„Atempause“!

Neoliberalismus Die französische Philosophin Barbara Stiegler beschreibt die Mühen, die neoliberale Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern. But there's no alternative

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Erst der Streik, dann der Strand
Erst der Streik, dann der Strand

Foto: Loic Venance/AFP/Getty Images

In seiner Vorlesung zur Negativen Dialektik im Wintersemester 1965 setzt sich Adorno mit der elften Feuerbachthese auseinander. Angesichts der wahrlich komplizierten Beziehung von philosophischer Interpretation und notwendiger Veränderung der Welt entwickelt er die Idee einer „geschichtlichen Atempause“, der „moralischen Verpflichtung, nun wirklich nachzudenken“:

Die Welt ward sicher nicht nur aus geistigen Gründen nicht verändert, aber sie ward wahrscheinlich auch deswegen nicht geändert, weil sie zu wenig interpretiert worden ist.

Die in Bordeaux lehrende Philosophin Barbara Stiegler, als Nietzscheanerin eher auf Foucault denn auf Marx und die Kritische Theorie bezogen, geht über Adorno hinaus, der allerdings auch meinte, dass „Herrschaften mit gewissem Embonpoint“ nicht demonstrationstauglich seien:

Das Verändern der Welt impliziert das Eingehen eines persönlichen Risikos, die physische Konfrontation mit der Welt der Materie.

Stiegler ist nicht nur Philosophin, sondern auch eine überzeugte „Gelbweste“. Sie weiß, welches persönliche Risiko sie bei den Demonstrationen gegen den Liberalismus der Macron-Variante (und deren Polizei-Mutanten) eingeht. Sie weiß aber auch, dass dieser die Menschen vor die Wand führt.

Die Welt interpretieren: The Good Society?

Wir alle kennen das diffuse Gefühl, wieder einmal der Entwicklung hinterher zu laufen. Wir alle unterliegen dem permanenten Zwang zur Anpassung. Er gehört zur „Natur“ des Menschen. Seit der industriellen Revolution hat dieser Mechanismus jedoch eine ungeheure, oft auch körperliche Gewalt gegenüber den „Un-Angepassten“ angenommen, eine Gewalt, die von den „Anpassern“ und den „Angepassten“ oft mit Schulterzucken legitimiert wird: „Wer zu spät kommt, ...“. Stiegler spürt dieser Haltung am Beispiel einer zur Ideologie geronnenen Variante des Neoliberalismus nach. Warum und wie gerät der Terminus „Adaptation“, einer der Schlüsselbegriffe des Darwinismus, in die liberalistische Theorie? Ist der neue Liberalismus „darwinistischer“, als er vorgibt? Was sind die Konsequenzen dieser Ideologie, der Logik dieser Idee?

Der Einfluss des Publizisten Walter Lippmann zeigt sich exemplarisch im August 1938. In Paris treffen sich namhafte Vertreter des Liberalismus zum „Colloque Walter Lippmann“. Auf der Grundlage des im Jahr zuvor erschienenen Buches „The Good Society“ diskutieren Lippmann selbst, die Franzosen Rougier und Rueff, Hayek, von Mises und Vertreter des deutschen Ordoliberalismus über eine neue „Roadmap“ der "besten" aller Produktionsweisen. Warum wird gerade „The Good Society“ Grundlage des Neoliberalismus? Für den Organisator des „Colloque Lippmann“, den späteren Petainisten (und noch späteren Vordenker der Neuen Rechten) Louis Rougier, räumt das Buch mit einem obsolet gewordenen Mythos des klassischen Liberalismus auf:

Anstelle des „homo oeconomicus“, der seine Interessen in vollkommener Rationalität realisiert, muss die Wissenschaft den Menschen aus Fleisch und Blut wiederfinden, den Menschen mit Leidenschaften, mit begrenztem Geist, versehen mit einem Herdeninstinkt, mystischen Glaubens, ein Mensch, der niemals die Inzidenzen seiner Handlungen berechnen kann.

