Es ist leider nicht zu übersehen. Der Front National ist als Sammlungsbewegung ziemlich erfolgreich. Das Rassemblement Bleu Marine zum Beispiel vereint zahlreiche rechte und rechtsextreme Gruppierungen. Dazu gehört der SIEL (Souveraineté Indépendance et Liberté), und dieser konnte am 22. November einen Coup verkünden:
Bisher war er einer der großen Inspiratoren der politischen Aktion. Künftig wird er ein zentraler Akteur sein.
Die Rede ist von Renaud Camus, dem in Deutschland wenig bekannten Philosophen und Juristen, Autor zahlreicher feingeistiger Artikel und Bücher. Der 1946 Geborene kannte sie alle noch persönlich, die Barthes, Aragon und Robbe-Grillet, und natürlich stand er in den siebziger Jahren auf der Seite der Linken. Camus wurde jedoch, wie so viele seiner Generation, immer konservativer. 1992 zog er sich auf sein Schloss im französischen Südwesten zurück, schrieb unter anderem Reiseführer über sein „Pays“. Er gefiel sich sichtbar in der Rolle des schwulen Dandy und glitt immer mehr in den Rechtsextremismus ab. Im Jahr 2000 verzichtete France Culture auf seine Mitarbeit, wegen antisemitischer Äußerungen. Auch sein Verleger wandte sich ab. 2010 wurde Camus gar wegen rassistischer Formulierungen angezeigt und letztendlich zu einer Geldstrafe verurteilt. „Je suis un paria“, verkündete er in der Pose Célines.
Camus gründete elitäre Kleinstparteien, 2002 den Parti de l'In-nocence und 2010 den Parti du NON, deren aussichtsloser Präsidentschaftskandidat er wurde. Er rief 2012 zur Wahl Marine Le Pens auf. Camus ist auch Mitglied der rechtsidentitären Riposte laique. Er versuchte vor kurzem sogar, in Frankreich eine Art Pegida zu implantieren, ohne Erfolg. Pegida heißt in Frankreich nun einmal Front National. Und jetzt dieser weitere Schritt in Richtung desselben Front National.
Der recht gut vernetzte Renaud Camus gilt als der Schöpfer der „Théorie du Grand Remplacement“ (der Große Austausch), ein in zahlreichen Varianten wiederholtes ziemlich simples Konzept. Durch die massive Immigration, so die "Theorie", sei es zu einem allgemeinen Austausch der Menschen, Völker, Tiere und Sachen gekommen. Die Ersetzung der traditionellen französischen (oder europäischen) Bevölkerung (meistens sagt er „Volk“) durch die Einwanderer sei gleichbedeutend mit Ent-Kulturierung oder auch Ent-Zivilisierung. Dies ist natürlich der Diskurs der Rechten und Rechtsextremen, andererseits haben nicht wenige Aussagen Camus' eine linke Anmutung, die aber abrupt auf dem Stammtisch der Rechten endet:
Und es ist dieser ersetzbare Mensch, der von der Industrie des Vergessens und der Verblödung am Fließband produziert wird. Dies geschieht in Parallelität und Komplizenschaft zweier Branchen, der waren-spektakulären Verdummungsökonomie einerseits und der Drogenwirtschaft andererseits, wobei es nicht unwesentlich ist, dass dieser Handel mehrheitlich in den Händen unserer einfühlsamen Ersetzer ist (Rede von Orange).
Camus spricht als Intellektueller (Ein Volk, das seine Klassiker kennt, lässt sich nicht so einfach in den Mülleimer der Geschichte werfen) und als Demagoge (Europa wird von Afrika kolonisiert). Aufgrund der zahlreichen kritischen, manchmal auch aggressiven Einwände gegen seine Thesen kann er sich als Märtyrer darstellen:
„Jeder Antikommunist ist ein Hund“, so eine berühmte Formel. Jeder Anti-Antirassist ist ein Pitbull, ein Schlimmer-als-Hund, ein Weniger-als-Hund, eine Hyäne, eine Larve, ein Ungeheuer nicht von dieser Welt... Der Antirassismus ist unkritisierbar geworden..., eine Ideologie, ein Dogma, eine Macht, ein Herrschaftsinstrument, eine Industrie (Le communisme au 21e siècle, 2006).
In einem Interview mit Breizh-Info aus diesem Jahr stellt er zufrieden fest, dass der Begriff "Großer Austausch“ sich in die politische Debatte eingeschrieben hat und dass die Auswechslung des Volkes und der Zivilisation gegenwärtig im Diskurs angenommen ist. Und natürlich sieht er sich durch die massive Einwanderung der Gegenwart bestätigt.
