Der befrackte General und Erfinder des Marxismus - Friedrich Engels

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Gibt es eigentlich eine Geographie von Buchtiteln?

So heißt eine neue Engelsbiographie im Vereinigten Königreich "The Froak-Coated Communist", in den USA "Marx' General" und in unseren Landen "Der Mann, der den Marxismus erfand" (1). Damit sind natürlich die entsprechenden Bilder des Revolutionärs verbunden: Engels als Bourgeois, als Stratege und als Vereinfacher der Marxschen Ideen, und damit verantwortlich für deren verhängnisvolle Praxis.

Der Autor der Biographie ist der bekannte Historiker und Labour-Politiker Tristram Hunt (Jahrgang 1974), vom Verlag etwas reißerisch als "Shooting Star der britischen Historikerzunft" angepriesen. Jedenfalls ist das Buch elegant geschrieben, gut recherchiert und hervorragend übersetzt.

Friedrich Engels wird heutzutage eher beschwiegen. Während auf der politischen Ideenbörse Marx' Aktionen zyklisch steigen und fallen, laufen die Papiere des Barmeners Gefahr, zum Staub der Geschichte zu zerbröseln. Dabei ist gerade die Widersprüchlichkeit dieses bürgerlichen Revolutionärs des 19. Jahrhunderts auch heute noch interessant.

Hunt spricht von einem "regelrechten Doppelleben": tagsüber als Dr. Jekyll, der angesehene Baumwollkaufmann, und nachts Mr. Hyde, der revolutionäre Sozialist. Engels hätte die Namen wohl eher umgekehrt zugeordnet, aber die Spannung zwischen den Sozialfiguren muss kaum auszuhalten gewesen sein. Engels hasste seine bürgerliche "Zwangsarbeit", doch war es 1849 seine bewusste Entscheidung gewesen, zur Freude seines Freundes Marx (und seines Vaters), ins Textilbusiness einzusteigen. Nur durch diese "Scheissarbeit" konnte er den von permanenter Verelendung bedrohten kränkelnden Marx und dessen Familie über Wasser halten. Um die "Sache" ging es, den großen Wurf zu ermöglichen, "Das Kapital".

Natürlich ist die revolutionäre Seite Engels' die interessante. Hunt stellt deren Genese schlüssig in ihrem historischen Kontext dar. 1820 in eine pietistische Textilfabrikantenfamilie im engen Wuppertal geboren, entwickelte sich der junge Friedrich Engels schnell vom romantischen Patrioten zum Freigeist. Zur Ausbildung nach Bremen geschickt und damit der stickigen Atmosphäre der Heimat entrückt, stürzte er sich regelrecht ins erotische und politische Leben. Eine (sehr frühe) Fotographie aus dem Jahre 1840 zeigt ihn im typischen Habitus des "Epatez-les-bourgois!".

Hunt zeichnet recht akribisch die intellektuelle (Lese-)Biographie Engels' nach: Börne, Heine, Hegel, Feuerbach - und Shelley:

Nature rejects the monarch, not the man;

The subject, not the citizen (Queen Mab, 1812)

Unter dem Pseudonym "Oswald" veröffentlichte er - von Hunt hoch bewertete - Sozialreportagen. Der einjährige Militärdienst in Berlin brachte ihn neben den mundfrechen, aber tatfaulen Kleinbürgern und noch unterentwickelten Proletariern in Kontakt mit radikalen Hegelschülern. die eine nicht mit den Verhältnissen einverstandene Lesart des Meisters entwickelten. Er dichtet über eine Begegnung:

Wer jagt hinterdrein mit wildem Ungestüm?

Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.

Ohne Zweifel war die anschließende Tätigkeit bei Ermen und Engels in Manchester prägend. Manchester war "Schock-City". Engels erlebte anschaulich die "Lage der arbeitenden Klasse" und schrieb darüber, wie der Spezialist für Stadtgeschichte Hunt bewudnernd vermerkt, "ein Meisterwerk": Mit erstaunlicher geistiger Reife wandte der 24-Jährige den junghegelianischen Begriff der Entfremdung auf die materielle Wirklichkeit an. Auf der Rückfahrt nach Barmen traf Engels in Paris den "schwarzen Kerl aus Trier".

Hunt zeichnet die bekannte Entwicklung ihrer symbiotischen Freundschaft nach, die sich schließlich Kommunistischen Manifest manifestierte, dessen historische Aussagen zumeistt von Engels stammen. Er erschien kurz vor der Revolution von 1848, dem Praxistest. Ziemlich ausführlich analysiert der Autor das politische Verhalten der beiden. Ihrer Doktrin gemäß propagierten sie in der von Marx geführten "Neuen Rheinischen Zeitung" als erste Etappe eine bürgerliche Demokratie, sehr zum Missfallen der ungeduldigen "wahren Sozialisten", die à la francaise Arbeiterkooperationen forderten. Ihnen sei nicht ernst mit der Befreiung der Unterdrückten, wurde ihnen vorgeworfen. Selbst die Frankfurter Nationalversammlung wurde von Marx und Engels verteidigt, auch wenn deren Agieren nur, wie Engels formulierte, "parlamentarischer Kretinismus" war.

Die ersehnte Wende war eine, "an der Europa sich nicht wendete"(Taylor). Die Reaktion siegte. Engels floh durch Frankreich in die Schweiz. Durchaus vergnügt übrigens. Hunt zitiert aus seinem Reisetagebuch. Da werden Weine hinsichtlich ihrer Rauscheffekte bewertet, da bekundet Engels seine Vorliege für die reingewaschenen, glattgekämmten, schlankgewachsenen Burgunderinnen.

