Jahrhunderts gab es „gute“ Proletarier (die fleißigen Arbeiter) und „böse“ Proletarier (die streikenden Arbeiter, die „Nichtstuer“). Soziale Regression und Arroganz der Macht, die sich in reaktionärer Symbolpolitik manifestiert (Militärparaden, Inszenierungen in Versailles, kostspielige Einrichtung des Präsidentenpalais etc.) lassen seine von Beginn an dünne soziale Basis noch weiter schrumpfen.

Das historische Ereignis der Gelben Westen hat den durch die Benalla-Affäre geschwächten, im Keller der Umfragewerte frierenden Präsidenten kalt erwischt. Das sich als „Peuple“ konstituierende Frankreich „von unten“ figuriert nicht auf der Festplatte seiner Strategen, auch nicht der zahlreichen Experten (die es im nachhinhein wieder einmal geahnt haben wollen). Macron, der Meister des Bades in der ausgesuchten Menge, liefert angesichts der „Macron démission!“-Rufe das jämmerliche Bild des ängstlichen Zauderers im Elysée.

Das unerwartete Mouvement kann bisher nur mit viel Mühe eingezäunt werden. Der gesamte Repressionsapparat, die „rechte Hand des Staates“, wird eingesetzt und agiert mit einer lange nicht mehr erlebten Brutalität (päremptive Festnahmen, zahlreiche ernsthafte Verletzungen). Die bürgerlichen Medien, vor allem der Nachrichtensender BFMTV, stellen ihre Mittel zur Verfügung, malen in gelernter Routine das Gespenst des Bürgerkriegs und berichten verstärkt genüßlich-drohend über Verluste im Weihnachtsgeschäft und wegfallende Arbeitsplätze. Die Regierenden haben allerdings reale Angst. Für den Fall der Fälle steht am 8. Dezember sogar ein Hubschrauber vor dem Elyséepalast. Erinnerungen an die berühmte Flucht De Gaulles nach Baden-Baden werden wach.

Die unregierbare Gesellschaft

Das „Zuckerbrot“, das der Präsident endlich in seiner lang erwarteten Rede am 10. Dezember verspricht, wird schnell als Täuschungsmanöver durchschaut: die Gelben Westen wollen mittlerweile keine Brösel, sondern das Brot. Ein historisches Metonym. Schon die Große Revolution wurde durch einen heftigen „Mehlkrieg“ angekündigt. Nur dank des mit den Herrschenden verbündeten Winterwetters, ausgeklügelter effektiver Polizeistrategien und der kurzen Beschwörung der „Union sacrée“ nach dem Straßburger Attentat erreicht die Macronie die Weihnachtspause, mit Mühe und Not.

Mittlerweile wird fieberhaft an der Rückgewinnung der Hegemonie gearbeitet. Das gouvernementale Knowhow der Firma Macron (die eigentlich die Firma der Oligarchen ist) besteht in der Planung und Durchführung von (medialen) Charme-Offensiven. Wir werden in den nächsten Monaten also erleben, wie die Missionare der „République en marche“ dem Volk der Provinz aufs Maul schauen. Doktor Macron nennt dies „den lebendigen Puls des Landes fühlen“. Ein „grand débat national“ soll geführt werden, zuerst auf lokaler Ebene, und ab Januar 2019 für zwei Monate auf nationalem Niveau. Der Regierungssprecher Benjamin Griveaux zeigt die Richtung an:

Wir haben die Wahl getroffen, unsere repräsentative Demokratie durch bessere Assoziation der Bürger zu modernisieren.

Der arrogante Ton kann den Gelben Westen jedoch nicht gefallen.Zu deutlich ist die Absicht der Vereinnahmung durch Scheinpartizipation und Division. Eigentlich ist der „grand débat“ ein genialer Coup, um den Zorn der Gelben Westen in Wahlkampfargumente für die Macronie zu transformieren. Schließlich wird im Mai das Europaparlament gewählt, für den Präsidenten (und seine Förderer) eine Art Schicksalswahl. Doch sein Erfolg ist fraglich.