Mit „The Good Society“ reagiert Walter Lippmann auf das Scheitern des klassischen Liberalismus in der Großen Krise und seiner Ablösung durch „Totalitarismus“ (Kommunismus, Faschismus) und „Planismus“ (Roosevelt). In der Tradition Foucaults, der schon in den 1970ern den Ordoliberalismus zerbröselte, erstellt Barbara Stiegler die „Genealogie“ des Lippmannschen Neoliberalismus.

Dieser entwickelt sich mit einer gewissen Konsequenz. Vor dem ersten Weltkrieg setzt sich der junge „Fabian Socialist“ mit dem Herbert Spencer zugeschriebenen „Sozialdarwinismus“ auseinander. Für Spencer ist das finale Ziel der Zivilisation eine Arbeitsteilung im planetarischen Maßstab. Der Weg dorthin führt bedauerlicher-, aber notwendigerweise über die Selektion („Survival of the fittest“). Wer zu spät kommt... Ende des 19. Jahrhunderts überspitzen ideologische Vertreter von Big Business wirtschaftlichen Wettbewerb und biologisches Überleben zum Naturgesetz des „Struggle for life“. Angesichts der verheerenden Auswirkungen des industriellen Raubkapitalismus und einem tieferen Verständnis der Evolutionslehre lehnen die Pragmatisten (James, Dewey, Wallas) die Spencersche Reduktion ab und betonen die fortschrittliche Rolle von Erziehung und Kooperation. Auch Lippmann steht in dieser Tradition, doch stellt der Fabianer schon früh dem Jefferson-Traum kleiner demokratischer Einheiten den durch eine Elite (Regierung, Gewerkschaftsführer, Manager, Wissenschaftler) regulierten Großkapitalismus der „Great Society“ entgegen.

In „Public Opinion“ (1922) erfindet Lippmann den Neologismus „Stereotypen“ als Analyseinstrument der kognitiven Unfähigkeiten der (Massen-)Menschen. In der Evolution kommen wir permanent zu spät. In „Stasen“ verharrend, wie Stiegler nietzeanisch formuliert, verpassen wir den „Flux“ und gefährden den menschlichen Progress. Diese Erkenntnis führt Lippman zu einer radikalen Demokratiekritik. Bei der Aufhebung der prinzipiellen „Heterochronie“ (Stiegler) obliegt es den sozialwissenschaftlichen und psychologischen Experten, die Regierung bei der „Manufacture of consent“ zu beraten. Es gilt, der kindlichen, amorphen Masse der Bevölkerung den richtigen Kurs in die Zukunft einzuimpfen. Der einst sakrosankte Demos hat bei den Wahlen nur noch „Ja“ oder „Nein“ zu sagen. Damit unterscheidet sich 1922 die „Neo-Demokratie“ Lippmanns diametral von der Demokratiekonzeption des klassischen Liberalismus (Rationalität, Gedankenfreiheit, Schutz des Privatlebens), aber auch von liberal-demokratischen Philosophen John Dewey, dessen Dissens zu Lippmann Stiegler ausführlich analysiert.

Im folgenden Buch, „The Phantom Public“ (1925), muss Lippmann jedoch ein Scheitern konstatieren: Die Bevölkerung praktiziert massive Wahlabstinenz. Sie kann und mag dem ständigen Flux der „Great Society“ in den „roaring twenties“ nicht mehr folgen. Der „cultural lag“ wird immer größer. Während John Dewey eine neue partizipative Ordnung „von unten“ fordert, geleitet von „sozial organisierter, kooperativer Intelligenz“, lehnt Lippmann weiterhin die Demokratisierung ab: Der Mensch, so argumentiert er nun, ist nicht zuerst Staatsbürger, sondern z.B. Arbeiter, Konsument und Reproduzent der Gattung. Seine individuelle Wahl ist extrem beschränkt. Lippmann geht zurück zum Adam Smithschen „Laisser-faire“: Die Gesellschaft regiert sich durch den ökonomischen Kampf der Interessen selbst. Dazu bedarf es der Anpassung der menschlichen Gattung an den Bedarf der Industrie nötig. In heterochronischen Krisen – wenn die bornierten Massen wieder einmal nicht mitkommen oder eine Katastrophe herrscht – uss der Staat intervenieren, die „Rythmen re-synchronisieren“.

