Eine historische Rede?

Oradour Alle sind sich einig. Gauck hat in Oradour eine erinnerungspolitisch bedeutende Rede gehalten.Eine genauere Lektüre zeigt jedoch,dass sie mehr vernebelt als erhellt.

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Und wieder soll er die "richtigen" Worte gefunden haben, diesmal in Oradour. Scham und Stolz am Ort des Grauens, titelt SPIEGELonline. Gauck und Hollande haben eine der letzten Lücken in der Aufarbeitung der Vergangenheit geschlossen" befindet die FAZ. Die französischen Medien jeder Couleur zeigen sich ebenfalls tief beeindruckt. "Réconciliation" und "Visite historique" sind die meistbenutzten Begriffe.

Die Fragwürdigkeit pathetischer Worte wie "Aufarbeitung" oder "Versöhnung" ist nicht präsent. Wenn es um das Erhabene geht, werden halt keine Fragen mehr gestellt. Die Einhaltung der Liturgie ist wichtig, das Händehalten (seit Kohl-Mitterand), die Umarmungen, die Tröstungen, das Stützen des sehr alten Überlebenden durch die beiden Präsidenten, eventuell Tränen, der Repräsentant der Täternation als Tröster. In diesem Metier ist Gauck ein Meister. Auch in Oradour.

Aber wenn Gauck redet, sollte man schon genauer hinhören und vor allem nachlesen (1). Und, wie es sich gehört, den Kontext zumindest kurz bedenken. Schließlich läuft die BRD Gefahr, zum gehassten Hegemon Europas zu werden und in den Ländern des ehemaligen Nazi-Imperiums unangehme Erinnerungen wachzurufen. Die Regierung Frankreichs ihrerseits in innenpolitischen Schwierigkeiten, benötigt eine Legimitation für kommende militärische Interventionen. Schon Hollandes Vorgänger verfügte über eine erinnerungspolitische "Gebrauchsanweisung" (Enzo Traverso) und machte den Abschiedsbrief Guy Môquets zur schulischen Pflichtlektüre.

Die Unterschiede der Oradour-Reden beider Präsidenten sind jedoch signifikant. Hollande bezieht sich stets auf das Geschehene. Sein erstes Wort ist "Silence". Er berichtet lakonisch, was passierte, zitiert aus dem berühmten Gedicht Jean Tardieus, erwähnt den Freiheitsbaum, der überlebte, und endet mit der moralischen Verpflichtung der Heutigen, das "Inakzeptable" zu bekämpfen. Dies sei die Botschaft von Oradour.

Der deutsche Präsident beginnt mit einem kognitiv dissonant wirkenden "Oradour lebt", äußert seine Betroffenheit im Kontakt mit den Opfern, geht dann aber schnell zu einer allgemeinen (und altbekannten)Diskussion der Schuldfrage über. In der BRD habe eine Art intergenerationeller Lernprozess stattgefunden, der zu einem neuen, einem "guten" Deutschland geführt habe.

Auf einige Aspekte der Rede möchte ich näher eingehen. Ich bekenne: Bei diesem Redner fällt es schwer, nicht krittelig zu sein.

Stilfragen...

Dieser Ort und seine Bewohner wurden in einem barbarischem, in einem zum Himmel schreienden Verbrechen vernichtet,

fügt Gauck nach seinem etwas verstörenden Beginn als nächste Dissonanz hinzu: Erst der Ort (die Sache), dann seine Menschen. Ein Vergleich mit dem von Hollande zitierten Gedicht Tardieus zeigt den Unterschied: natürlich kannt es zuallererst nur um die Menschen gehen. Nicht so bei Gauck. Sein Satz ist zudem im Passiv gehalten, die Täter erwähnt er - wieder passivisch - erst im folgenden Satz:

Das Verbrechen, das hier geschah, wurde von Soldaten unter deutschem Kommando verübt.