Zu bedenken ist jedoch, dass die Bewegung der Gelben Westen ein wirklich historisches Großereignis ist, mit seiner eigenen Dynamik. Wie nach dem Mai 68 ist nichts mehr wie vorher. Alles ist offen. Die Brosamen Macrons haben den Zorn der Gilets jaunes nicht besänftigt. Die trickigen Zugeständnisse präsidialer Schwäche haben sie vielmehr gestärkt. Die Demonstrationen der letzten Wochen waren für viele eine politische Schule. Die harte Repression hat sie eines besseren belehrt. Der ursprüngliche Widerstand gegen die Erhöhung der Dieselsteuer ist längst zum Kampf für ein besseres Leben in einer anderen, einer partizipativen Republik geworden. Wie von selbst ergab sich die allgemeine Forderung nach dem so genannten institutionalisierten Referendum der Staatsbürger (RIC).

Die Macronie, dieses „höchste Stadium der Postdemokratie“ (Chantal Mouffe), steht vor dem klassischen Dilemma: Es wäre die Aufgabe des Staates, den Kapitalismus vor seinen autodestruktiven Tendenzen zu schützen, indem er Maßnahmen seiner sozialverträglichen Regulierung garantiert. Diese schränken jedoch fatalerweise (aus Unternehmersicht) die ungehemmte Kapitalakkumulation ein. Nun haben die Oligarchen in Macron „investiert“, gerade damit er de-reguliert, also ihre Steuern noch weiter reduziert, den öffentlichen Dienst privatisiert und die Arbeitskräfte flexibilisiert. Wenn dieser der dem Volk als Massenbewegung „von unten“ nicht wirklich entgegenkommt (was er weder will noch vermag), könnte sich nach den Europawahlen tatsächlich eine Phase der Unregierbarkeit entwickeln. Der Regierung, legitimiert durch die Präsidentenwahl und eine übergroße parlamentarische Mehrheit, mittels eines „demokratischen Staatsstreichs“ (Alain Badiou) entstanden, steht die Legitimität der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, die den Präsidenten ablehnt. „Macron démission!“. (Ab-)Gewählt wird aber erst 2022. Dass Macron vorher abtritt, ist eher unwahrscheinlich.

Wenn man einer Ifop-Umfrage vom 7.-10. Dezember zu den Europawahlen vertrauen darf, kann der Rassemblement national Le Pens mit 24% der Stimmen rechnen, während die Macronisten (inkl. Modem) nur 18%, die Rechte 11%, die Ecologistes 8% und die France insoumise gerade einmal 9% erhielte. Dies trifft die Macronie schwer, obwohl es ihrer ursprünglichen Wahlstrategie entspricht, auf einen finalen Kampf zwischen „Progressisten“ (En marche, Modem) und „Populisten“ (Le Pen) zu setzen. Andererseits wertet diese übliche für die bourgeoisen Parteien so profitable Zuspitzung den Rassemblement diesmal gefährlich auf.

Es ist zu erwarten, dass es bis zum Ende der (wohl letzten) Amtszeit Macrons immer wieder zu gewalttätigen Demonstrationen kommen wird, und zwar nicht nur der Gilets jaunes. Die Regierung wird also ihren autoritären Weg nicht verlassen. Mit Bedacht werden den Polizisten relativ hohe Prämien(nach)gezahlt, nicht aber den Krankenschwestern, Altenpflegern, Lehrern. Neue Flash-Ball- und Gasgranatenwerfer sind schon bestellt. Mit Absicht dient der besonders Dank Macrons in seiner Weihnachtsansprache den Soldaten.

Sie verteidigen und beschützen uns. Sie sind da!

In seinem Stolz auf "unsere" Soldaten wird er allerdings von Marine Le Pen übertroffen. Für Macron gilt anscheinend die Maxime seines alten Meisters und Pinochetunterstützers Hayek: Der als Freiheit definierte Besitzindividualismus ist nicht verhandelbar, die politische Freiheit jedoch nur optionell. Im Ernstfall kann sie zumindest eingeschränkt werden.

