Den Berg hinauf - Erasmus Schöfers "Winterdämmerung"

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Es gibt Schnäppchen, die tun so richtig weh. Für Fünf Euro will der Büchermonopolist des Ortes mir das Werk schenken, das bei seinem Erscheinen vor zwei Jahren das Fünffache kostete. Nun wird er verramscht, der vierte Band von Erasmus Schöfers Tetralogie "Die Kinder des Sisyphos" mit dem schönen Titel "Winterdämmerung". Fünf Euro für ein opus magnum - wie kann das sein?

Das kann wohl nur sein, wenn, wie man so nett sagt, sich "kein Schwein" für das Buch interessiert oder ökonomisch formuliert, wenn es "marktuntauglich" ist. Letzteres wäre nicht unbedingt schlimm, in diesem Fall ist es gleich mehrfach fatal: für den Autor, der seine Lebenskraft investiert hat, für den Leser, dem sehr viel entgeht und für die Gesellschaft, in der so etwas sein kann. Der mittlerweile neunundsiebzigjährige Erasmus Schöfer, der als Mitbegründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt" wie kein anderer Theorie und Praxis der Literatur der Arbeiterklasse verkörpert, hat auf Halde produziert. Das kennen wir nur zu gut in unserer Region.

Um es vorweg zu nehmen. "Winterdämmerung" ist ein großes Buch. Und wie jedes große Buch bietet es mehrere Leseweisen an. Man kann zeit- und ideologieschichtlich unter anderem das Scheitern der kommunistischen Partei, die es bekanntlich in der BRD gab (und wohl noch gibt) nachvollziehen, man kann motivanalytisch vorgehen (Sisyphos, Oidipos), man kann es einfach (?) als Roman persönlicher Krisen und Liebesgeschichten lesen. Es lässt nicht unberührt, weil es die eigene Geschichte beschreibt. Man freut sich, und man ärgert sich. Wie es sein muss.

Schöfer setzt in diesem Band die Lebensgeschichte seiner Protagonisten in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts fort. Interessanterweise musste ich - und das zeigt die Klasse des Autors - während der Lektüre öfters an den Fabrice del Dongo in Stendhals Chartreuse de Parme denken, der glaubt, sein Schicksal bestimmen zu können, dabei aber von realen historischen Mächten gelenkt wird, was Stendhal in der grotesken Waterlooszene zuspitzt. Fabrice stolpert ohne jeden Durchblick durch die Kriegsszenerie. Stolpern wollen die Schöferschen Protagonisten gerade nicht - und doch tun sie's, und wie!

Da ist Viktor Bliss, (orthodox-)marxistischer Intellektueller und Schmerzensmann des Romans. Verbrannt an Körper und Seele, igelt er sich in seinen Depressionen ein, während seine von ihm getrennt lebende Lebensgefährtin, die Schauspielerin Lena eine (kleine) Karriere mit der Rezitation von Maxie Wandertexten schafft. Bliss leidet darunter, ohne es zu verbalisieren. Die Unterdrückung der Frau wird schließlich nicht mehr als sekundärer Widerspruch gesehen. Man(n) ist für die Emanzipation - selbst der eigenen Frau.

Da sind der zu Unrecht gekündigte Duisburger Betriebsrat Manfred Anklam, einziger Freund Viktors, der Gewerkschaftsfunktionär Hannes Sonnefeld und - neben Bliss die zweite Hauptfigur - der DZ (UZ? DVZ?)-Redakteur Armin Kolenda. Diese Akteure lässt Schöfer die Großereignisse der achtziger Jahre "erleben" - und uns Zeitzeugen nacherleben und nachdenken. K olenda zum Beispiel gerät - so wie Fabrice del Dongo in Waterloo - in den Kampf um die Startbahn West und wird von der Polizei arg verprügelt. Schöfer zeigt Schriftsteller wie Horst Karasek und Peter Härtling als politisch eingreifende Autoren, umgibt sie aber mit einer Aura des Intellektuellen ohne Furcht und Tadel, zeigt sie quasi als Übermenschen. Das mag die Wahrnehmung vieler Linker in den Achtziger Jahren gewesen sein. Mir fehlt an diesen Stellen, von denen es einige gibt, die ironische Distanz (und sei sie milde).

Buchstäblich großen Raum nehmen die Friedensdemonstrationen 1981 und 1982 ein. Die DZ-Redakteurin erlebt das berühmte Bochumer Friedenskonzert mit gemischten Gefühlen (wie ich damals auch): Anna Schaffner hatte heftige Abneigung, Nabucco. Wunschkonzert, diesem schwülstigen Operngesang aus der patetischen Mottenkiste des letzten Jahrhunderts etwas Zukunftgerichtetes abzuhören. Es war in der Tat schlimm. Ich erinnere an die von einem gewissen Lerryn gemanagten Bots. Sprechgesang: "Alle Menschen, die besseres Leben wollen, sollen aufstehen!" Und Zehntausende standen auf. Das tun sie heute bei Schalke auch. Es ist schon so, dass Schöfer die dunklen Seiten der Friedensbewegung ausspart. Wolfgang Pohrt schrieb damals - auch angesichts des Antiamerikanismus vieler Friedensbewegten ("Ob Sonne ob Reagen - kalten Kriegern die Pest!" sang, besser schrie damals Beuys) von einer sehr deutschen "Heimat-, Heimatkunst-, Heimatschutz- und Volksliedbewegung".

