Die "Courtinzi".

Erster Weltkrieg Kaum bekannt ist die massenhafte Befehlsverweigerung russischer Soldaten an der französichen Front im Jahre 1917

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Wenn in Frankreich auf einer Gedenktafel bewehrte Soldaten eine Fahne schwenken und die linke Faust heben und wenn darunter auf Russisch geschrieben steht: "Nieder mit dem Krieg. 1917", wissen wir, dass es nicht der Staat ist, der hier erinnert.http://lacourtine1917.org/local/cache-vignettes/L400xH537/stelehd-be0bf.jpg Toleriert er aber dieses Gedenken, weist dies auf sein schlechtes Gewissen hin. Im Jahre 2012 errichtete der französische Freidenkerverband nach 15 Jahren Beharrlichkeit auf dem Friedhof des südfranzösischen Dorfes La Courtine eine solche Stele. Sie soll an das Schicksal derer erinnern, die sich selbst "Courtinzi" nannten.

"Nieder mit dem Krieg!" "A bas la guerre!" war die Parole der zahllosen "Meuterer", die sich gegen Ende der unheilvollen "Nivelle-Offensive" im Frühjahr 1917 weigerten, zu den Schlachtbänken des Krieges zu marschieren. Sehr lange hat es in Frankreich gedauert, bis diese "Mutineries" und ihre Repression zum öffentlichen Thema werden konnten. Es galt das Verdikt Clemenceaus: "Schwäche ist Komplizenschaft." Noch weniger bekannt ist eine "Geschichte in der Geschichte": die massenhafte Befehlsverweigerung russischer Soldaten an der französischen Front. Sie soll hier kurz erzählt werden.

Zwecks Kompensation des ausgebluteten militärischen "Humankapitals" in den ersten Kriegsjahren erreicht der französische Sondergesandte Paul Doumier im Dezember 1916 die Abstellung von 44.000 russischen Soldaten - gegen die Lieferung von Munition und (veralteten) Gewehren. Die "Zweite" und die "Vierte" Brigade werden an die Salonikifront, die "Erste" und die "Dritte" an die französische Front abkommandiert. Der Transport der Ersten Brigade beginnt am 3. Februar 1916 in Moskau. 30.000 km (!) und zweieinhalb Monate später geht sie in Marseille an Land. Fotos zeigen die jungen Russen mit präsentiertem Gewehr bei der bejubelten Straßenparade und bei der Kontaktaufnahme mit jungen Marseillaisen.

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Schnellstmöglich werden sie an der Front nordwestlich von Reims eingesetzt. Die Kriegspropaganda präsentiert sie den kriegsmüden Franzosen als zähe motivierte Truppe - diszipliniert auch bei hohen Verlusten. Nach einigen Wochen wird die Erste durch die Dritte Brigade ersetzt, die mittlerweile in Brest an Land gegangen ist. Auch sie wird dezimiert.

Allerdings gärt es In der Ersten Brigade. Anders als die Dritte besteht sie aus größtenteils aus politisierten Proletariern aus Moskau und Samara. Die Februarrevolution in Petrograd gibt einen zusätzlichen Bewusstseinsschub. Infolge des an alle russischen Truppenteile telegrafierten "Befehls Nr. 1" müssen in den Brigaden Soldatenkomitees gebildet werden. Sogar die Offizierswahl wird vorgeschrieben. Die zaristischen höheren Ränge sind entsprechend verunsichert. Immer weniger haben sie "ihre" Männer im Griff. Bei einer Truppenabnahme am 1. Mai 1917 wird der kommandierende General mit Rufen nach Freiheit und mit roten Fahnen konfrontiert.

Wenige Tage später erfolgt der Einsatz bei der Wiederaufnahme der "Nivelle-Offensive". Die Mutineries erreichen ihren Höhepunkt. Die russischen Soldaten merken schnell, dass sie nur "chair à canon" sind: an nur drei Tagen verlieren sie über 4.500 Männer durch Tod und Verwundung. Ihre Verlustrate wird nur noch von den Senegalesen übertroffen, von denen (einkalkulierte) 30 bis 40 Prozent sterben oder verwundet werden.

Flugblätter tauchen auf:

Man hat uns gegen Munition verkauft. Der russische Soldat gilt nicht als Mensch, sondern ist nur eine Sache... Wir sind fest entschlossen uns zu vereinen und den Einsatz an der französischen Front zu verweigern. Wir wollen nach Russland zurück, an die Seite der Freiheit.

Die Militärführung beschließt, dieses revolutionäre "Ferment" von den französischen Soldaten fernzuhalten. Vor allem die Erste Brigade gilt als "kontaminiert". Beide Brigaden werden ins südwestfranzösische Militärlager La Courtine (das heute noch für Militärübungen verwendet wird) transportiert. Auch das Maskottchen der Ersten Brigade, der Bär Mischka, ist dabei. Lange Reihen weißer Zelte werdenaufgeschlagen. Schließlich befinden sich fast 16.000 Soldaten und 290 Offiziere im Lager. Anfang Juli findet ein großes öffentliches Meeting der Delegierten der Militär-sowjets statt. http://moulindelangladure.typepad.fr/monumentsauxmortspacif/images/2007/08/16/pervychine.jpg

Die Erste Brigade bekräftigt ihre Verweigerung. Den Offizieren der Dritten gelingt es nur mit großer Mühe, ihre einst zaristischen Sodaten bei der Stange zu halten. Ein französischer Diplomat wird indignierter Zeuge von "Ungheuerlichkeiten":

Muschiks von kompletter Ignoranz diskutieren über die Pflichten der Offiziere den Soldaten gegenüber, über die Ziele des Krieges und den Imperialismus der Regierungen.

