Der ewige Kapitalismus - die beste Welt des Wolfgang Pohrt

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Wer schreibt solche Sätze?

1. Klar, es ist bitter für die Frau, einen Mann nehmen zu müssen, den sie nicht will. Das kommt aber auch ohne Zwangsheirat vor.

Ein in die Enge getriebener Islamist?

2.Franco starb mit 83 Jahren. Ich hätte ihm gerne weitere zwanzig Jahre gegönnt.

Ein ewiggestriger Faschist?

3. Gut, dass Hitler die SU angegriffen hat.

Ein Nazi?

4. Warum haben die Nazis 1938 (!) den Krieg angefangen? Weil sie mit ihrem Latein am Ende waren.

Ein Ignorant ohne jede historische Bildung?

Solche Sätze schreibt ein- und derselbe Autor, dem man bisher eine ganze Menge zugetraut hat, aber nicht solche Sätze. Und er baut in seinem neuen Buch noch ganz andere, üblere.

Nein, Broder kann es nicht sein. Der "Brother in provocation" ist kein geringerer als Wolfgang Pohrt und galt vor 20 Jahren noch als einer der (wenigen) originellen Köpfe der linken Publizistik. Geschult an Horkheimer/Adorno, scharfsinniger Interpret der "Grundrisse", Literaturkenner und eloquenter Diskutant. Pohrt dachte über "Liebe und Geld bei Balzac" nach und erkannte früh in den Postachtundsechzigern sehr deutsche Kontinuitäten (ein kluger Aly avant la lettre). Noch 1997 unterzog er in "Brothers in Crime" unsere Gesellschaft einer Analyse im Sinne Horkheimers. Diagnose: Die Gesellschaft löst sich auf, sie wird ersetzt durch das "Racket".

Und nun dies.

Nie habe ich so viele Fragezeichen an den Rand eines Buches gesetzt.Wäre der Autor ein anderer, hätte ich gar nicht weitergelesen. Und plötzlich bemerkte ich, dass ich "Idiot!" neben einen Pohrtschen Satz schreiben wollte. Ich hielt inne. Vielleicht war doch alles nur eine Satire, eine der zweiten Ordnung, die man nicht sofort als solche erkennt. Also neues Lesen - mit der Erkenntnis: Nein, er meint, was er schreibt.

In Voltaires philosophischem Roman "Candide" argumentiert Doktor Pangloss im Sinne einer Vulgär-Theodizee:

Es ist erwiesen, dass die Dinge gar nicht anders sein können. Denn, da alles für einen Zweck gemacht ist, ist alles notwendig für einen Zweck gemacht. Beachten Sie die Nasen. Sie sind gemacht, um eine Brille zu tragen. Also haben wir eine Brille ... Wir leben in der besten aller möglichen Welten.

Pohrt gibt sich als Vertreter der Kapitalo-Dizee. Er beweist: Alle Wege führen zum Kapitalismus. Denn: Auf dieser Welt kann man nichts Gutes tun, ohne dass es zum Gedeihen des Kapitalismus beiträgt. Das gilt natürlich auch für das Schlechte. Nun scheint es wirklich oft so, als sei der Kapitalismus das letzte Stadium der Menschheit. Welche Belege bringt Pohrt? Voilà:

- Revolutionen machen alles schlimmer. Die Französische Revolution hat den Nationalismus und die allgemeine Wehrpflicht gebracht. Und die hat die Gemetzel der beiden Weltkriege verursacht. Kriege aber sind wie "Jungbrunnen": Nach dem zweiten Weltkrieg kam in Deutschland das Wirtschaftswunder. Ein anderes Beispiel: Im Libanonkrieg ... stiegen die Aktien der internationalen Baukonzerne.

- Der "Ostblock" (so schreibt Pohrt mittlerweile): Um einen konkurrenzfähigen Kapitalismus zu entwickeln, haben China und Russland mehr als 50 Jahre Stalinismus bzw. Maoismus gebraucht.

- Das Kapital kennt keine Katastrophen, nur die Menschen. Je mehr Katastrophe, desto besser für das Kapital.

Ergo - Pohrt zitiert hier Merryl Streep: Es gibt keine Alternative zum Kapitalismus.

'All dies ist notwendig,' sagte Doktor Pangloss. 'Das Unglück der Einzelnen bedeutet das Glück des Ganzen, so dass mit steigendem Unglück der Einzelnen das Ganze immer besser wird.' Während er so räsonnierte, verdunkelte sich der Himmel, Winde aus allen Himmelrichtungen erhoben sich, das Schiff wurde von einem schrecklichen Sturm erschüttert - kurz vor dem Hafen von Lissabon.

Als Kapitalorthodoxerbraucht Pohrt Feinde. Er hat sie schon lange im Visier(nicht immer zu Unrecht übrigens): die "Weltuntergangssekte" der "verzweifelten Marxisten". Allerdings werde ich schnell zum "verzweifelten" Leser bei folgenden Widerlegungen:

- Wir leben in einer - na, was wohl? - "Dienstleistungsgesellschaft".

- Die Marxisten wollen den Menschen nur Angst machen, um sie auf die Barrikaden zu treiben, zumindest aber zur Wahl der Linken zu verleiten.

- Übrigens glaubt ihnen keiner mehr.

- Schon Marx wusste, dass der Kapitalismus unbezwingbar ist.

- Die Marxisten übersehen, dass wir nun mal von Sammlern und Jägern abstammen (Pohrt stimmt hier mit meinem Physiotherapeuten überein). Man gehe mal am Samstag in den Supermarkt.

Pohrt merkt, dass diese Argumente nicht ganz hinreichen, um den alten Marx und seine "Sekte" zu widerlegen. Da muss der Malthus her:

Der Kapitalismus (ist) nur das Derivat von übermächtigen Populationsgesetzen. Folgerichtig spricht der Autor dann von den Karnickeln in Australien ("keine Fressfeinde"). Womit wir bei der Pohrtschen Variante des Populationsgesetzes angekommen sind: eine bestimmte Bevölkerungsdichte produziert Kapitalismus.

In diesem Sinne ist es natürlich gut, dass die "Arbeitnehmer" realpolitisch den "verzweifelten Marxisten" nicht auf den Leim gehen. Wie schon der von 1848 schockierte Unternehmer Friedrich Harkort die "Arbeiterklasse" (pardon "Arbeiterschicht", pardon "gesellschaftliche Minderheit) in wackere "Arbeitsmänner" und gefährliche "Proletarier" einteilte, so unterscheidet Pohrt zwischen "Proletariern" (sagt zum Kapital, verschwinde!) und zum Beispiel "Opelanern" (Bitte, geh nicht fort!)

Am Ende seines Büchleins resümiert der Autor: Im Kapitalismus gibt es nur einen Gewinner, nämlich das Kapital. Die Verlierer sind immer die Menschen ... Dagegen kann man nichts machen. "Das ist gut so" erspart er sich - und uns. Klingt da nicht noch ein bisschen Empathie mit (von ganz fern?)

Am Ende des "Candide" lesen wir:

Manchmal sagte Pangloss zu Candide: 'Alle Ereignisse sind in der besten aller möglichen Welten verkettet' ...'Das ist wohl gesagt', antwortete Candide, aber wir müssen unseren Garten kultivieren.

In diesem Kultivieren steckt alles. Will Pohrt den Garten wirklich sich selbst überlassen? Vielleicht pflanzt er ja doch noch ein Apfelbäumchen.

Wolfgang Pohrt, Kapitalismus Forever. Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam, Berlin 2012 (Edition Tiamat)

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