Durchaus konsequent nimmt Lippmann in der „Great Depression“ zunächst Positionen seines Freundes Keynes auf. Kurzzeitig unterstützt er Roosevelt, um aber schon 1935 den „Second New Deal“ zu kritisieren. Die Krise sei überwunden, nun gelte es erneut, die private Initiative dem „Planning“ vorzuziehen. 1937 stellt er mit „The Good Society“ die Glaubensartikel des Neoliberalismus vor:

Ich bin dein Herr dein Markt

1. Jede Form von Planung impliziert die Vorstellung eines (heilsgeschichtlichen) Wohlfahrtsstaates. Sozialismus und Kollektivismus erzeugen die Herrschaft einer bürokratischen Autorität.

2. Die menschliche Gattung besteht aus Individuen mit primär ökonomischen Interaktionen. Die Große Industrielle Revolution im 18. Jahrhundert hat die Basis für „the world wide division of labor“ gelegt und damit den sich selbst genügenden Ökonomien ein Ende gesetzt. Allerdings erfordert diese permanente Revolution die ständige „Adaptation“ an den weltweiten „Flux“. Der Kampf ums Überleben – Lippmann greift bewusst auf Spencer zurück - erfordert einen neuen Persönlichkeitstyp, den Lippmanns Gegner Dewey in seiner Kritik so beschreibt:

Wir erleben heute die Organisation von Mollusken-Menschen, innen weich, außen mit einer harten gezackten Schale versehen... Das Verhalten von Millionen Menschen wird von einem ökonomischen System bestimmt, ohne welches sie nicht existieren können. Die Zusammenarbeit der Menschen erinnert eher an eine Maschine als eine freie Kooperation.

Bei der Formung des notwendigen Menschentypus (einer Art stets bereiter „Ich-AG“) setzt Lippmann auf das Zusammenspiel von Markt und Egoismus:

Der Markt ist die einzig mögliche Methode, mit welcher die Arbeit in nützliche Arbeit synthetisiert werden kann...Er entspricht der Produktionsfähigkeit und dem Konsumtionsbegehren und kann nicht von oben organisiert und verwaltet werden. Er ist eine organische und keine fabrizierte Synthese... Jede Art, jedes Individuum behält vom allgemeinen Lebenstrieb nur einen gewissen Elan zurück, den er für sein Eigeninteresse verwendet: darin besteht die Anpassung. Art und Individuum denken nur an sich.

Die Fähigkeit des Marktes ist durch den technischen Fortschritt bewiesen.

Er ist von Natur experimentell, braucht „trial and error“ ... Die Laboratorien können nicht nach einem zentralen Plan Entdeckungen produzieren. Man kann eine zukünftige Technik weder vorhersagen oder organisieren, noch verwalten.

3. Der Wettbewerb produziert stets das „Optimum“. Allerdings hat die Große Krise der 30er die verheerenden Auswirkungen eines ungeheuren Marktversagens gezeigt. Lippmann wendet sich daher konsequent von den „metaphysischen" Prämissen des Laisser-faire“ ab. Seine Variante des Liberalismus ist evolutionistisch.

