Dieses permanente Deutschland!

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Wie es so geht! Ich gebe einem jungen Kollegen den Rat, den neuesten Methodenreader aus dem Hause Brettelsmann zu vergraben und einfach des old fashioned Adornos "Tabus über den Lehrerberuf" aus dem Jahre 1965 zu genießen. Der Kollege entdeckt bei diesem den lobenden Hinweis auf einen Lehrer, der das "politisch wichtigste" Buch über Deutschland geschrieben habe. Als Dank für den Adorno schenkt mir der Kollege ein im Internet erworbenes Fischer-Taschenbuch aus dem Jahre 1967. Ein dünnes Buch, neu geleimt, mit einem Titelblatt, das sich schon auflöst: Richard Matthias Müller, Über Deutschland. 103 Dialoge. Das Buch war 1965 erstmals erschienen. 1966 wurden die Dialoge als Fernsehspiel gesendet, sinnigerweise an einem Freitag, um 22.15 Uhr. Aber immerhin. Ein Buch der Studentenrevolte also, das aber wohl unbemerkt an mir vorbeigelesen worden war. Vielleicht lag es am etwas "altväterlichen" Titel: Über Deutschland. Ach nee, nicht schon wieder!

Wie es so geht!Iich lese mit angehaltenem Atem die Dialoge zwischen Vater und Sohn, wobei Müller den genialen Einfall hatte, den Vater den antifaschistischen und den Sohn den konservativen übernehmen zu lassen; vielleicht war dies der Grund für die Nichtbeachtung durch die sogenannten Achtundsechziger. Und ich lese viel zu spät Dialoge wie diesen:

S Also, du wirst niemals erleben, dass die Deutschen den Tag ihrer Niederlage
feiern.
V Hoffentlich nicht.
S Was soll das heißen?
V Ich sage: ich hoffe nicht, dass die Deutschen jemals den Tag ihrer
Niederlage feiern.
S Woran denkst du nun wieder?
V An den 30. Januar 1933

Die Texte sind natürlich auf die "Vergangenheitsbewältigung" der fünfziger und sechziger Jahre zu beziehen. Auf die Hallsteindoktrin, das "Dreigeteilt niemals!", die ARD-Wetterkarte in en Grenzen von 1937, auf den "Antikommunismus der Dummen", auf das, was Adorno 1962 als "Projektionsmechanismus" entlarvte: "dass die, welche die Verfolger waren und es potentiell heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten" ("Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute"). Als "Primärquelle" sind die Dialoge Müllers ein Dokument klaren Mutes in oft untrüben Zeiten.

Und wie es so geht! Im 15. Dialog spricht der Sohn die Vertreibung der Deutschen an:

S Aber überleg einmal: neun Millionen Menschen!
V Das ist schon erschütternd, wenn man sich das überlegt ... Drei Millionen mehr
als sechs
S Du denkst natürlich wieder an die Juden.
V Ich kann nichts dafür. Wenn ich von dem Unrecht höre, das uns Deutschen
angetan wurde, kommt das automatisch...
S Kein Mensch weiß, ob es wirklich sechs Millionen waren.
V Das ist es ja, was ich immer sage. Die Ostvertriebenen, sag' ich immer, hat
man nachher wenigstens zählen können.

Und so stellt man fest: diese 103 Dialoge sind hochaktuell. Müller spricht im Jahre 1965 die gegenwärtige Vertreibungsdiskussion an, die Relativierung durch Verwischung der Kontinuität, den Revisionismus, die immer wieder auftauchende "wissenschaftliche Erkenntnis", dass Hitler Stalin nur zuvorgekommen sei, den "Bombenholocaust", das Wiederbeleben der simplen Totalitarimustheorie, die rechte Häme über die sogenannten "Gutmenschen", die der Sohn im Buch "Bußprediger" nennt. Ich könnte noch lange fortfahren, um erschrocken festzustellen, wie wenig sich geänert hat - im Wind of Change.

Ich wünschte mir dringend eine kommentierte Neuauflage des Büchleins. Es ist die Zeit für kritische Dialoge über dieses Land.

Nachtrag vom 19. März 2009

Heute veröffentlicht DIE ZEIT ein sehr interessantes Interview Josef Joffes mit dem polnischen Außenminister, Radoslaw Sikorski. Und welche Frage stellt Joffe?

Joffe: Auf polnischer Seite stehen sechs Millionen, die von den Deutschen umgebracht worden sind, auf deutscher neun Millionen Vertriebene, die nicht unbedingt Nazis waren. Ist die Erinnerung an sie nicht auch legitim, selbst, wenn wir das eine nicht mit dem anderen aufwiegen dürfen?

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