Der Kaiser neue Uniformen

Schlafwandler? Christopher Clarks Darstellung der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist ein Bestseller. Liegt es daran, dass er sehr alte Thesen in sehr alter Form aufwärmt?

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Die Zukunft wird lehren, wie weit man kommt mit Ranken und Ränken (Heinrich Heine)

Eine alte Geschichte

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e6/Wilhelm_II_Franz_Josef.jpg

Eines Abends, im Juni, saß der König an einem Fenster des Schlosses, den Blick auf die am Wasser auf und abgehenden Lustwandelnden gerichtet, als er unter diesen eines alten Bekannten, des kaiserlichen Generals Grafen Seckendorf. ansichtig wurde. Er winkte ihm, bat ihm einzutreten, neben ihm niederzusitzen.

On the afternoon of Sunday 28 June, the Kaiser was off the north sea coast of Germany, preparing to race his yacht Meteor in the Kiel regatta. The motor lunch Hulda came alongside blowing his horn, and Admiral Müller, chief of the Emperor's naval cabinet, shouted the news of the assassination across the water.

Fast zweihundert Jahre liegen zwischen dem Berichteten: die erste königliche Hoheit ist Friedrich Wilhelm I., die zweite sein etwas bizarrer Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel Wilhelm II, mittlerweile sind die Hohenzollern zu Kaisern promoviert. Fast die gleiche Zeit liegt zwischen den Berichtenden, demaltkonservativenpreußischen Großmeister der Geschichtsschreibung Leopold von Ranke und dem Historiker des Preußentums und bekannten Cambridge-Professor Christopher Clark. Und doch erstaunt die strukturelle Ähnlichkeit der zitierten Passagen.

Clarks breit angelegtes Werk zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist (nicht nur) in den deutschen Medien gefeiert worden: das Buch sei "eine Wucht"(SZ), es weise "neue Perspektiven" (Welt), "glänzend geschrieben", urteilt der Deutschlandfunk, und die FR entdeckt zustimmend eine "umfangreiche Neuinterpretation". Nur wenige Rezensenten wagen eine konträre Position (Freitag, ZEIT, Junge Welt), So ist es nicht erstaunlich, dass das Buch zahlreiche Käufer findet, wenn auch wohl angesichts des Volumens nicht ganz so viele Leser. Es sei denn, die Bundeszentrale für politische Bildung hält es für geschichtspädagogisch wertvoll. Wir werden sehen.

Allerdings lässt schon das obige Zitat vermuten, dass die Perspektive so neu nicht ist. Der Autor definiert seine Sichtweise so:

This book is less concerned with why the war happened than with how ist came about.

Das "Wie" verlange

to look closely at the sequences of interactions that produced certain outcomes.

Damit ist er natürlich auf die "Decision - Makers" fokussiert und deren berühmten "Hineinschliddern". Und dies bedeutet weitestgehendes Absehen von solch "banalen" Ursachen wie Nationalismus, Imperialismus, Kapitalismus.

Auch Ranke wollte bekanntlich

nur zeigen, wie es eigentlich gewesen ist.

Auch Ranke sah sich dem Ziel der Unparteilichkeit verpflichtet, die darin bestehe,

dass man die agierenden Mächte in ihrer Stellung anerkennt und die einer jeden eigentümlichen Beziehungen würdigt. Man sieht sie in ihrem besonderen Sein erscheinen, einander gegenübertreten und miteinander ringen.

Dass Ranke in der preußischen Monarchie eine geschichtlich legitimierte und darum zu bejahende Ordnung sah, dass er sich bemühte, bei aller methodischen Unparteilichkeit das "Positive" hervorzuheben, ist bekannt. Wie aber positioniert sich nun Christopher Clark, wie ist "es" seiner Ansicht nach "eigentlich gewesen"?

Eine alte Erzählung

Beim "Schliddern in den Weltkrieg" sind Clark zufolge, bestimmte Protagonisten besonders aggressiv. Man hat beim kritischen Lesen zuweilen den Eindruck, in Shakespeares ruhelose Welt versetzt zu sein. Da gibt es den primären Schurken , in diesem Fall Serbien. Ausführlich beschreibt Clark die bestialische Ermordung des serbischen Königspaares 1903, das Attentat von Sarajewo quasi vorwegnehmend. Die "Königsmörder" (übrigens seit der Französischen Revolution ein Topos der Konservativen) beeinflussen die Regierung, sie bauen ihre Netzwerke im Balkan aus. Geheimer Dienst und "Suicide assassins" als Politik mit anderen Mitteln. Und natürlich ist nicht nur der finstere Geheimdienstchef über das geplante Attentat auf Franz Ferdinand informiert. Vermutungen, so der Historiker Volker Ullrich in der ZEIT, aber wichtig für das folgende Szenario. Das Attentat selbst gibt wiederum Anlass für einen akribischen Bericht (das "Wie") - bis zu den letzten Worten des von des mörderischen Gavrilo Princips Schüssen getroffenen Thronfolgers zu seiner Sophie. Und dann:

The plumed helmet, with the green ostrich feathers, slipped from his head. Wenn Harrach asked him if he was in pain, the archduke repeated several times in a whisper: 'It's nothing!' and then lost consciousness.

