Erinnern und Vergessen

Säbelrasseln Seit über 100 Jahren hat die Ukraine eine wichtige Funktion im bellizistischen, antirussischen Diskurs. "Lehren aus der Geschichte" sollen gezogen werden. Dabei kann es nur eine Lehre geben. Hört mit dem Irrsinn des Krieges auf.

Bekanntlich sind bisher alle Bemühungen Russlands, auch die Völker im Westen seines Gebietes, die Balten und die Polen, sich wirklich zu assimilieren, völlig misslungen. Erfreulicherweise, denn diese Völker standen seit Jahrhunderten unter dem Einfluss der überlegenen westeuropäischen Kultur. Eine Ablösung dieser Völker vom russischen Kolosse wird sich dieser zwar nur mit den Waffen in der Hand abringen lassen. Aber er wird es ertragen können... Russland erhält den Zugang zum finnischen Meerbusen, es tritt aber Finnland an Schweden ab, die Ostseeprovinzen und Großpolen an Deutschland, Bessarabien an Österreich. Die baltischen Landschaften werden selbständige Herzogtümer, die unter der Herrschaften evangelischer thüringer Fürsten Verfassungen erhalten...Auch für den deutschen Osten, nicht nur für die Balkanländer trifft das Wort Lagardes zu, dass wir vor dem moskowiter Riesen umso sicher sein können, je mehr selbständige, wirklich eigenartige Reiche wir neben uns haben(Ernst Haase, Vorsitzender des „Alldeutschen Verbandes, 1895, anonym erschienen)

Ein langes Zitat für den Anfang. Aber es steht für Kontinuität, nicht nur "made in Germany." Russland ist ein "Koloss", die Grenznationen gehören zur "überlegenen westlichen Kultur", ihre Befreiung ist nur durch Krieg möglich. Dafür bewahren sie "uns" vor dem "moskowiter Riesen". Der Professor für Statistik Ernst Haase war Alldeutscher, Vorstand des Deutschen Kolonialvereins und nationalliberaler Reichstagsabgeordneter. Und er war wahrlich nicht der einzige Treiber in den Ersten Weltkrieg. Sein annexionistischer Diskurs fand viele Nachfolger. Immer ging es um Krieg gegen Russland (gegen die "zaristische Despotie" oder das "russische Joch" bei seinen sozialdemokratischen Vertretern) und immer um die Befreiung der Grenzländer. Den Krieg und dessen Folgen bekamen dann gerade die zur Habsburger Monarchie und zu Russland gehörenden „ukrainischen Länder“ zu spüren. Beschränken wir uns also auf diese – aus gegebenem Anlass.

"Alle Straßen münden in schwarze Verwesung"

Nach den diversen Kriegserklärungen im Sommer 1914 wurden die Pläne der Militärstrategen zur materiellen Gewalt. Russische Truppen marschierten ins österreichische Ostgalizien ein, die zurückweichenden Habsburger Truppen hinterließen verbrannte Erde. Der Krieg entwickelte sich zum "Krieg der Galgen und Gehenkten" (Herfried Münkler). Malaria und Typhus breiteten sich aus. "Alle Straßen münden in schwarze Verwesung", schrieb Georg Trakl kurz seinem Suizid im November 1914. Vor seinem Lazarett in der Nähe Lembergs hatten Habsburger Gendarmen angebliche "ruthenische" Spione an Bäumen aufgehängt. Die Truppen des Habsburger Monarchen unterdrückten die russophonen Bevölkerungsteile (emblematisch sind die „Russophilen-Transporte“ ins Lager Thalerhof in der Steiermark). Bei der "erfolgreichen" deutsch-österreichischen Gegenoffensive hinterließen ihrerseits die Truppen des Zaren verbrannte Erde. Besonders brutal behandelten sie die jüdische Bevölkerung Galiziens, angeblich wegen Zusammenarbeit mit den Österreichern. Letztere verfolgten Ukrainer, angeblich wegen Zusammenarbeit mit den Russen.