Interessant wird die Reaktion der führenden Köpfe des Front National sein. Marine Le Pen selbst hat sich noch vor einem Jahr von der „Theorie“ Camus' distanziert. Sie teile nicht dessen „komplottistische Vision“. Camus seinerseits lehnt ihre eher „linken“ Wirtschaftsideen ab. Anders ist das Verhältnis zum neuen Star des FN, Marines Nichte Marion Maréchal-Le Pen. Die erzkatholische Parlamentsabgeordnete des Vaucluse (fast 35 Prozent der Wählerstimmen) und „wahre politische Erbin Jean-Marie Le Pens“ kämpft gegen das staatlich finanzierte „soziale Assistanat“, was Camus' Elitismus entgegenkommt. Im Unterschied zu ihrer Tante stimmt sie der „Theorie des Großen Austausches“ zu. Beide sympathisieren zudem mit den Identitären.
Camus wird wohl den alten rassistischen Flügel des FN, der im Süden fischt, intellektuell auffrischen, während Marine Le Pen weiterhin vor allem im industriell und sozial verwüsteten Norden und Osten auf Stimmenfang gehen wird. Manchmal können wir froh sein, dass die Rechtsextremen der BRD nicht ganz so helle sind. Die österreichischen Identitären sind begeistert. Das Camus'sche "Remplacement" übersetzen sie mit "Umvolkung".
Kommentare 10
Manchmal können wir froh sein, dass die Rechtsextremen der BRD nicht ganz so helle sind.
Wir wissen nicht genau, wie helle die BRD-Rechtsextremen sind. Insbesondere dann, wenn sie einen intellektuellen Hintergrund wie etwa Alexander Gauland (AfD) haben. Dessen Förderer, der ehemalige Bundesminister Walter Wallmann (CDU), nannte ihn "außergewöhnlich gebildet". Die hellen Rechten können ihre Haltung in fein ziselierter Art unters (bürgerliche) Volk bringen, und zwar so, dass der Kern der Botschaft nicht sofort ersichtlich wird. So kann man durchaus hineinrutschen in diese Gedankenwelt.
Regiert wird heute mit Kampagnen unter Zuhilfenahme der Massenmedien, die z.B. gerne vermeintlich wissenschaftlich unumkehrbare Weisheiten kommunizieren, die mit bestellten Gutachten "bewiesen" wurden. Etwa solche, die behaupten, demographische Entwicklungen über die kommenden 50 Jahre voraussagen zu können und just damit politische Konsequenzen in der Jetztzeit fordern, etwa die Privatisierung der Altersvorsorge.
Um mit dem Letzten anzufangen: die wirtschaftlichen Weisen à la Raffelhüschen und Sinn haben dabei nicht wenig von ihrem wissenschaftlichen Kapital verspielt. Dank Albrecht Müller und Wolfgang Lieb hat sich diese Kampagne etwas verlaufen, aber sie kann jederzeit wieder auf die Schienen gebracht werden. Dass Albrecht Müller momentan sein politisches Kapital verspielt, verstehe ich nicht (vielleicht bin ich diesbezüglich auch zu "dogmatisch", es wird sich zeigen).
Gauland ist sicher ein sehr gebildeter Mensch, aber nicht einem Renaud Camus gleichzusetzen. Der spricht halt diese Klasse der französischen Intellektuellen an (oder widert sie an), die es bei uns so nicht gibt. Camus war ziemlich enger Vertrauter eines Roland Barthes, ist ein Freund von Finkielkraut und hat mit seinem Habitus eines ach so verfolgten Céline sicherlich Einfluss auf junge Intellektuelle. Er gibt den respektablen Rechtsideologen der Dreyfusaffäre oder der Dreißiger Jahre.
Unsere Elsässer und Co. wirken da doch sehr pausbacken und aufdringlich.
Dank für den Beitrag über einen Schlossherrn, der eine bestimmte Politik "intellektuell auf[zu]frischen" hilft.
Eins irritierte mich: Wenn nur der Nachname erwähnt wurde, musste ich zwanghaft den Vornamen mitdenken, um nicht in falsches Fahrwasser zu geraten, auch wenn Albert ja schon 1960 verstarb.