Es folgt die Julikrise, an deren Ende die Katastrophe steht. Österreich-Ungarn ist unter Schock, verlangt von Serbien Aufklärung, doch dieses, so Clark,

instead of meeting the Austrians halfway,... fell back on customary postures and attitudes: the Serbs themselves were the victims in this affair, both in Bosnia-Herzegovina and now after Sarajewo.

Was tun? Österreich-Ungarn konsultiert den großen Bruder Deutschland (dem in "Nibelungentreue" Verbundenen,worauf Clark nicht eingeht). Dieser gibt am 6. Juli den berühmten Blankoscheck. Clark zufolge rechnen sie zu der Zeit nicht mit einem Eingreifen des anderen Schurkenstaates: Russland. Clark zitiert eine berühmte Stelle aus den Rietzler-Tagebüchern, die den deutschen Kanzler gleichsam als Hamlet erscheinen lassen, Er verzichtet auf eine andere, ziemlich deutliche Passage, die zeigt, dass Deutschlands höchster Politiker sehr wohl um die Risiken wusste:

Diesmal ist es schlimmer wie 1912; denn diesmal ist Österreich gegen die serbisch-russischen Umtriebe in der Verteidigung. Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen.

Während die Österreicher noch über ihrem Ultimatum brüten, besuchen der französische Präsident Poincaré und sein Ministerpräsident offiziell Russland. Und damit kommt der nächste Finsterling ins Spiel. Poincaré tritt "tactless, absolut threating" auf, um Russlands Kriegsbereitschaft zu stärken. Frankreich ist übrigens die einzige Großmacht, deren ökonomischen Interessen (Anleihen, Eisenbahn) angedeutet werden. Angesichts des kalten Kalküls seines ehrgeizigen Präsidenten kollabiert sein Ministerpräsident Viviani vor Entsetzen.

Die Einkreisung der Mittelmächte geht weiter. Österreich und Deutschland erscheinen fast passiv. Selbst das absichtlich unanehmbar formulierte Ultimatum an Serbien ,findet Clark, sei nicht kriegstreibend. Das Misstrauen Österreich-Ungarns sei doch verständlich, und dann verlässt der Autor offen das "Wie":

the Austrian note was a greater deal milder than the ultimatum presented by Nato to Serbia-Yugoslavia in 1999.

Entsprechend fällt das Urteil über die serbische Antwort aus:

a masterpeace of diplomatic equivocation... and a subtle coctail of acceptances, conditional acceptances, evasions and rejections.

Der balkanische Charakter der Südslawen? Die Antwort der Serben appelliere an internationale Gesetze, die es für diesen Fall doch gar nicht gab. Und damit ist das Folgende nur allzu verständlich:

On the morning of 28 July 1914, Emperor Franz Joseph signed his declaration of war on Serbia with an ostrich-feather quill at the desk in his study in the imperial villa at Bad Ischl. In front of him was a bust in brilliant white marble of his dead wife.

Fatalerweise schreiten die von Poincaré angefeuerten Russen zur Mobilmachung. Damit, so Clark ,

Sazonov and his colleagues escalated the crisis and greatly increased the likelihood of a general European war... making it unthinkable that the Belgrade goverment would back down in the face of Austrian pressure.

Und vor allem erhöht es den Druck auf Deutschland, das immer noch den Krieg lokalisieren will. Schreibt Clark. Die Quellen (die er nicht erwähnt) zeigen jedoch, dass die deutschen Decision-Makers ungeduldigt auf die russische Generalmobilmachung warten, um ihrerseitsendlich mobilisieren zu können. Und dies selbstverständlich nur , um sich zu verteidigen. Schließlich soll sich England aus dem Krieg heraushalten und die eigene innenpolitische Opposition mitmachen. Letzteres geschieht dann ja auch. Die SPD lässt ihr Vaterland nicht im Stich. Clark urteilt jedoch, dass

the responsibility for mobilizing first with the Russians

liege.

Bleibt die Frage der Intervention Großbritanniens. Die deutsche Regierung hofft auf britische Neutralität. Diese wird durch die Schlieffenplan-gemäße Invasion in Belgien verunmöglicht. Reine Defensive durch reine Offensive. Clark zweifelt aber die Aufrichtigkeit des britischen Interventionsarguments unter Hinweis auf innenpolitische Motive der britischen Regierung an. Hinsichtlich der deutschen Kriegsvorbereitung hat er diese Zweifel weniger. Er deutet überdies diskret an, dass England sich eventuell den falschen Gegner ausgesucht habe.