Nach der Februarrevolution 1917 bildeten sich im russischen Gebiet der „ukrainischen Länder“die ersten Arbeiter- und Bauernsowjets. Der Kiewer „Central'na Rada“, der Zentralrat, bestand aus Sozialdemokraten und Sozialrevolutionen. Diesen ging es weniger um nationale Einheit, als um Frieden und soziale Forderungen. Erst nach der Oktoberrevolution verkündete die Rada die „Ukrainische Volksrepublik“, die UNR (übrigens, ohne die Krim und die habsburgischen ukrainischen Gebiete ihrem Territorium zuzuordnen). Die Bolschewiki verkündeten ihrerseits die „Ukrainische Sowjetrepublik“. Im Januar 1918 marschierte die Rote Armee in Kiew ein, worauf die in die Defensive gedrängte Rada Deutschland und Österreich die Kollaboration anbot, … gegen militärische Unterstützung. Die prompte Rückeroberung Kiews brachte Leon Trotzki dazu, nach längerem Zögern das annexionistische „Friedens“-Diktat von Brest-Litowsk zu unterzeichnen, in dem nun auch die Ukraine als "unabhängiger" Staat aufgenommen war. Die Mittelmächte setzten prompt die eher sozialdemokratische Rada-Führung ab und installierten in Kiew ein ihnen gewogenes reaktionäres Regime (Retablierung des Großgrundbesitzes, Handel unter Kontrolle der Mittelmächte). Im November 1918 wurde die UNR, nach militärischen Erfolgen neu gegründet. Deren neue Regierung setzte jedoch – nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten – auf den ukrainischen Nationalismus. Die Truppen der UNR kämpften sowohl gegen die Weißen als auch gegen die Rote Armee – und begingen entsetzliche antisemitische Pogrome. Im Sommer 1920 eroberte die Rote Armee ihrerseits Kiew zurück. Großbritannien und Frankreich hatten sich zuvor endgültig aus dem Bürgerkrieg verabschiedet. Die Ära der „Ukrainischen Sowjetrepublik“ begann 1921 mit einer entsetzlichen Hungersnot, Folge des Bürgerkrieges und des „Kriegskommunismus“. Es sollte nicht die letzte Katastrophe sein.

Bilanz 1918. Der Erste Weltkrieg hatte über 9 Millionen tote Soldaten und über 7 Millionen zivile Tote gefordert. Über die Verwundeten wird in diesem „Bodycount“ in der Regel geschwiegen. Hinzu kamen die Opfer der diversen Seuchen, nicht nur der „Spanischen Grippe“. Und doch : Käthe Kollwitz' emblematisches Plakat „Nieder wieder Krieg!“ von 1924 war schon bei Erscheinen Makulatur. Ebenso die Erkenntnis des Philosophen Alain im Jahre 1921, der im siegestrunkenen Frankreich zu schreiben wagte:

Niemals sollte man sich den Gedanken erlauben, dass der Krieg auch nur irgendwie mit Gerechtigkeit und Humanität vereinbar seien... Für jeden von uns gibt es ein Heilmittel: Es reicht Nein zu sagen.

"Wenn der Friede kommt, so wird der Krieg beginnen"

Karl Kraus lässt gegen Ende seiner „Letzten Tage der Menschheit“ des „Optimisten“ Halbsatz „Aber wenn erst einmal der Friede kommt -“ mit dem des Pessimisten enden: „- so wird der Krieg beginnen!“

Und so kam es. Was kümmern einen die Toten, wenn es um imperialistische „Logik“ geht? 1925 veröffentlichte der Kali-Industrielle Arnold Rechberg einen Artikel mit dem vielsagenden Titel „Westen oder Osten?“.