4. Die notwendige Anpassungder Menschen ist nur über Gesetze und Erziehung möglich. Der neue Liberalismus richtet sich nicht nur gegen die ökonomischen „Naturgesetze“ des klassischen Liberalismus, sondern auch gegen dessen Fiktion des nicht veränderbaren Naturrechts. Der Staat muss durch ständige Rechtsrevision die quasi petrifizierten „Stasen“ dem evolutionären „Flux“ anpassen. Am Beispiel der Verkehrsordnung (die Neoliberalisten lieben Transportmetaphern) bedeutet dies: Das „Laisser-faire“ passt in die Zeit der Kutschen. Der „Flux“ der Great Society ist jedoch ungeeignet für einfache vehikuläre Interaktionen, er benötigt eine komplexe Ordnung des Verkehrs, d.h. der Warenströme. Auf dem „Colloque Lippmann“ erklärt Rougier:

Liberal sein bedeutet essentiell progressiv sein, im Sinne einer ständigen Anpassung der legalen Ordnung an die wissenschaftlichen Entdeckungen, die organisatorischen Fortschritten, die gesellschaftlichen Veränderungen, die Erfordernisse des zeithistorischen Bewusstseins.

Für Lippmann ist dies die einzige Möglichkeit in der Evolution. Denn:

Heute können die Menschen die soziale Ordnung reformieren, indem sie die Gesetze ändern. Die Produktionsweise können sie jedoch nicht revolutionieren.

5. Die kapitalistische Produktionsweise mit ihrem Telos einer globalisierten Marktform ist nicht hinterfragbar und entzieht sich somit jeder demokratischen Entscheidung. Die gesellschaftliche Ordnung dient einem quasi transzendenten Ziel. Nationen, die sich diesem Ziel verweigern, werden erobert. Widerstand ist zwecklos:

Kein Teil der Erde kann sich der Gesellschaft des „Common Law“ verweigern. Am Ende wird jede Rebellion niedergeschlagen sein.

Aber die Revoluzzer seien getröstet:

Was der Kapitalismus als Ganzes brauchte, war Sicherheit und Gleichheit der Chancen für die Arbeitsteilung.

6. Lippmann postuliert das Ideal einer „freien Gesellschaft“ der Ungleichheit:

Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in welcher die Ungleichheit der menschlichen Lebensumstände, ihrer Verdienste und sozialen Positionen nicht von extrinsischen und artifiziellen Ursachen abhängen.

Die notwendige Ungleichheit soll „natürlich“ bedingt sein. Es geht um die Herstellung von „Chancengleichheit“. Für einen gerechten Wettkampf müssen die „Rules of the game“ bestimmt werden, aus denen „the more gifted“, also „the fittest“, und nicht „the fattest“ als Sieger hervorgehen. Stiegler stellt an dieser Stelle die These eines „neuen biopolitischen Zeitalters“ auf,

nicht mehr auf dem Vertrauen in die gute Menschennatur begründet, sondern durch die Feststellung einer radikalen Defizienz der Menschenart legitimiert, die mit evolutiver Trägheit („Inertie“) verbunden ist.

7. Der neue Liberalismus greift daher aktiv ins Leben der Menschen ein. Die Dispositive des Überwachens und Strafens werden re-aktiviert. Die defizitären Menschen werden durch Erziehungs-, Gesundheits- und Kulturpolitik auf den „richtigen“ Weg gebracht, was immense Steuertransfers implizieren kann (und Lippmann gar den Ruf eines „Linksliberalen“ einbrachte). Für Lippmann hat in der Tat neben der „Gleichheit der Chancen“ die Ressourcenbewahrung und -verbesserung Priorität.

Die Erde und der Untergrund, die Meere und die großen Straßen gehören zum Erbe der kommenden Generationen...Die neue Ökonomie könnte mit einer ausgeschöpften Erde keine Reichtümer mehr erzeugen. Auch für einen liberalen Staat ist die Bewahrung erste Pflicht.

8. Die Reformen im Erziehungsbereich zielen auf die Transformation der zunächst nicht-angepassten Menschen in ein Ensemble von flexiblen Individuen mit Fähigkeiten wie „Adaptibility“, „Employability“, „Kompetenzen“ etc. Gesundheitspolitisch schreibt sich Lippmann in den „Reform-Eugenismus“ der 30er Jahre ein. Damit das „Race“ für den Fortschritt wirklich fair ist, muss man gegen alle Formen von Behinderung kämpfen, ob biologisch oder sozial. Gezielte Sozialpolitik soll die Auswanderung der Massen verhindern, Mobilität ist den „leaders“ vorbehalten, die mit dem mobilen Kapital verbunden sind, jenem „scheuen Reh“ (K. Marx).