Warum sagt er nicht konkret: Von deutschen SS-Mördern und elsässer Malgré-nous verübt? Hatten die "Soldaten unter deutschem Kommando" nicht einen namentlich bekannten Kommandanten? Warum parallelisiert er die seinerzeit viel kritisierte Kohlsche Diskursformel von den "im deutschen Namen verübten Verbrechen"?

Befremdlich erscheint mir auch folgende Aussage:

Als Bundespräsident ahne ich und als Mensch fühle ich, was diese Entscheidung für Frankreich und die Franzosen bedeutet.

Auch hier findet sich die Sprachfigur "Ort-Mensch ". Warum muss sich der Bundespräsident kognitiv-emotional von seinem anderen Ich, dem '"Menschen" unterscheiden? Schließlich hat die Unterscheidung von "Amt" und der "Privatmann" gerade im Kontext der Schuldfrage eine besondere Bedeutung.

Mit Recht spricht Gauck vom "Geschenk" der Einladung nach Oradour. Doch das darauf folgende

Ich schaue Sie an, Herr Präsident Hollande, vor allem aber auch Sie, Herr Hébras, Herr Darthout und die Familien der Ermoderten.

erschließt sich mir nicht. Warum nicht einfach ein "Ich denke an Sie"? Wissen die Redenschreiber des Präsidenten nicht, dass dies der "Sprachgestus des Aug in Aug" ist, "wie Diktatoren ihn üben" (Adorno)? In der französischen Version wird das "Je vous regarde" gleich dreimal verwendet.

Relativ schnell streift der Redner die Haltung der Demut ab. Es deutet sich in Sätzen an, wie

Ich bekenne: Wir werden Oradour und alle anderen europäischen Orte des Grauens und der Barbarei nicht vergessen.

Muss man diese allererste Selbstverständlichkeit "bekennen" (wie ein Glaubensbekenntnis)? Wird erwartet, dass die Zuhörer erleichtert, gar dankbar sind?

Vielleicht meint Gauck ja etwas ganz Anderes, aber wenn es denn Missverständnisse sind, so liegt dies natürlich an der Ambivalenz dieses Jargons der Eigentlichkeit. Vielleicht aber kann ein in der frühen DDR zum Antikommunisten sozialisiserter protestantischer Pastor gar nicht anders. Und außerdem kommt kommt ja wohl auf den Inhalt an.

Inhaltsfragen

Der zweite Teil der Ansprache geht von Karl Jaspers' "Die Schuldfrage" aus, die, 1946 erschienen, die Schrift, die die deutsche Schulddiskussion vor allem der 40er und 50er Jahre am stärksten beeinflusste (2). Jaspers gehörte zu den wenigen in Deutschland gebliebenen Philosophen, die sich nicht kompromittiert hatten. Vier Begriffe von Schuld werden, wie auch Gauck erwähnt, in der Schrift betrachtet: "kriminelle", "politische", "moralische" und "metaphysische" Schuld.

Jaspers argumentiert nicht immer widerspruchsfrei, wendet sich einerseits gegen die "moralische" und "metaphysische" Kollektivschuld"der Deutschen - diese sei "Hitler und seinen Komplizen" zuzuschreiben, andererseits lesen wir: Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter. Dass in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür tragen wir alle eine Mitschuld. An anderer Stelle schreibt er: Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zu einander finden. Er benutzt in diesem die Zusammenhang die Metapher der "Reinigung" und fordert die Selbstdurchheilung als Volk in geschichtlicher Besinnung und die persönliche Selbstdurchheilung des Einzelnen.

Allerdings ermöglichte es gerade die Abstraktheit der Jasperschen Schulddiskussion, in der Nachkriegzeit von der realen Schuldfrage der zahllosen Täter abzulenken. Man glaubte, zumal auf evangelischer Seite... alles abblocken zu sollen, was über ein hochabstraktes Schuldbekenntnis hinausging , so der Historiker Norbert Frei. Heinrich Blücher, der damalige Ehemann Hannah Arendts urteilte sarkastisch: Dieses ganze innerdeutsche und innerlich-handelnde Volksgemeinschaftsversöhnungsgerede kann nur den Nazis dienen. Er nannte dies "christlich-nationalem Unsinn".