Verschlungen habe ich den langen Abschnitt über das literarische Event der Zeit, der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, dessen dritter Band 1981 erschien. Ausführlich beschreibt Schöfer dessen Rezeption in einem der vielen Aneignungskreise - "Aneignung" war einer der meist gebrauchten Begriffe der orthodoxen Linken. Er stellt wieder idealtypisch dar, wie Arbeiterfunktionäre und linke Lehrer der achtziger Jahre über die Qualität und die Lehren (auch so ein Begriff) der Ästhetik redeten. Heute fällt mir daran auf, wie proletkultig die Sprache war: lange, joviale Funktionärsreden, bewusste Malochersprache, lächelnd-freundliche Anrede mit Vornamen, dabei manchmal die Zähne zeigend, am Ende Prost.

Einer der Teilnehmer des Peter-Weiss-Kreises ist der Gewerkschafts-Kulturfunktionäre Hannes Sonnefeld, der zu merkwürdigen Aggressionen neigt und schließlich erst die Tochter seiner neuen Geliebten, dann sich selbst tötet. Fast alle Genossen wenden sich vom Toten und seiner Geliebten, die trotz alledem zu ihm hält, ab. Die Solidarität stößt an Grenzen. Darüber gerät Kolenda in eine persönliche und politische Krise.

Letztere wiederum durchleidet Bliss, die Hiobsgestalt, permanent. Nach der Trennung von seiner Frau. kehrt er auch seiner politischen Heimat den Rücken. Er ist es leid, sich an die schorfige Brust der Partei zu werfen. Er hält eine letzte Rede, schweissnass, zitternd: Denken wünscht ihr stramm in geschienter Doktrin, vorbei an frischer Erfahrung statt Zweifelsliebe Kritik Forschung! Sein Abschied wird schweigend quittiert.

Schöfer lässt Bliss mehrere "Auferstehungen" angedeihen, die von den wenigen Rezensenten gelobt werden, mir als bescheidenem Zeitzeugen (den ich nicht abschalten kann) aber eher schwächer (nicht schwach) vorkommen. So trifft er auf einer therapeutischen Promenade mit Hund einen alten Herrn, der sich als Horst Eberhard Richter entpuppt. Und dieser richtet ihn mit Sätzen auf wie Denken Sie nur an Rudi Dutschke, wie er nach Bachmanns Schüssen gekämpft hat, seine Sprache, seine soziale Kompetenz wieder zu erlangen. Das ist mir heute wie damals unerträglich, passt aber (leider) in den Psychokitsch der Zeit. Man übte wieder Gemeinschaft. Pohrt sprach süffisant von der "neuen deutschen Klebrigkeit". Ein anderes Beispiel: Kolendas Geliebte (eine von drei) spricht: C'est possible, Armin. Und ich bin dir sehr dankbar, dass du mir diese Lebensfreude wieder gegeben hast. - Wir haben sie zusammen entdeckt, Madelaine, entgegnet er. Ich war auch einsam. Manchmal schämt man sich doch, in dieser Zeit gelebt zu haben.

Ähnlich auch die zweite Auferstehung des Viktor Bliss, die diesmal bei einer Lesung des Zukunftsforschers Robert Jungk geschieht. Der sagt in in einer Diskussion: Junge Menschen glauben oft, ein Misserfolg sei das Ende. Er ist aber nur eine Etappe auf dem Weg. Auf dem Weg - ein für die Protagonisten treffender Ausdruck. Und so geht Bliss "seinen Weg" weiter. Schöfer schickt ihm seine energische Tochter aus Amerika - beide besuchen eine Landkommune und verlassen sie voller Hoffnung auf ein mögliches besseres Leben. Eine Besichtigung der Duisburger Hütte lässt Bliss' Tochter schockartig die Fragwürdigkeit der industriellen Produktionsweise erkennen. Und dafür kämpfen die Hüttenarbeiter?! Der ökologische Turn wird hegemonial.

Ich weiß nicht, wie viele Aspekte ich ausgelassen habe, es sind viele in diesem großen Werk. Es endet 1989. Die Revolutionshoffnungen sind gescheitert. Und doch weht sie wieder, die rote Fahne, allerdings aus einer alkoholbedingten Silvesterlaune heraus auf die Hütte gepflanzt. Schöfer lässt die Hauptakteure das Jahr 1990 gemeinsam erwarten. 10 Jahre sind vergangen. Kolenda hat seinen Job bei der DZ verloren, hat aber eine neue Frau mit Gehalt, Anklam und dessen neue Gattin erwarten Nachwuchs, den sie taufen lassen wollen. Anklam ist sogar SPD-Mitglied geworden - wegen Lafontaine, wie er sagt. Bliss ist darüber erzürnt, aber nur kurzfristig.

Schöfer lässt unterschiedliche Interpretationen zu: Sind sie also angekommen in der Wirklichkeit? Sind sie "regierungsfähig", würde man heute fragen. Sind sie des Scheiterns müde, also keine "glücklichen Menschen", wie der Sisyphos Albert Camus'? Der Leser möchte wissen, wie's weiter geht. Wie es mit uns weiter geht.

Erasmus Schöfer, Winterdämmerung, Berlin 2008 (Dittrich Verlag)

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