In ihrer Konklusion befragt Stiegler den Nutzen ihrer ziemlich gelehrig geratenen „Genealogie“. Der Rahmen ihrer Untersuchung lässt sicherlich viele Fragen unbeantwortet. Notwendig wären konkrete historische Kontextualisierungen und – vor allem – die Rezeptionsanalyse der unterschiedlichen Varianten des Neoliberalismus. Welche Rolle spielen die „secondhand dealers of ideas“, die Verhaltenswissenschaften, die businessschools und die Lehrpläne? Welche Ideen gehen in die „good gouvernance“ der unterschiedlichen Regierungen ein? Wie gelingt es, die doch offensichtlichen Klassendifferenzen und die Ideologie der „Chancengleichheit“ zu vekleistern? Wie gehen die Neoliberalen mit ihren zahlreichen ideologischen Widersprüchen um? Schließlich war Big Business schon auf dem „Colloque Lippmann“ ein Streitthema. Wie bringen die regierenden Neoliberalen ihre Ideologie mit ihren großindustriellen und finanzkapitalistischen „Auftraggebern“ zusammen? Ist die tägliche neoliberale Praxis nicht doch ziemlich weit von ihrer Theorie entfernt? Verklärt sie letzten Endes nicht den ziemlich ordinären Kapitalismus in seiner späten Phase?

Die (bedrohliche) Logik der Dogmen wird jedoch deutlich herausgearbeitet. Neoliberalismus ist mehr als eine (mittlerweile alte) ökonomische Ideologie. In der Form ähnelt er sogar dem teleologischen (Sowjet-)Kommunismus: Eine bürokratische, sich „progressiv“ verstehende Kaste („Avantgarde“) „erhebt“ die rückständige Massen durch das realistische Prinzip des Zwangs und der Manipulation ins zukünftige Paradies. Im neuen Liberalismus sind es die aus dem Wettbewerb als angeblich „Beste“ hervorgegangenen „Leaders“, die die nur in „Stereotypen“ denkenden, demokratie-unfähigen Massenmenschen zu flexiblen, anpassungsfähigen Entrepreneurs ihrer selbst im globalen Kapitalismus veredeln. Und auch hier garantiert das Heilsversprechen den ideologischen Erfolg. Mit Gläubigen diskutiert es sich schwer. Zugespitzt: Das neue „Amen“ nennt sich „TINA“.

Ein Verdienst der Untersuchung ist der Nachweis des Biologismus. Wie breit und selbstverständlich dieser durch geöffnete Tür schreitet, zeigt die unmittelbare Gegenwart. Offensichtlich beschreibt Stieglers Buch, was wir heute tagtäglich erleben (gerade in der Pandemie). Die Sprache des Neoliberalismus, seine „skills and patterns“, seine Ideologeme sind uns mittlerweile „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Was uns „aufhält“, was uns „weiterbringt“ (auf dem Weg ins Nichts?), lässt uns das „Recht auf Glück“ verzichten. Ja, Ein kleiner Erfolg im Job wird zum Glück. Alles andere „bringt bekanntlich nichts“. Man muss sich halt „anpassen“! „Progressisten“ sind liberal, die anderen sind „konservativ“ oder „populistisch“. Privat geht vor Staat, sagt der Staat und „veranstaltet“ (wie die Ordoliberalisten sagten) seine „Verschlankung“.

Die Welt verändern. Worauf es ankommt.

Anders als in den seligen Sartre-Zeiten ist es heute ungewöhnlich, dass eine Intellektuelle den radikalen Praxistest wagt. Barbara Stiegler nimmt ihren Platz an der Barrikade ein. Nach dem Interpretieren kommt es darauf an, die Welt zu verändern. Sie nimmt die Feuerbachthesen ernst.