Nun zeigen historische Beispiele, wie die Notverordnungspolitik Ende der Weimarer Republik, dass der Weg der faschistischen Machtübernahme mit Autoritarismus gepflastert ist. Wenn die autoritäre Ausnahme zur Regel wird, verselbständigen sich die repressiven Organe. Einen „starken Staat und eine gesunde Wirtschaft“ hat schon Carl Schmitt postuliert. In dieser Situation werden die Vertreter der „Ordnung“ zu Leitfiguren. Schon jetzt positioniert sich der ehemalige Sozialist und jetzige Innenminister Castener (eigentlich eine Notlösung) als „homme fort“. Ebenso der Premierminister Edouard Philippe („Ich kann einstecken und austeilen“). Die traditionelle Rechte schielt immer mehr in Richtung Rechtsextreme. Der sehr konservative Führer der Republikaner, Laurent Wauquiez, unterstützt zwar wie Marine Le Pen die Demonstrationen der Gelben Westen, nicht aber ihr scheinbar linkes ökonomisches und politisches Programm.

"Ein weißer Block unter bourgeoiser Herrschaft"?

Von der faschistischen Machtübernahme sind wir zwar noch entfernt, aber die Herausbildung eines – mit Gramsci gesprochen - „historischen Blocks“, genauer, eines „weißen Blocks unter bourgeoiser Herrschaft“ (Alheta) zeichnet sich als Möglichkeit ab. Im Mittelpunkt steht die „französische Identität“. Auch hier spielt der Neoliberalismus seine Rolle. Mit der Implosion der kommunistischen Partei und ihrer Alliierten (Gewerkschaften, Studentenverbände, Stadtverwaltungen) ist im ideologischen Feld die Dichotomie Chef/Arbeiter durch die Opposition Franzosen/Migranten ersetzt worden mit den korrolierenden Oppositionen Christen/Moslems, Modernität/finsteres Mittelalter u.ä. Auch hier haben die Vorgänger des Präsidenten ganze Arbeit geleistet. Natürlich geht Marine Le Pen viel weiter als diese:

Die Scharia wird unsere Verfassung ersetzen. Der radikale Islam wird an die Stelle unserer Gesetze treten, unsere Häuser werden zerstört, die Musik verboten verboten werden...

In der „Sophistizierung“ des Rassismus sind die Ideologen des alten Front national Meister. Einerseits wird er durch den differentialistischen Diskurs banalisiert, indem man angeblich die „Kultur des Anderen“ akzeptiert, allerdings nicht „bei uns“, andererseits erweitert man die Akzeptanz der Fremdenfeindlichkeit durch gezielte sprachliche Tabubrüche. Alle rechtsextremen Bewegungen und Parteien Europas beherrschen mittlerweile diese Methode. Alle geben sich „sozial“, sprechen für die „kleinen Leute von hier“, wettern gegen die „vaterlandslose Oligarchie“ und die „entwurzelten“ Migranten.

Die entscheidende Frage ist, ob der Rassemblement national zur faschistischen Massenbewegung werden kann. Immerhin ist seine Mitglieder- und Wählerschaft auch nach dem Debakel 2017 relativ stabil geblieben. Im Norden, Osten und Süd-Osten Frankreichs verankert, verstärkt er vor allem seine lokale Präsenz in Gebieten, die von den klassischen Parteien und Gewerkschaften rechts liegen gelassen wurden. Mittlerweile ist die Wahl des Front für viele zur keine Protestwahl mehr, sondern zur selbstverständlichen Tradition geworden. Nicht zu übersehen ist, dass Marine Le Pen im zweiten Wahlgang doppelt so viel Stimmen bekommen wie ihr Vater 2002. 52% der Arbeiter und 69% der Wähler „in schwieriger Situation“ stimmten für sie. Bezüglich der anderen sozialen Kategorien lässt sich kaum ein signifikanter Unterschied zu Macron erkennen, mit Ausnahme der „sehr Wohlhabenden“, die angesichts der zu erwartenden Profitraten (noch?) auf Macron setzten. So wie die großen Medien.