Ja, was hätte ein Albert C. zur gegenwärtigen Regierung Frankreichs gesagt? Vielleicht Ähnliches wie 1947:
Absolute Gerechtigkeit ist so unmöglich wie ewiger Hass und ewige Liebe. Darum müssen wir zur Vernunft zurück. Die Zeit der Apokalypse ist vorbei. Wir sind jetzt in der Zeit der mediokren Organisation und der kleinen Anpassungen ohne historische Größe. Und sei es aus Weisheit, sei es aus Streben nach Glück, man muss genau dieses vorziehen, auch wenn man weiß, dass eben diese Mediokrität zur Apokalypse zurückführen kann.
Diese "raisonnable Vernunft" (statt der "rasonnierenden V.") hinderte ihn nicht, gegen die Repression der Algerier und Madagassen zu protestieren, und auch gegen die von den Befreiungsbewegungen begangenen Grausamkeiten, was ihn neben vielem anderen von Sartre unterschied.
Man sollte den Regierenden statt dem 1oo. Gipfel ein Camusseminar aufdrücken. Albert Camus, wohlgemerkt. Den Renaud praktizieren ja schon einige.
Artikel dieser Art und Klasse würde ich hier gern öfter lesen.
Diese kenntnistiefe Analyse erinnert dankenswerterweise an die gern verdunkelte sozial-ökonomische DNA jeder rechtsrandigen politischen Gruppierung, einen a-sozialen, besitzbürgerlich-aristokratischen Elitismus. Einige sozialstaatliche Rattenfänger-Slogans Marine Le Pens und die teilweise solide Verwurzelung des FN in einstigen Arbeitermilieus dienen der bürgerlichen „Mitte“ der Sarkozisten gern als Beleg für die Rechts=Links=Legende und das liberalistische Märchen, sozialer Egalitarismus führe unweigerlich zu antidemokratischen Diktaturen, wenn nicht zu Schlimmerem („Nie wieder Sozialstaat - Nie wieder Auschwitz“, so das Konzentrat der historischen Lehren nach Götz Aly). Dieser Beitrag regt dazu an, einmal genauer in die intellektuellen und doktrinalen Katakomben der Alten und neuen Rechten nicht nur Frankreichs, sondern überhaupt der abendländischen „Weißen Welt“ inkl. Deutschlands hinabzusteigen und ans Tageslicht zu fördern. Da würden erstaunliche Verwandtschaften im Geiste ans Licht kommen. Danke an wwalkie für diesen Beitrag.
Danke für den Kommentar.
...in die intellektuellen und doktrinalen Katakomben der Alten und neuen Rechten nicht nur Frankreichs, sondern überhaupt der abendländischen „Weißen Welt“ inkl. Deutschlands hinabzusteigen,
ist ein treffendes Bild. Die neue Rechte folgt der alten, die fühlt sich dadurch aufgefrischt - und wir können nicht mehr tun als immerfort zu warnen. Und die links etikettierte Regierung in Frankreich findet bei den vielen Gedenkfeiern oft - allerdings immer weniger - die richtigen Worte, um sie aber "realpolitisch" zu dementieren.
Der Front National is amused.
Auch von mir allerbesten Dank für den Beitrag
Noch eine kleine Nachbemerkung.
Die "Theorie des Austausches" wird natürlich im gegenwärtigen Regionalwahlkampf permanent aktualisiert. Bei ihrem letzten Auftritt hat Marion Maréchal Le Pen geradezu redundant auf die "christlichen Wurzeln" Frankreichs verwiesen. Nous ne sommes pas une terre d'islam, und der habe sowieso nicht den Rang der katholischen Religion.
Vorher hatte der Bürgermeister von Béziers (vormals Mitbegründer von Journalistes sans frontières!) den Einheizer gespielt:
Marion Le Pen an die Spitze der Region zu tragen, heißt Nein zu sagen zum gigantischen Bevölkerungsaustausch, den man uns aufbürdet.
Und:
Ich will unser Frankreich wiederfinden, das Frankreich von Ludwig XIV., von Napoleon und das, wenn der Innenminister es mir erlaubt, von Karl Martell.
Karl der Hammer tobt im Wahlkampf. Man fasst es kaum. Der dezente Hinweis auf angebliche Zensur darf natürlich nicht fehlen.
Beim Lesen von Paul Simons Rezension von "Der Selbstmord Europas" aus der Edelschmierfeder eines Douglas Murray fiel mir Ihr Beitrag über Renaud Camus wieder ein. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2018-04/der-selbstmord-europas-douglas-murray-einwanderungskritik-liberal-rechts/komplettansicht