Stiegler bekennt, dass ihr der Schritt aus dem Seminarraum auf die Straße nicht leicht gefallen ist. Bei früheren Demos hatte sie, wie viele andere „Privilegierte“, stets das Gefühl, den sozialen Kampf der Arbeiter nur zu mimen, als Protest zu spielen. Jetzt hilft der Zufall. Im Januar 2019 erscheint ihr „Il faut s'adapter“. Just zu diesem Zeitpunkt erlebt Frankreich die so genannte „Crise des gilets jaunes“. Die Gelbwesten verweigern sich obstinat der Anpassung ans angeblich Alternativlose und erschüttern tatsächlich das (selbst)sichere Regime Macron. Dessen Kapitän und Bordoffiziere versichern den besorgten Medien tapfer, „den Kurs zu halten“ („garder le cap“), zeigen aber alle Symptome einer Regierungspanik. Stiegler, die mit Nietzsche „die Krankheiten der Gegenwart gedacht hat, ohne sich direkt in ihr zu exponieren“, erkennt die Brisanz ihres Buches. Und sie zieht persönliche Konsequenzen. Noch im Dezember 2018 zieht sie eine gelbe Weste über, auf deren Rückenseite steht: „Besteuert die Reichen, und der Planet kühlt wieder ab.“ Von nun an demonstriert sie jeden Samstag als „Gelbweste“, in Paris oder in Bordeaux (wo der berüchtigte Präfekt Lallement die Repression leitet).

Natürlich fällt auch den Medien die Aktualität ihres Buches auf. Ein Online-Magazin bittet sie um eine Gegenwartskritik im Lichte ihrer Erkenntnisse. In „Le cap et la pédagogie“ (AOC, Jan. 2019) stellt sie die Gouvernance Macrons in die Lippmannsche Tradition. Das „Cap“ (der „Kurs“) verspricht das Heil:

Das Herz der neoliberalen Utopie ist der gerechte Wettkampf, der alle Individuen einschließt. Alle müssen an diesem Rennen teilnehmen... Über den „Kurs“ diskutiert man nicht. Es geht schließlich um unser Überleben im Kampf um die knappen Ressourcen.

Dies schreibend, denkt sie natürlich an die „Verlierer“ der allgemeinen Kompetition, die Gelbwesten zum Beispiel. Viele von ihnen leben in sozialpolitisch verwüsteten ländlichen oder peri-urbanen Zonen. Sie haben gegen den neuen „politischen Imperativ“ des „Man muss sich anpassen“ verstoßen und damit „ausgespielt“. Sie sind sogar resistent gegen die „Pädagogik“ der Regierenden, die die Menschen tatsächlich im altgriechischen Sinne wie Kinder führen will. Wenn gesagt wird: „Passt euren Lebensstil und euren Wohnort an oder verschwindet!“ - im Wissen, dass die erste Option unmöglich ist, sagt man das letztere. Im Nachhinein, so Stiegler, an den Evolutionismus des Neoliberalismus erinnernd, weiß man, dass das „Verschwinden“ nicht nur symbolisch gemeint war. Die Polizeigewalt sprach eine deutliche Sprache.

La Grève - nach dem Streik der Strand

Ende 2019 steht der „neoliberale Kapitän“wieder fest am Ruder. Die Panik ist besiegt. Seine „große Debatte“, die Medien und – vor allem – die brutale Repression haben die Gelbwesten geschwächt, auch wenn die Demos weitergehen. Die Macronie nimmt Kurs auf die Reform der Renten. Die Menschen sollen länger arbeiten und am Ende für ihre Restlebenszeit nach einem- natürlich - „gerechten“ Punktesystem verrentet werden. Stiegler selbst teilt mittlerweile die große Müdigkeit der Gelbwesten, fühlt sich aber vom Thema der „Re-traite“ (Rente, Ruhestand, Rück-Zug) zu einem neuen Aufsatz motiviert.