Die Gilets jaunes haben Bewegung in die starren Verhältnisse gebracht. Die Mehrheit der Westen, die sich prinzipiell als a-politisch und a-syndikalistisch bezeichnen, gehört sicherlich zu den politischen Abstentionisten, die aus Resignation nicht (mehr) wählen gingen. Ein anderer Teil wählt den RN, die Zahl der Linkswähler unter den Westen ist wohl geringer. Letzteres scheint ein Paradox, denn die Forderungen der Gilets Jaunes sind zum größten Teil mit den Programmen der linken Parteien vereinbar. Wie wirkt sich die Politisierung seit November aus? Im Moment, so die Umfragen, scheint der Front/Rassemblement etwas mehr Akzeptanz zu finden, der schon seit 2011 versucht, sich als antiliberalistische Partei des Volkes, „weder rechts noch links“ zu positionieren, was in den bürgerlichen Medien gern zur Gleichsetzung von „rechtem“ und „linkem“ Populismus führt. Man darf aber die Funktion der Ideologie nicht unterschätzen. Die Sozialwissenschaftler Michelat und Simon untersuchten die Korrelation von Angst vor Arbeitslosigkeit, Migrantenfeindlichkeit und Wahlverhalten bei Arbeitern. Das Ergebnis: Bei der Wahl des Front national ist tatsächlich die Fremdenfeindlichkeit entscheidend, nicht die ökonomische Angst vor der Arbeitslosigkeit.. Die alte Parole des Vichy-Regimes „Arbeit, Familie, Vaterland“ hat ihre Suggestionskraft noch immer nicht verloren. Dem korrupten System, der „Invasion“ von außen (EU, Immigration und „großer Austausch“, ausländisches Kapital), stellt der RN die Regeneration der Nation gegenüber. Ein ethno-nationalistisches Frankreich würde, so Marine Le Pen im letzten Wahlkampf, „das französische Volk befreien“. Und die Menschen von ihren sozialen und gewerkschaftlichen Rechten, was man nicht häufig genug betonen kann. Die Charta der Arbeit Pétains machte die Unternehmer zu absoluten Herren im Betrieb.

Falls es, wie hier befürchtet, in den nächsten Jahren wirklich zu einer Extremsituation kommt, stehen zahlreiche Konflikte bevor. Die Macronie wird sich inhaltlich nicht ändern, versuchen, mit einer Scheinpartizipation zu „spielen“, weiter auf die Verteilung von falschem „Zuckerbrot“, vor allem aber auf Repression setzen. Das aber lässt sie die letzte Akzeptanz verlieren. Die Linken werden kaum stärker werden, wenn sie sich nicht bündeln, und zusammen mit den Gewerkschaften und Studenten sowohl die Macronie als auch den RN attackieren. Dafür müssen sich jedoch nicht wenige endgültig von ihrer neoliberalen Geschichte trennen und zurück zur „sozialen Frage“ finden. Viele Gilets-jaunes-Sympathisanten werden den Abstentionismus verlassen. Sie müssen sich jedoch irgendwann entscheiden, so die Feststellung Chantal Mouffes: entweder für eine radikale Lösung der „soziale Frage“ oder für die Scheinlösung der „nationalen Frage“, gestellt von angeblich weder linken noch rechten Parteien, von denen die stärkste jedoch eindeutig faschistisch ist.

Der RN wird die „Stammfranzosen“ gegen die Immigranten zu hetzen suchen und dabei die strategischen Vorteile der Arbeitsteilung nutzen: während die Parteiführung als notables „Wahlschaufenster“ mit Aufrufen gegen die Gewalt der Chaoten und Terroristen die braven Bürger anlockt, treten auf der Straße Gruppen wie „Génération identaire“, „Bloc identitaire“, GUD (Groupe union défense) in Aktion, um für „Ordnung“ zu sorgen. Es gibt keine faschistsiche Partei ohne Milizen. Nicht unwichtig ist in diesem Kontext, dass der Anteil der RN-Sympathisanten unter den eigentlichen „Ordnungskräften“ überproportional ist.