Deutschland kann in dem bevorstehenden Kampf zwischen den europäischen Westmächten und dem Bolschewismus nicht neutral bleiben.. Die Rote Armee der Moskauer Sowjetregierung ist minderwertig. Ihr Offizierskorps ist für den modernen Krieg unzureichend... Wollte Deutschland an der Seite Sowjetrusslands gegen die Westmächte kämpfen, könnte es also nicht mit wirksamer Hilfe aus Russland rechnen.Außerdem würde das deutsche Industriegebiet am Rhein zum Schlachtfeld und wäre der Zertrümmerung verfallen. Was die asiatischen und afrikanischen Hilfsvölker Moskaus angeht, so ist der farbige Mann noch immer dem Westeuropäer an Intelligenz und Kriegstechnik unterlegen... Sobald es zur Waffenentscheidung zwischen den Westmächten und dem Bolschewismus kommt, ist der Sieg des Westens nach menschlichem Ermessen nicht zweifelhaft. Die Westmächte können aber diesen Sieg viel leichter erkämpfen, wenn Deutschland an ihrer Seite ist. Wir können also unsere Hilfe teuer verkaufen... Damit allein wäre aber Deutschland wieder zur Großmacht geworden... Wir können aber noch mehr verlangen: die Rückgabe einiger der verlorenen Grenzgebiete, insbesondere des Korridors von Danzig und den Wiedererwerb der Kolonien .Dann können wir hoffen, mit Frankreich und England gleichberechtigt an dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des vom Bolschewismus befreiten Russland beteiligt zu werden, also eines Kontinents, dessen Boden ebenso reich an Bodenschätzen ist, wie der Boden der Vereinigten Staaten von Amerika. Endlich ist zu nicht zu übersehen, dass das Aufmarschgebiet … östlich der deutschen Grenzen liegen würde. Der Kampf würde den deutschen Boden nicht berühren.

Abstrahiert man von den zeitsituativen Implikationen des Textes, stößt man auf das alte Muster. Auffällig in der Argumentation ist die angebliche Unvermeidlichkeit des Krieges gegen die inferiore Sowjetunion. Schließlich bringt er die Aussicht auf Profite.

Ein Jahr später diskutierten Experten in der Zeitschrift „Der deutsche Gedanke“ die „Pan-Europa-Idee“. Graf Coudenhove-Kalergie hatte 1923 seine Lehren aus dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht. Frieden in Europa sei nur mittels einer Zollunion der Nationen Europas zu erreichen, (mit Afrika als gemeinsamer Kolonie und unter Ausschluss des „angelsächsischen Kapitalismus“ sowie des „kommunistischen Bolschewismus“) und zum Kampf gegen die „nationalen Chauvinisten, die Kommunisten, die Militaristen und die Schutzzollindustrien“ aufgerufen, zu einem „Entscheidungskampf zwischen Anti-Europäern und Pan-Europäern, zum Kampf zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Beschränktheit und Einsicht, zwischen Barbarei und Kultur.“ Der Chefredakteur des „Deutschen Gedanken“ bestand dagegen auf dem nationalen Prinzip:

Europas Schwerpunkt würde noch mehr nach Osten verschoben werden, wenn es den Ukrainern gelingen sollte, ihren Staat den bolschewistischen Fangarmen zu entreißen. Alles kommt darauf an, wie die Ostgrenze Paneuropas gezogen wird. Ganz undenkbar ist es, dass eine Linie, wie es augenblicklich der Fall ist, mitten durch das 40 Millionen zählende ukrainische Volk geht, indem die an Polen,Tschechoslowakei und Rumänien gefallenen Teile bei Europa, während die großen Massen der Ukrainer von Paneuropa ausgeschlossen bleiben sollen.

Schmidt trieb vor allem das deutsche Problem um:

Wir wollen gar nicht Europäisch sprechen, wenn das erkauft sein muss durch die ewige Verkrüppelung des deutschen Volksgedankens, wie es im Versailler Vertrag ist. Wir wollen zuerst unser deutsches Volk durch die Waffe des Selbstbestimmungsrechts nach tausendjährigem Ringen zu einer Einheit zusammenschmelzen...

Schmidt hatte mit Paul Rohrbach im März 1918, also noch im Krieg, die „Deutsch-Ukrainische Gesellschaft“ gegründet, verbunden mit dem Ziel, die Ukraine endgültig aus dem sowjetischen Staatsverbund zu lösen. Beide waren wirtschaftsliberal, aber vor allem nationalistisch. Rohrbach näherte sich immer mehr dem Nationalsozialismus an. Und der kulminierte „völkerrechtswissenschaftlich“ in einem kriegsvorbereitenden Artikel Carl Schmitts (April 1939):

Vom völkerrechtswissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, lassen sich Raum und politische Idee nicht trennen. Für uns gibt es weder raumlose politische Ideen, noch ideenlose Räume oder Raumprinzipien. Zu einer bestimmbaren politischen Idee wiederum gehört, dass ein bestimmtes Volk sie trägt, und dass sie einen bestimmten Gegner im Auge hat, wodurch sie die Qualität des Politischen erhält...Seit der Erklärung, die der Reichskanzler Adolf Hitler am 30. Februar 1938 im Deutschen Reichstag gegeben hat, besteht auf der Grundlage unseres nationalsozialistischen Volksgedankens ein deutsches Schutzrecht für die deutschen Volksgruppen fremder Staatsangehörigkeit. Damit ist ein echter völkerrechtlicher Grundsatz aufgestellt...