Die Retraite ist die letzte Zeit des Lebens, befreit vom Druck produktiver Arbeit und den beschleunigten Rhythmen des Negotium...Sie ist die Erfahrung einer anderen Zeit, eines anderen Rhythmus.

Für Stiegler ist die Verteidigung der Retraite Teil des Kampfes um das Hospital, die Forschung, die Universität, die Schule, die alle seit 40 Jahren dem Takt des Wettbewerbs unterworfen werden, dem einzigen Takt, den die Neoliberalen für „wertschöpfend“ halten, der Takt, der angeblich unser Überleben sichert (vom Übersterben spricht der Neoliberalismus nie). Die Errungenschaften des französischen Rentensystems (darunter so genannte „Privilegien“ von Eisenbahnern und Müllwerkern), diese „Archaismen“, hemmen wieder einmal den ökonomischen „Flux“. Verträumt beschreibt der knallharte Ökonom Nicolas Bousou sein Ideal:

Träumen wir von einer Welt, in der die Arbeiter, ob angestellt oder nicht, nicht in Rente gehen wollen, einer Welt, in der jeder bis zum Tod arbeiten möchte, denn es ist die Arbeit, die den Tod vertagt.

Wird es angesichts dieser Zumutungen, so Stiegler, nicht Zeit, den „Kurs“ in Richtung Strand („grève“, auch „Streik“) zu verlassen? Eine Zeit lang glaubt die Philosophin fest an die große soziale Bewegung (der Gelbwesten, der Arbeiter, der Gesundheitsarbeiter, der Lehrer, der Studenten, der Rentner). Sie selbst militiert an ihrer Uni, nimmt an Generalversammlungen teil, streikt, demonstriert, demonstriert noch einmal, streikt wieder einmal, usw. usw. Doch der Gegner ist allgegenwärtig. Er bestimmt die „Agenda“. An allen Streikenden nagt der Zweifel. Irgendwie wirkt die neoliberale Konditionierung: alle leiden unter den Zumutungen, alle haben dieselben „objektiven“ Interessen, aber jeder ist isoliert, unfähig zur kollektiven Mobilisierung. Unser Leben ist „neoliberalisiert“. Wir sind jene von Dewey beschriebenen „Mollusken-Menschen“. Zwar wird Stiegler von einigen (alternativen) Medien eingeladen, und sie wirkt überzeugend. Aber was kann Aufklärung angesichts medialer Fluten (um im Meeresbild zu bleiben)? Die Unmündigkeit ist nicht (nur) selbstverschuldet.

Es bezeichnet die Situation, dass Stiegler am Ende ihres Praxisbericht die Feuerbachthesen reflektiert. „Der Erzieher selbst muss erzogen werden.“ Nur im demokratischen Prozess (den die Gelbwesten forderten) kann die fatale Lippmannsche Trennung von „Experten“ und „Massen“ aufgehoben werden. Wie verdammt schwierig das ist, zeigt Stiegler an einer Episode. Im Januar 2019, während der Rentenproteste, erlebt sie in einer Generalversammlung an ihrer Uni einen „Krieg der Generationen“. Sie wird hart angegriffen:

Wer glaubt ihr Professoren eigentlich zu sein? Heute Abend eilt ihr zum Sprechpult. Jetzt, da eure Renten und Statuten in Gefahr sind, kommt ihr in großer Zahl, und nehmt mit großer Eloquenz eure professoralen Posen ein. Wo wart ihr denn, als wir gegen die Prekarisierung kämpften?

Stieglers Antwortversuch:

Aber ich habe heute doch im Radio davon gesprochen! Dass unsere Studenten im Auto schlafen müssen!

wird brüsk abgebürstet:

Schweigen Sie bitte! Sie haben sich nicht in die Rednerliste eingetragen!

