Die Wirklichkeit des Traums.

Baudelaire. Roberto Calasso heftet sich an die Fersen des Dichters. Er wird darüber selber zum Flaneur.Manchmal verirrt er sich dabei.

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Wer kein Verbrecher ist, muss zugrunde gehen. So beurteilt Adorno die Erfolgschancen des Ego in der fiktiven Welt Balzacs, die real die einer ursprünglichen, also räuberischen Akkumulation ist. Enrichissez-vous! (Bereichert euch) heißt die Parole des Tages, die die Figuren zum Tanzen bringt. Enivrez-vous! (Berauscht euch!), befiehlt Charles Baudelaire zwanzig Jahre später.

Permanenter Rausch. Die einzige Frage, die zählt. Damit ihr nicht die schreckliche Last der Zeit spürt, die euch die Schultern bricht und die euch zur Erde biegt, müsst ihr euch berauschen. Aber woran? An Wein, an Poesie, an Tugend, egal. Aber berauscht euch! (Le Boulevard, 1863).

Zum Rausch gegen die Zeit gehört eine ganze Imagerie von monströsen Höllenrepräsentanten und deren Antithesen, den Heiligen und Märtyrern. Nicht nur das Gespenst des Kommunismus geht in diesen Tagen um. Überall wird der Großstadtflaneur mit den "Misérables", den "multitudes maladives" konfrontiert.

Baudelaire erlebt und beschreibt die Angst vieler:

Et de longs corbillards, sans tambours ni musique,

Défilent lentement dans mon âme; l'Espoir,

Vaincu, pleure, et l'Angoisse atroce, despotique,

Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir.

"Und Leichenzüge, lang, ohne Tunnel und Musik,

Durchziehen langsam meine Seele; die Hoffnung,

die besiegte, weint, und die Angst, wild und despotisch,

Auf den geneigten Schädel pflanzt sie mir die schwarze Fahne"

Die schwarze Fahne der Anarchie? fragt man sich, manchmal mit Schrecken - nicht ohne Grund. Schließlich ist Baudelaire Mitte und Ende der vierziger Jahre bekennender Proudhonist. Andererseits gilt er später als zynischer Reaktionär.

Wie aber erklärt sich die unverändert totemistische Kraft Baudelaires? fragt der Literauturwissenschaftler und Verleger Roberto Calasso in seinem neuen Buch (1). Heften wir uns an seine Fersen, heißt seine detektivische Arbeitsmethode. Neugierig folgt Calasso dem Dichter auf Schritt und Tritt, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Er wird dadurch zu einer Art Schattenflaneur im Paris der Jahrhundertmitte.

Wir erleben also Baudelaire auf dem Boulevard, auf seiner permanenten Flucht vor den Gläubigern, als autistischen "Revolutionär" auf den Barrikaden, als Sammler, als Dandy, Kunstkritiker und als desillusionierten Liebhaber. Dadurch gelangt er beispielsweise zu einer eleganten Interpretaion des "Cygne" aus den "Fleurs du Mal", der Elegie über die (kapitalistische Transformation von Paris in den fünfziger Jahren:

Anadromaque, je pense à vous! Ce petit fleuve,

Pauvre et triste miroir où jadis resplendit

L'immense majesté de nos douleurs de veuve,

Ce Simois menteur qui par vos pleurs grandit (1860)

"Ich denke dein, Andromache! Der Bach

Der trübe seichte Spiegel welcher einst

Dich aufnahm und dein hohes Ungemach

Simois, der nur strömte, wenn du weinst", übersetzt Benjamin nicht ganz wörtlich.

Calasso entdeckt bei Baudelaire eine "metaphysische Antenne", mit der er "unerreichte Tiefe" ausloten könne. Auch mittels Drogen (versteht sich). Das Opium, zitiert er den Dichter, gibt dem Raum Tiefe. Haschisch hingegen überzieht das Leben mit einem magischen Firnis.

Das Hauptstück dieser litaraturhistorischen Flanerie heißt "Der Traum vom Museumsbordell". Die wichtigsten Elemente: Baudelaire erzählt von einem Traum, in welchem er im Modus des pantalon ouvert einer Bordellchefin ein (obszönes) Buch schenkt. Er findet sich in weiten Passagen wieder- einem Museum ähnlich. Plötzlich sagt sich der Träumende, die Zeitung Le Siècle habe dieses Etablissement finanziert. Unter den Exponaten findet sich, auf einem Sockel stehend, ein lebendes Monstrum. Der Dichter erwacht und bemerkt, dass er in der verdrehten Position des Monstrums geschlafen hat.

Calasso interpretiert diese vielleicht kühnste Erzählung des 19. Jahrhunderts, wie er schreibt, in Freudscher Tradition. Er arbeitet minutiös die typisch baudelairianischen "Correspondances" und Analogien heraus. Interessant ist das Auftauchen der bourgeoisen fortschrittsgläubigen, gleichzeitig Sitte und Anstand repräsentierenden Zeitung Le Siècle. Die Welt der Moderne, das Saeculum, erscheint als "universales Prostitutionsunternehmen". Alle müssen sich verkaufen, "verdrehen". Auch - und gerade - diejenigen, die das Volk glücklich machen wollen. Die wohlgemeinte Aufklärung erscheint als Reise in die Finsternis.