In einem Flugblatt lesen wir:

Kameraden! Verweigert kategorisch jede Militärübung. Weigert euch ebenfalls, an die Front zu gehen... Die Führung will uns an die Front schicken, um die französische Bourgeoisie zu verteidigen. Kameraden! Wisset, das die ersehnte Stunde unserer Rückkehr nach Russland naht. Alle nach Russland! Hurra! Nieder mit den Tyrannen!

Am 8. Juli 1917 verlassen alle Offiziere und etwa 6.000 regierungstreuen Soldaten das Lager. Dieses ist damit selbstverwaltet, eine Art Commune. Und in der Tat erinnert die Situation entfernt an die große Commune 1871. An der Spitze des "Vorlaufigen Rates der Sowjetdeputierten" steht zunächst der Kaporal Yann Altais, der aber wegen Nachgiebigkeit abgelöst wird. Ihm folgt der irreduzible Unteroffizier Afanassi Globa.

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Über das Verhältnis zur Dorfbevölkerung existieren unterschiedliche Berichte. Globa hat wohl ein Verhältnis zur Bäckerin des Dorfes. Ein Foto zeigt einige russische Soldaten bei der Erntehilfe. Eine gewisse Reserviertheit ist sicherlich verständlich, zumal Gerüchte von Alkoholexzessen und anarchischen Zuständen gestreut werden.

Hektisch bemühen sich russische Emissäre in Frankreich und französische Gesandte in Petrograd um eine Lösung. Frankreich ist sogar bereit, Schiffe für die Rückkehr zur Verfügung zu stellen. Der russische Regierungschef Kerenski bleibt jedoch hart. Auf seine Veranlassung wird ein Ultimatum gestellt: Rückkehr zur "Ordnung", Abgabe der Waffen, Verkürzung des Solds.

Eine russische Artilleriebrigade aus dem Balkan ist mittlerweile zur Verstärkung herangezogen worden. Zusätzlich marschieren 3000 französische Infanteristen auf. Um das Lager wird ein doppelter Kreis gezogen. Maschinengewehre und Kanonen werden in Stellung gebracht. Der Priester von La Courtine unternimmt einen letzten vergeblichen Versuch. Nach einigen Quellen belegt ein Pope die "Meuterer" mit der Exkommunikation.

Am 16. September 1917 um 1o Uhr, pünktlich zum Ablauf des Ultimatums, donnern zum ersten Mal die Kanonen. Die Belagerten antworten mit dem Abspielen der Marseillaise und des Totentanzes Chopins (!). Darauf folgen 20 Stunden Dauerbeschuss. Am Ende ergeben sich 7.500 zermürbte Soldaten. mehrere Hundert bleiben jedoch. Am 18. September wird das Lager schließlich eingenommen. Globa wird auf der Flucht verhaftet.

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Das etwas gestellt wirkende erhaltene Foto zeigt ihn als ziemlich selbstbewussten Festgenommenen.

Offiziell werden 8 Tote angegeben. Andere Quellen sprechen von mehr als hundert Getöteten. Der "Rädelsführer" Globa wird mit 52 Männern in der Festung Liédot auf der Atlantikinsel Aix eingekerkert. 1918 tauscht man sie in Finnland gegen als Spione verurteilte Franzosen aus. Die anderen "Meuterer" stellt man vor die Alternative Arbeit für die französische Armee oder verschärfte Zwangsarbeit. Die meisten Sodaten wählen die Militärarbeit (in der Landwirtschaft, in Steinbrüchen, auf Bahngleisen). Etwa 1.300 Refraktäre werden zur Zwangsarbeit nach Algerien transportiert. 1919 werden sie nach Odessa repratriiert.

Dort erwartet sie, deren Parole "Nieder mit dem Krieg" war, der Bürgerkrieg.

Epilog

Auf dem Soldatenfriedhof Saint-Hilaire sind über 900 russische Soldaten begraben. Auch hier wurde erst 2011 ein Monument errichtet.

http://www.defense.gouv.fr/var/dicod/storage/images/base-de-medias/images/sga-images/dmpa/memoire-et-patrimoine/ceremonies/monument-aux-morts-du-cimetiere-de-saint-hilaire/1255058-2-fre-FR/monument-aux-morts-du-cimetiere-de-saint-hilaire.jpg

Dessen Inschrift lautet:

Hier ruhen 915 Kämpfer des Expeditionskorps und der Russischen Legion für die Ehre... gefallen auf französischer Erde zwischen 1916 und 1918 auf dem Feld der Ehre. Besucher aller Länder, gedenkt dieser Helden brüderlich!

Wie unterschiedlich Heldengedenken doch ist.

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