Es entwickeln sich damit „ideale“ Bedingungen für eine demokratisch verbrämte Diktatur, der irgendwann auch der Rassemblement angehören könnte. Ein bekannter Prozess, dessen vorläufiges Resultat in Schmittscher Diktion „eine gelenkte Demokratie auf der Basis eines erfühlten „Volkswillens“, der auf ethnischer Homogenität und einem kategorialen und militarisierten Freund-Feind-Denken basiert“ (Samuel Salzborm) wäre. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was dies konkret bedeuten würde. Das endgültige Resultat wäre ein zeitgemäßer Faschismus. Sicherlich hat sich spätestens bis 2021 auch die Führerin gefunden, entweder als regenerierte Marine Le Pen oder als die jugendliche Hoffnung Marion Maréchal, die momentan versucht, an ihrer privaten Business-School eine junge Garde national denkender Cadres zu schulen. Maréchal könnte größere Teile der Konservativen (gerade auch Unternehmer) an den Rassemblement binden. Sie tritt wieder häufiger in die Öffentlichkeit, vor allem nach dem Auftauchen der Gilets jaunes, die sie – fast in der Sprache des einstigen Führers der Action française, Charles Maurras, - so anspricht:

Für die Gilets jaunes ist das Wesentliche an Weihnachten die Anwesenheit der Familie, als Gemeinschaft des Lebens und als Gemeinschaft des Überlebens... Es gibt keine Reichen und Arme mehr, keine Städter und Landbewohner, es gibt nur noch die natürliche Kompassion gegenüber jenen, mit denen wir eine gemeinsame Geschichte konstruieren (Valeurs actuelles).

Maréchal ist für ein breites Bündnis aller „echten“ Konservativen, vom RN bis zu den Republikanern, unter denen sie besonders den Jungstar

François-Xavier Bellamy aus Versailles hervorhebt. Damit wäre die klassische Situation gegeben: das Bündnis der rechten Konservativen mit den Faschisten, das erstmalig im Januar 2013 bei der riesigen „Manifestation pour tous“ die seine Massentauglichkeit manifestierte. Auch dort dominierten schon Rücktrittsforderungen: „Hollande démission!“ Der Führer der Republikaner, Laurent Wauquiez ist inhaltlich nicht weit von den Thesen Maréchals entfernt. Beim Dîner mit Houellebecq zeigt er sich von Maréchal fasziniert. Ebenso Dupont Aignan, Präsident der Bewegung „Debout la France“. Er besuchte gar medienwirksam die Hochschule Maréchals in Lyon. Es könnte sich also tatsächlich eine Mehrheit rechts bis sehr rechts von Macron entwickeln. Historisch sind solche Bündnisse fast immer zugunsten der Faschisten ausgegangen.

Das beschriebene Szenario ist nicht festgeschrieben. Natürlich bestehen noch andere Möglichkeiten. Kommt es wirklich noch zu einer Demission Macrons? Zaubern die Milliardäre wieder einen jungen unwiderstehlichen Kandidaten aus der Kiste der ENA-Absolventen? Vieles hängt von der politischen Entwicklung der Bevölkerung ab, die sich wiederum im Verhalten der Gilets jaunes spiegelt. Wird die Linke wirklich die Kraft aufbringen, die 1935/36 der Front populaire nach der großen schockierenden Demonstration der Faschisten 1934 bewies? Zweifel sind leider angebracht. Wie werden sich die bisher in den Medien tapfer beschwiegenen Banlieues in den absehbaren Konflikten erhalten? Wie agieren die Kommissare der EU?

Wie auch immer. Es scheint durchaus möglich, dass im April 2022 eine Le Pen nach dem ersten Wahlgang Anlass zum Feiern hat. Wäre es Marine Le Pen, so geschähe dies eventuell im Le Bidou, einem Resto mit echter pariser Bistroküche, im edlen Ambiente der dreißiger Jahre...

Grégoire Chamayou, La société ingouvernable. Paris 2018 (La fabrique)

Gérard Noiriel, Une histoire populaire de la France. Paris 2018 (Agone)

Ugo Palheta, La possibilité du fascisme. Paris 2018 (La découverte)

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