Schmitt definiert den Begriff „Deutsches Reich“:

Das Deutsche Reich (liegt) in der Mitte Europas, zwischen dem Universalismus des liberaldemokratischen, völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-revolutionären Ostens und (hat) nach beiden Fronten die Heiligkeit einer nicht universalistischen, volkhaften, völkerverachtenden Lebensordnung zu verteidigen... Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einem von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht.

Zurück zur Ukraine, welche in der Nachkriegszeit (die eine Vorkriegszeit war) „nur“ als sowjetische Republik existierte. Jedoch lebten allein im polnischen Teil der „ukrainischen Länder“ 4 Millionen Ukrainer. 1929 bildete sich in Wien die „Union Ukrainischer Nationalisten“ (OUN). Ihre Zentrale residierte in Berlin. Die OUN verantwortete zahlreiche terroristische Akte im polnischen Ostgalizien, die von der polnischen Pilsudski-Regierung ihrerseits mit Terror beantwortet wurde (z.B dem Niederbrennen ukrainischer Dörfer). Die Führer der OUN ließen sich in Extremnationalismus, Antisemitismus, Heldendenken und brutalem Männlichkeitskult kaum von den anderen Faschisten der Zeit überbieten. Historiker sprechen von der „Bandera-Generation“ (benannt nach dem OUN-Führer Stepan Bandera). Diese Männer waren zu jung für die reale Erfahrung des Ersten Weltkriegs, aber zu alt, um nicht von diesem geprägt zu sein. Aus diesen Opfern der Zerstörung rechtsstaatlicher und moralischer Schranken wurden Täter. Diese „Generation der Unbedingten“ (Michael Wild) sah sich im heldenhaften Kampf für ein idealisiertes Volk. Auch hier spielte die Schmittsche Vorstellung einer "volkhaften Raumordnung" eine Rolle, Zu "OUN-B"- Geboten gehörte z.B. „Du wirst den ukrainischen Staat erkämpfen oder im Kampf um ihn fallen“. Die Männer sahen sich als „fanatische“, Krieger auch im Kampf gegen andere ukrainische Gruppen. Unübersehbar waren die Sympathien vieler polnischer Ukrainer für das Deutsche Reich. Und dieses spielte souverän die ukrainische Karte. Gelernt ist gelernt.

In der Sowjetischen Republik Ukraine wurde zunächst eine Politik der „Ukrainisierung“ durchgeführt. Ein ukrainischsprachiges Schulwesen entstand. Jedoch führten die stalinsche Priorisierung der Schwerindustrie und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zur- zumindest billigend in Kauf genommenen - großen Hungersnot von 1932/33. Die so genannte „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ ist ein Euphemismus für gezielte Massenmorde. Bis zu 6 Millionen Ukrainer verloren ihr Leben.

Gemäß dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag 1938 fiel Galizien an die SU. Stalin setzte dort seine in der „Ostukraine“ praktizierte Repressionspolitik fort, inklusive Deportationen nach Sibirien. Die Deutschen setzten bei ihrem Einmarsch in Polen eine kleinere ukrainische Einheit ein („Bergbauernhilfe“). Der OUN-Chef Stepan Bandera, wegen terroristischer Akte in Polen interniert, kam mit der Niederlage Polens frei. Er nahm seinen Sitz in Krakau, also im „Generalgouvernement“. Ab 1940 war er offizieller „Führer“ („Providnyk“) der „OUN-B“. Seine Anhänger praktizierten einen faschistischen Gruß, verbunden mit einem „Slava Ukraini“ (Ruhm der Ukraine). Ihre schwarz-roten Farben symbolisierten „Blut und Boden“. Die Juden galten ihnen als „Werkzeuge des moskowitisch-bolschewistischen Regimes“.

