Die großen Erzählungen des Beat Wyss. Eine Besprechung.

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Ars longa vita brevis. Auf diesen Gedanken muss man wohl kommen, wenn man - wie der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss die Sechzig erreicht hat. Jedenfalls kam er "in Weißweinlaune", wie er im Nachwort schreibt, auf die Idee eines Essays mit dem Titel "Nach den großen Erzählungen". Wyss analysiert darin - gespickt mit persönlichen Erfahrungen - die herrschenden universitären Diskurse seit den sechziger Jahren. Er hält dabei nicht ganz ein, was der Titel verspricht, nämlich die Diskussion dessen, was nach der Großen Erzählung Postmoderne "kommt", und trotzdem ist sein Essay ein anregender Text, mit Derrida, seinem Referenzautor, zu sprechen: ein "verhüllender" und ein "zeigender" zugleich.

Was "zeigt" er? Er beschreibt die Großen Erzählungen im historisch bestimmten universitären Feld - und deren "Schrumpfformen". Dabei beginnt er - seiner eigenen intellektuellen Biographie folgend - mit dem Marxismus, so wie die Achtundsechziger ihn verstanden. Wyss "verhüllt" hier die unterschiedlichen Rezeptionsformen. Sein verallgemeinertes Beispiel sind die berühmt-berüchtigten "Kapital-Kurse", die er als "Kaderschmiede" bezeichnet, in deren Gefolge für den Autor eine groteske Verzerrung in der Wirklichkeitswahrnehmung stattfand. Man setzte sich in den Manchesterkapitalismus zurück. So war es wohl nicht ganz. Aber als Leser genieße ich einfach einen Satz wie diesen: Die metonymische Hybridität dient sowohl der Stabilisierung der kolonisierenden Autorität als auch dem Widerstand der Kolonisierten. Die Idee, dass man 1970 quasi Geschichte spielt, mit Hegel-Marx als "Farce", hat etwas Anregendes und führt zur Frage: Wie ist es denn heute? Wer spielt metonymisch hybride welche historische Rolle?

An diesem Essay bestechend ist die Methode, Kunstwerke mit einer Meistererzählung im Kontext der politischen Geschichte zu "lesen". So bringt er Adornos Ästhetische Theorie mit Barnett Newmans Ornament One zusammen. Beide Ästhetiker waren jüdische Exilanten, beide kämpften theoretisch gegen das, was der Autor sehr treffend als "linken Sansculottismus" (Kunst muss gesellschaftlich relevant sein!) bezeichnet. Sehr gut gefällt mir folgende Passage: Es gibt Strecken in der Ästhetischen Theorie, die lassen sich nicht umschreiben, sondern können nur im Duktus des Autors, original, wiedergegeben werden. So ist es in der Tat. Daraus kann nur gefolgert werden: Lest Adorno, aber nicht nur (wie der Autor) die Ästhetische Theorie.

Gelungen scheint mir der Abschnitt, in dem er am Beispiel eines Photos die methodische und inhaltliche Bedeutsamkeit Pierre Bourdieus nachweist. Mittlerweile ist Bourdieu-Bashing ein beliebter Intellektuellensport zumindest in Frankreich. Wyss nimmt ein berühmtes Photo, das Joseph Beuys beim Verlassen der Düsseldorfer Akademie zeigt und leitet daran habitusästhetisch den ewigen Hitlerjungen ab. Griffiger Kommentar: Kleider machen Führer. Für mich die spannendste Passage des Büchleins.

Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit der Semiologie (Analyse des Papst-Warhol- Fotos) und Foucault, der mit Gerhard Richters Stammheim-Zyklus zusammengebracht wird. Die Analogien der Kerker-Archipele des Meisterdenkers und der Realitätswahrnehmung der terroristischen Linken sind in der Tat frappant. Wyss schreibt bissig: Der Metadiskurs von Foucault, aufgebläht von dessen Proselyten, bietet das krasseste Beispiel dafür, wie sich das Verhältnis von Empirie und Methode umkehren kann. Für einen Essay ziemlich ausführlich geht Wyss auf Benjamin ein. Er zeigt zeitbedingte Fehler aus dem Kunstwerksaufsatz auf und beschäftigt sich durchaus empathisch mit den geschichtsphilosophischen Thesen und dessen "dialektischen Bildern". Ein kurzer Abschnitt schließlich referiert - zustimmend - Derridas Grammatologie, bezogen auf ein Bild Duchamps.

Am Ende gelangt Wyss zu einem knappen Resumee. Er konstatiert zwei Leitmotive der Meistererzählungen: die Verschwörungstheorie und das Postulat der politischen Korrektheit, das er vor allem an der Gender-Theorie und Praxis festmacht. Von den Meistern optiert er für Derrida, dem "mildesten" der Patrone. Er plädiert für eine Art Bescheidenheit:.Die Dinge sind nicht für das Denken da, sondern das Denken für die Dinge.

Wyss hat ein anregendes, im besten Sinne witziges Buch geschrieben, auch für den, der oft eine andere Sicht der "Dinge" hat und sich über kleine historische Fehler ärgert: Georges Marchais als "Eurokommunisten" zu bezeichnen, ist unfreiwillig komisch. Der letzte öffentlich gevierteilte Untertan des französischen Monarchen wurde nicht wegen "Vatermord", sondern wegen "Königsmord" hingerichtet. Nun, ihm wird's egal gewesen sein.

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