Und in der Tat gibt es heute merkwürdig wirkende Aussagen auch von Jaspers: Im Zuchthaus die Zuchthausinsassen verantwortlich zu machen für die Schandtaten der Zuchthausaufseher ist offenbar ungerecht" lesen wir. Oder: Wer in Kameradschaftlichkeit treu war, in Gefahr unbeirrbar, durch Mut und Sachlichkeit sich bewährt hat, der darf etwas Unantastbares in seinem Selbstbewusstsein bewahren."Noch 1962 kritisiert er, dass der russische Richter der Nürnberger Prozesse nur geringen "Rechtssinn" hatte und "als Sieger urteilte".

Dass die nationale "Versöhnung", wie sie Jaspers und vielen anderen vorschwebte, auch eine ausschließende Funktion hatte, zeigt Jean Améry. 1963 schreibt er: Ich bin belastet mit der Kollektivschuld, sage ich: nicht sie. Die Welt, die vergibt und vergisst, hat mich verurteilt, nicht jene, die mordeten oder den Mord geschehen ließen. Und er ahnt die Geschichtspolitik der Zukunft: Was 1933 bis 1945 in Deutschland geschah, so wird man lehren, hätte sich unter ähnlichen Voraussetzungen überall ereignen können - und wird nicht weiter insistieren auf der Bagatelle, dass es sich gerade in Deutschland ereignet hat... Alles wird untergehen in einem summarischen 'Jahrhundert der Barbarei".

Diese nicht unproblematischen Aspekte der Jasperschen Argumentation lässt Gauck vollkommen aus - so wie auch den Satz Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter. Dafür übernimmt er den Passus der "geistigen Bedingungen" und deren "Möglichkeiten". Welche dies waren, sagt er nicht. Dass er Adornos Einsicht übersieht (übersehen will?), die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit könne nicht gelingen, weil die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortdauern, ist nicht überraschend. Liegt es an seiner ehemaligen Profession, dass er den exkulpierenden Diskurs großer Teile der evangelischen Kirche wieder aufnimmt? Spricht er von "Mit-Schuld", weil er wie Jaspers in der Schuldfrage 1946 immer noch davon ausgeht, dass die wahren Verbrecher nur eine "kleine Minorität von Zehntausenden" war ?

Natürlich kommt der Redner Gauck um die gerichtlich zu ahndende "individuelle Schuld" (Jaspers) nicht herum. Bekanntlich folgte der ersten eine "zweite Schuld" (Giordano), der große Frieden mit den Tätern, auch und gerade juristisch. Immerhin bekennt der Redner :

Es waren Täter aus unserer Mitte - mit Namen und Gesicht

Er nennt diese zwar wieder nicht, zeigt aber auf:

Die gerichtliche Aufarbeitung von Verbrechen, die Deutsche oder unter deutschem Befehl stehende Einheiten begangen haben, ist nicht abgeschlossen.

Und macht so flugs aus einem Trauerspiel eine Erfolgsgeschichte. Seht! Noch immer verfolgen wir die Untaten! Er hätte zumindest kurz auf die peinliche von Gerichten gedeckte Karriere des Oradour-Kommandanten Lammerding eingehen sollen, anstatt aus dem politisch-juristischen Dilemma des Umgangs mit den Elsässer "Malgré-nous" in Frankreich zu folgern:

So müssen wir feststellen: Gerechtigkeit bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen kann auch der Rechtsstaat nicht vollständig garantieren.

Dies sagt er vor den letzten Überlebenden des Kriegsverbrechens, am Ort des Geschehens. Dabei haben doch, um seine Worte zu benutzen, auch die vertuschenden Richter und Staatsanwälte "aus unserer Mitte" "Namen und Gesicht". Aber auch hier findet sie wieder statt, "die Himmelfahrt des Wortes über den Bereich des Tatsächlichen (Adorno).