Die Philosophin konstatiert:

Hier ist jeder gleich. 2 Minuten für jeden, in der Reihenfolge des Eintrags. Kein Applaus. Kein Begeistern. Kein Bonus für Bekanntheit. Niemand hebt die Stimme, denn laut zu sprechen heißt zu herrschen... Aber wo kommen diese Regeln her? Hat man sie diskutiert? Ich verspüre die unwiderstehliche Lust zu gehen.

Kurz und bitter konstatiert sie

ein atomistisches Chaos, regiert von den Regeln des Wohlwollens, der Gleichheit und der Symmetrie..., eine falsche universelle Gerechtigkeit.

Und ein Teil der von ihr analysierten Welt des Neoliberalismus. Stiegler muss erkennen, dass ihrer Studenten (trotz ihrer eigenen Vorlesungen) andere Interessen haben. Noch am Morgen hatten ihr neoliberale Diskussionsgegner im Radio entgegengehalten, dass ihre Reformen passgenau den Gelegenheitsjobs und künftigen „zerhackten“ Karrieren ihrer Studenten entsprechen würden. Sie erinnert sich an die Neujahrsansprache Macrons, der seine rhetorische Frage, ob man angesichts der Proteste auf die Reform verzichten solle, gleich selbst beantwortete:

Nein, denn das hieße, die zu verlassen, die das System schon verlassen hat, das hieße, unsere Kinder zu verlassen, und deren Kinder.

Der soziale Kampf wird in einen Generationskonflikt transformiert. Stiegler lernt aus der Praxis:

Zwischen dem „Lider máximo“ oder dem charismatischen Führer, der seine Anhänger zur Revolution treibt und diesen „horizontalen“ Generalversammlungen ... muss es andere Wege geben, auf denen sich Herrschaftskonflikte, das Tragische der Erziehung und die Wieder-Erfindung der Demokratie vermischen können.

Aber, so möchte man fragen, was ist denn dieses (gesellschaftliche) Sein, welches das Bewusstsein ihrer Studenten (und das ihre) bestimmt? Sind die Studierenden nur noch durch Fragen der „Identität“ und der „Intersektionalität“ zu mobilisieren? Sind die Gelbwesten, die weniger zu verlieren haben, dafür aber mehr zu gewinnen, nicht fortgeschrittener, selbst wenn sie weniger „fortschrittlich“ denken? Zumindest, so Stiegler, kämpfen sie im Hier und Jetzt gegen den Gegner. Aber der Neoliberalismus ist in uns, in unserem Bezug zur Arbeit, zur Erziehung, zur Gesundheit. Mit Nietzsche: Auch wenn Gott tot ist, bleibt er uns lange als Schatten erhalten.

Stiegler setzt ihre kritische Arbeit natürlich fort, plant ein Seminar über Dewey, den demokratischen Gegenpart Lippmanns. Und selbstverständlich plädiert sie weiter für den Streik, so klein er auch sei, als „Grève“ („Streik“, aber auch „Strand“): Den „Kurs“(le cap) verlassen (dem Kapitän nicht mehr gehorchen), an Land gehen, am Strand mit Blick auf das offene Meer innehalten, um kollektiv zu überlegen, wie wir unserem Leben einen Sinn und eine soziale Legitimität geben können. Also doch: Interpretieren und Verändern. Man könnte mit Adorno (der es etwas anders meinte) von einer (lebensnotwendigen) „Atempause“ sprechen. Aber es hat Gründe, dass man zu diesen schönen Bildern greifen muss.

Und dann kam die Pandemie. diese große biopolitische Prüfung.

Barbara Stiegler, "Il faut s'adapter". Sur un nouvel impératif politique. Paris 2019 (Gallimard)

dies., Le cap et la pédagogie, AOC, 24.1.2019

dies., Pour le néolibéralisme, la retraite est un archaisme", AOC, 10.1.2019

dies., Du cap aux grèves. Récit d'une mobilisation. Paris 2020 (Verdier)

dies., De la démocratie en pandémie. Paris 2021 (Gallimard)

Christoph Butterwegge u.a., Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007 (VS)

Serge Halimi, Le grand bond en arrière. Paris 2004 (Fayard)

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