Doch trieb es ihn auch zur - aussichtslosen - Tat. In Elberfeld betrieb er den Barrikadenbau, ersetzte (eigentlich gegen seine Geschichtsauffassung) die schwarzrotgoldene durch die rote Fahne - und wurde von seinen aufgeschreckten Mitbürgern der Stadt verwiesen. Er kämpfte dann in Baden die letzten revolutionären Kämpfe gegen das preußische Militär.

Nach der Praxis die Theorie. Marx vergrub sich in London in seine Studien. Engels schickte sich schließlich in das oben berichtete Unvermeidliche und stieg beim Marktführer Ermen und Engels ein, als Ausbeuter und Revolutionär. Er nahm begeistert an Fuchsjagden und Salons teil, und er konspirierte gegen die Herrschenden. Er setzte "faule Kerls" auf die Straße, und er agitierte gegen die Hirerer und Firerer. Er klagte, dass er nach 6 Monaten keine Gelegenheit mehr gefunden (habe), mein anerkanntes Genie im Komponieren eines Hummersalates anzuwenden, und er schrieb voller Empathie über die Misere der Proletarier.

Und er unterstützte sein Alter Ego, wo und wie er nur konnte. Nach Erscheinen des "Kapitals", dessen Fertigstellung er kritisch begleitete, schrieb er zahlreiche unterschiedliche Rezensionen für unterschiedliche Blätter. Das Doppelleben musste psychophysische Folgen haben. Sein Drüsenfieber verbesserte sich interessanterweise mit einer Wirtschaftskrise: Die Kerle ärgern sich schwarz über meine plötzlich sonderbar gehobene Laune. Zumindest bei Engels gab es einen Zusammmenhang von Gesundheit und Revolution. 1869 konnte Engels seinen Vertrag auflösen. Er wurde von seinem Partner Ermen ausgezahlt, gegen eine Summe, die Hunt auf heutige 1,2 Millionen Pfund beziffert. Hurra! Heute ist's mit dem doux commerce am Ende, und ich bin ein freier Mann.

Ein freier Mann des 19. Jahrhunderts natürlich - kein Heiliger. Selbst rassistische Äußerungen sind belegbar - zu Hauf. Engels glaubte zum Beispiel, dass Westeuropäer ziviliserter sind als Slawen, Afrikaner, Araber. Lassalle nannte er einen "jüdischen Nigger". Andererseits kämpfte er ab den 1870er Jahren vehementgegen den aufkommenden Antisemitismus.

Nach dem Tode Marx' wurde Engels - wie Hunt etwas grobianisch schreibt - Marx' Bulldogge: Er schützte das Vermächtnis seines Freundes mit allen Mitteln. Er entwickelte sich zur kaum hinterfragten Autorität in Sachen Klassenkampf. Hunt wendet sich entschieden gegen den Vorwurf der "Verkehrung" Marxens. Die mechanistischen Revisionen des 2o.Jjahrhunderts seien nicht Engels zuzuschreiben. Der "Anti-Dühring" etwa habe Marx' volle Zustimmung erhalten. Für Hunt sind auch die Editionen des 2. und 3. Bandes des "Kapital" eine lesbare Variante der Marxschen Manuskripte.

Und natürlich können die späten Engelschen Werkes nur den Stand des späten 19. Jahrhunderts spiegeln. Man lese (noch einmal) den "Ursprung der Familie" (1884).Dieser fortschrittliche Standpunkt hinderte den privat liberten Patriarchen nicht, die Suffragetten zu kritisieren: Die englischen Vorkämpferinnen des formellen Rechts der Frauen sich ebenso gründlich von den kapitalisten ausbeuten zu lassen wie die Männer, sind großenteils direkt oder indirekt bei der kapitalistischen Ausbeutung beider Geschlechter interessiert.

Hunt zitiert die berühmte Einsicht von 1891: unsere Partei und die Arbeiterklasse (kann) nur zur Herrschaft kommen unter der Form der demokratischen Republik. Jetzt konnte er sich sogar vorstellen (die Wahlrergebnisse suggerierten dies), dass durch pure Wahrscheinlichkeitsrechnung nach mathematischen Gesetzen die Sozialisten die politische Macht gewinnen würden. Alles andere als ein Bolschewik avant la lettre. Alles andere aber auch als ein Reformist. Ich würde gerne einen Kommentar Engels zum Aufstieg der Piraten lesen.

Hunt ist ein dialektisch denkender Historiker. Zu Beginn und am Ende berichtet er von der Stadt Engels an der Wolga, zeichnet deren bedrückendes Schicksal nach, ihre aktuelle Verlendung. Und natürlich stellt er die Frage nach der historischen Verantwortung von Friedrich Engels. Nein und abermals Nein, urteilt Hunt. Engels wurde von Plechanow, dieser von Lenin verflacht, der von Stalin reduziert.. Dessen "Aneignung" machte den Marxismus zum Dogma. Engels "bescheidene Vorsicht und Offenheit" ging verloren. Engels selber, so Hunt, war leidenschaftlicher Verfechter der Individualität.

Die Biographie zeigt einen Mann mit seinen Widersprüchen in einer Zeit voller Widersprüche. Und sie endet mit einem Vergleich: Hunt lässt einer Passage aus der "Lage der arbeitenden Klasse" von 1845 den bericht eines heutigen chinesischen Wanderarbeiters über seine Arbeitsbedingungen folgen. Knapper Kommentar: Die Ironie an dieser ungezügelten Ausbeutung ist, dass sie von der Kommunistischen Partei Chinas gebilligt wird. Engels ist aktueller, als viele denken.

(1) Tristram Hunt, Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Propyläen. Berlin 2012 (engl. 2009)

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