Fast als therapeutischen Familienausflug beschreibt er den Weg zum heutigen, dem "guten Nachbarn" Deutschland. Er bezieht sich auf die von Jaspers als notwendig geforderte Kommunikation:

In einem schwierigen Prozess begann die junge Generation dann hartnäckig nachzufragen. Die Nachgeborenen suchten das Gespräch mit den Älteren. Sie fragten, stritten, klagten an - ihre Eltern, ihre Großeltern, ihr Land. Sie forschten nach den geistigen Bedingungen jener Zeit und wollten wissen, warum sich ihre Eltern und ihre Anverwandten auf persönliche Unschuld beriefen.

Auch wenn einer der Subtexte der Achtundsechziger die generationelle Frage nach dem Handeln der Eltern im Faschismus war, ist dieses in Jasperschen Worten gehaltene Narrativ viel zu simpel. Gaucks Sprachbilder sind die des "hilflosen Antifaschismus", den Wolfgang Haug schon Anfang der sechziger Jahre demaskierte. Es bedurfte zudem des Eichmannprozesses, des Auschwitzprozesses, der Faschismusdebatten, des Kniefalls Brandts, des Historikerstreits, der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, der Goldhagendebatte (um nur einiges zu nennen), um endlich den hegemonialen Diskurs über deutsche Schuld mittels der Realität zu entzaubern, vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Und ausgerechnet in Oradour verwendet ein deutscher Bundespräsident Elemente des Nachkriegsjargons:

Die junge Generation suchte nicht juristische Wege, sondern politische und kulturelle, man könnte auch sagen, menschliche Wege.

Sie fand sie natürlich, diese Wege, und so wurde das neue Deutschland eine Demokratie, eine "Kraft des Friedens":

Aus der ernsthaften Auseinandersetzung haben die Menschen in Deutschland die Kraft gewonnen, mein Heimatland zu einem guten Land zu machen.

Der Politikwissenschaftler Helmut König unterteilt die bundesrepublikanische Vergangenheitsbewältigung in vier Phasen . Es ist überdeutlich, dass der Bundespräsident des Jahres 2013 vergangenheitspolitisch in der zweiten Phase, der "Amnestie und Amnesie" bei klarem Trennungsstrich zum NS, also in den 50er Jahren steckt.

Noch ein wenig ein versöhnlicher Camus , dessen deutschlandkritische Aussagen natürlich nicht zitiert werden, und am Ende bauen wir Europa weiter

auf der Grundlage der Freiheit, der Menschenwürde, der Gerechtigkeit und der Solidarität.

Die "Verantwortung" lässt er diesmal aus.

Wie kann es geschehen, dass einem fast vergessenen vergangenheitspolitischen Diskurs der 50er Jahre, gehalten in diesem mehr vernebelnden als erhellenden Jargon länderübergreifend historische Größe zugeschrieben wird? Wollen wir wieder, was vor schon Jahrzehnten als Projektion erkannt wurde, dass nämlich unsere Eltern und (Ur-)Großeltern keine Nazis, keine Kriegsverbrecher waren? Ist Gauck genau der richtige Überbringer dieser falschen Botschaft? Und zwar ausgerechnet in Oradour? Oder stört die konkrete Benennung der Kriegsverbrechen der Vergangenheit im gegenwärtigen Europa?

Scham und Stolz am Ort des Grauens hatte der SPIEGEL geschrieben. Das erinnert an Sätze Nietzsches:

"Das habe ich gethan", sagt mein Gedächtniss.

"Das kann ich nicht gethan haben" - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich.

Endlich - giebt das Gedächtniss nach.

(1) Nachzulesen bei:www.bundespräsident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim Gauck/Besuch in Oradour und www.elysee.fr/declaration/article/allocution du président-de-la-République

(2) Karl Jaspers. Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. München 2012 (erstm. 1946)

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