Fazit: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war eine Tragödie, aber kein Verbrechen. Er war "die Frucht der politischen Kultur" der Zeit. In seiner Konklusion geht Clark erstmalig und sehr kurz auf die "Fischerthesis" ein. Sie sei im Grunde obsolet, allerdings dominiere sie in deutschen Studien immer noch in einer Light-Version.

Zu neuen alten Ufern

Volker Ulrich lässt in seiner Kritik in der ZEIT erkennen, dass Clark mit seiner These der entscheidenden russischen Mobilisierung selbst Opfer der deutschen Strategie geworden ist. Er muss aber vor allem seiner Methode Tribut zollen. Seine Beschränkung auf das "Wie", sein Verbleiben auf der politischen Ebene endet trotz imponierendem Quellenstudium wie bei Ranke im irgendwie Psychologischen und dann in einem jedoch ziemlich eindeutigen "Warum". Ranke hatte jedoch ein geradezu keusches Verhältnis zum Gegenstand, während Clark zuweilen ziemlich derb argumentiert und zeigt, dass seine methodische Beschränkung eine scheinbare ist. Das argumentative Heranziehen von Srebrenica, Rambouillet und Syrien wirkt, gelinde gesagt, deplaziert, passt aber in den Rahmen.

Er fällt damit inhaltlich in die Schliddertheorie der fünfziger Jahre zurück, als man das "Warum" den Marxisten-Leninisten überließ, die man nicht ernstzunehmen hatte. George W. Hallgarten wird noch nicht einmal erwähnt. Dessen

Wenn Clausewitz recht hat, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, so wird man den Ersten Weltkrieg als Fortsetzung der deutschen Sammlungspolitik mit anderen Mitteln sehen müssen

wird von Clark wohl in der Schublade "Warum" gelagert, also nicht beachtet. Unter "Sammlungsbewegung" versteht Hallgarten das

Gemeinschaftshandeln von Industrie und Grundbesitz mit seinen scharfen Spitzen gegen die unteren Klassen sowie gegen den Westen und Osten.

Die Analysen der imperialistischen deutschen Kriegziele (Alldeutsche, Septemberprogramm Bethmanns) und der Julikrise durch die Fischerschule, die Forschungen der DDR-Historie (Gutsche, Klein) - man sucht sie vergebens. Geschichte wird immer noch von Großen Männern gemacht, auf der "Höhenlage des Geschehens", wie Ranke schrieb.

Aber die veröffentlichte Meinung applaudiert. Das Buch ist zumindest ein Musthave. Dies sollte zu denken geben. Das Hundertjährige des Großen Krieges steht bevor. Wir erwarten eine Fülle von Veröffentlichungen und erinnerungspolitischen Massnahmen. Clark gibt den Takt vor: Deutschland trifft die geringste Schuld.Viele wippen im Mainstream begeistert mit. Der Artikel 231 des Versailler Vertrages wird im öffentlichen Bewusstsein über kurz oder lang endgültig zu dem, als was er schon in den zwanziger Jahren angesehen wurde: eine enorme Ungerechtigkeit. Kein Wunder, dass...

Diese historische Exkulpierung Deutschlands dient natürlich der moralischen Entlastung gegenwärtigen Handelns. Sie hat schon vor einiger Zeit begonnen. Otto Köhler weist in seiner geistreichen Clark-Rezension in der Jungen Welt auf die Legitimation des Jugoslawienkriegs durch das politische Paar Schröder/Fischer hin, ebenso wie auf Äußerungen des Bundespräsidenten und "Mutbürger in Uniform"-Bewunderers:

Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger... Es mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern.

In regelmäßigen Abständen ent-schuldigt er sich und "uns", für das "was im deutschen Namen geschah".

Nun ist die heutige Situation eine andere. Eine Wiederholung der Katastrophe ist nicht in Sicht. Deutschland ist an Europa gebunden - und umgekehrt. Die "Sammlungsbewegung" des Kapitals ist international. "Deutschland über alles" wirkt geradezu lächerlich, wenn nicht gerade WM ist.

Allerdings ist das von Gauck geforderte "Engagement" schon lange Realität, "humanitär" und "nicht-humanitär": Die Rüstungsindustrie in Deutschland boomt, die Kriegsmarine - ausgerechnet - ist ein "Handelsschlager" (Hermannus Pfeiffer) geworden.

Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht. Die Geschichtsschreibung schon.

Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe went to war. London 2012

(deutsch:Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013 (DVA)

Ich zitiere aus der englischen Ausgabe. Ein Textvergleich beider Versionen wäre interessant.

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