Leider begibt sich Calasso, immer "auf den Fersen" des zu beobachtenden Objekts, schnell wieder dieses Schlüssels zum Oeuvre des Dichters. Er besucht stattdessen mit diesem die diversen Ausstellungen (1845, 1846) und spürt den Beziehungen der großen Künstler der Zeit mit Baudelaire nach. Dabei entfernt er sich zuweilen ziemlich weit vom Objekt (Degas und die Frauen, Degas und dessen Antisemitismus, Manet und Berthe Morisot, das Portrait der gealterten Lebensgefährtin Baudelaires lange nach dessen Tod).

Gegen Ende zerfasert das Buch also ein wenig. Man ist als Leser bemüht, den roten (oder schwarzen) Faden nicht zu verlieren. Und überhaupt und grundsätzlich: Calasso hat ein subjektives Werk verfasst. Er versucht die Welt mit den "unsteten" Augen des Dandys Baudelaire zu sehen. Trotz aller entdeckten Korrespondenzen verfährt er immanent. Er lässt sich in seinem Drang nach Wissen "treiben", überholt dabei sein Objekt. Ein Snob, urteilt Ina Hartwig in ihrer Besprechung. Einer, der es sich erlaubt, seinen Vorlieben zu folgen. Der Lesegewinn und -genuss ist darum nicht geringer. Calasso hat alles über Baudelaire gelesen. "Er weiß alles," weiß der Rezensent des Nouvel Observateur. Und dennoch schreibt er einiges nicht. Es interessiert ihn nicht. Einige Beispiele:

Beim Individualisten Baudelaire ist die Gesellschaftlichkeit von Kunst und Künstler (überdeutlich). Das betrifft etwa die revolutionären Aktionen des Autors, der auf den Barrikaden eben nicht nur zur Erschießung seines Stiefvaters, des Generals Aupick, aufruft. Der revolutionäre Baudelaire ist radikal anti-bourgeois (im damaligen Sinne). Er soll es bis zu seinem Tod bleiben. Er ist enger Freund des Arbeitersängers Pierre Dupont, tritt 1848 der Partei Blanquis bei, sucht den persönlichen Kontakt zu Proudhon. Noch 1852 schreibt er im "Reniement de Saint-Pierre":

Puissé-je user du glaive et périr par le glaive

"Könnte ich doch das Schwert gebrauchen und durch das Schwert umkommen".

Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Fietkau interpretiert dies als unverhohlene Aufforderung zur bewaffneten Aktion (gegen Napoléon le Petit).

Calasso folgt Baudelaire auch nicht in den Gerichtssaal. Nach dem Prozess gegen Flaubert muss auch er zwangsläufig in die Justizmaschinerie geraten. Einge Gedichte seien eine Herausforderung an die Gesetze, die Religion und Moral beschützen. Das Urteil lautet: Geldstrafe und Löschung der inkriminierten Gedichte, unter anderem wegen "grobem Realismus", dem Passepartout-Vorwurf der Zeit (siehe Flaubert, Courbet).

Ziemlich lange verweilt Cabalasso hingegen bei der baudelaireschen Rezeption des reaktionären Ideologen de Maistre des des Mystikers Swedenborg. Das ist sehr traditionell. Kunstwerke, so kann man mit Adorno entgegnen, lassen sprechen, was die Ideologie verbirgt. Dazu ein (letztes) Beispiel. Zu Zeiten Baudelaires haben sich Großautoren wie Sand, Sue und Hugo mit dem Elend des "Vierten Standes" beschäftigt. Die Hugoschen Misérables werden heute kulturindustriell als Musical (und Film) verwertet. Den angeblichen "Reaktionär" Baudelaire kann man diesbezüglich kaum instrumentalisieren.

Fassen wir darum das Prosagedicht "Assomons les pauvres" (Lasst uns die Armen erschlagen!) kurz zusammen:

Der Autor hat lange die sozialromantischen Bücher à la mode gelesen. Er lernt darin, wie man die Völker glücklich, brav und reich macht. In einem Cabaret hält ihm ein alter Bettler seinen Hut hin, mit einem dieser unvergesslichen Blicke, die Throne umstürzen würden, wenn der Geist die Materie bewegen könnte. Kurz: der Erzähler schlägt den Bettler halb tot. Und plötzlich richtet sich diese "antike Karkasse" auf, stürzt sich auf den Erzähler und verprügelt ihn seinerseits. Durch meine Medikation hatte ich ihm Stolz und Leben wiedergegeben.

Zynisch? Zweifellos. Aber auch befreiend. Dolf Oehler kommentiert: Gewisse Aspekte der Marxschen Theorie sind hier als satanische Parabel formuliert ... wie Heine sagen würde, als Schnurrpfeiferei.

Der "Cygne" endet folgendermaßen:

Assis dans la forêt où mon esprit s'exile

Un vieux Souvenir sonne 'a plein souffle du cor!

Je pense aus matelots oubliés dans une île,

Aux captifs, aux vaincus! ... à bien d'autres encore!

"Im walde worin mein geist in verbannung gesessen

Ertönt eine alte erinnerung mit markigem schall!...

Ich denke an schiffer auf einsamer insel vergessen

Und an die gefangnen ... besiegten ... und anderen all!" (übersetzt von Stefan George, dessen archaisch wirkende Übertragung trotzdem radikaler ist als die Benjamins)

(1) Roberto Calasso, Der Traum Baudelaires, München 2012 (Carl Hanser Verlag)

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