Die legalistische „OUN-M“ wurde von Andrij Mel'nik geführt, der Anfang 1941 Hitler ein Memorandum übersandte, in dem er die Ukraine als wichtigen Faktor für die „Neuordnung“ Europas gegen die „moskowitischen und jüdischen Bestrebungen“ darstellte. Theodor Oberländer, Abwehr-Chef in Krakau und späterer Minister für Vertriebene unter Adenauer, organisierte zu Beginn des Überfalls auf die SU die Aufstellung zweier ukrainischer Bataillone („Nachtigall“, „Roland“) für den Einmarsch in die sowjetische Westukraine auf.

Am 30. Juni 1941 rief der „OUN-B“-Führer Iaroslaw Ste'ko stellvertretend für Bandera in Lermberg den Staat Ukraine aus. Wenige Stunden hatte in der Stadt das Massenmorden begonnen: Anhänger der neuen Regierung, aber auch Wehrmachtssoldaten töteten 4.000 jüdische Bewohner der Stadt, angeblich aus Wut über die mehreren hundert Toten, die das NKWD beimRüclmarsch hinterlassen hatte. Die Leichen lagen unter den Propagandaplakaten der Nazis und Bildern von Hitler und Bandera. Zahlreiche weitere Massaker folgten. An der Ermordung von über 33.000 Juden in der Babi Jar bei Kiew Ende September 1941 waren von 1200 Exekutoren 900 ukrainische „Hilfswillige“.

Zurück zur ukrainischen Regierung. Ste'ko schrieb in deutscher Sprache (der „lingua franca“ der besetzten Gebiete) Briefe an die „Führer“ Mussolini, den Kroaten Pantelic und Hitler und versicherte diese der Unterstützung durch das „ukrainische Volk und dessen Regierung im befreiten Lemberg“. Allerdings setzte der deutsche Verbündete seine Regierung schnell wieder ab. Über einen eigenen Staat, so erklärte man den OUN-Vertretern, könne nur der „Führer“ entscheiden. Hitler hatte schnell klar gemacht, dass es darum gehe, die eroberten Gebiete zu „beherrschen, zweitens zu verwalten, drittens auszubeuten“ (Notiz von Staatssekretär Weizsäcker). Bandera und später Ste'ko wurde in „Ehrenhaft“ nach Sachsenhausen gebracht. Die ukrainischen Nationalisten knüpfen damit bis heute am Mythos vom antinazistischen Bandera. Ostgalizien wurde dem Generalgouvernement zugeordnet. Die anderen ukrainischen Gebiete wurden zum „Reichskommissariat Ukraine“ formiert. Die beiden ukrainischen Bataillone wurden zu Schutzmannschaftskorps umgebildet und ab März 1942 im Partisanenkampf in Weißrussland eingesetzt.

Man konnte und wollte auf die Ukrainer nicht verzichten. Im „Reichskommissariat“ wurden 70 „Schuma“-Bataillone gebildet (35.000 Mann). Das deutsche Oberkommando plante mit ihnen eine gemeinsame Frontstellung gegen die Rote Armee.

Der deutschen Besatzungsmacht ging es um systematische Ausbeutung des Landes. Die Industriestadt Charkow in der Ostukraine wurde fast ein Jahr lang die Versorgung durch das umgebende Land entzogen. Fast 12.000 Bewohner starben an Unterernährung. Auch auf der Krim wurden bewusst Hungersnöte herbeigeführt. Es war vor allem die Verschleppung zahlloser junger Frauen und Männer zur Zwangsarbeit im besetzten Gebiet und in Deutschland, die das Verhältnis belastete. Die „OUN“ gründete Anfang 1943 die „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA). Und die kämpfte in der „Westukraine“ mit ungeheurer Brutalität gegen die Polen und gegen die sowjetischen Partisanen (unter denen ebenfalls zahlreiche Ukrainer waren), zerstörte aber auch die Nachschubwege der deutschen Truppen. Die UPA beging gezielt unbeschreibliche Massaker an der polnischen Minderheitsbevölkerung in Wolhynien. Bis zu 100.000 Polen wurden getötet.Bei polnischen Vergeltungsaktionen wurden 12.000 Ukrainer umgebracht. Die UPA drang auch in die Zentralukraine ein. Nach dem Abzug der Deutschen kämpfte sie als Untergrundarmee gegen die SU (bis 1951), wo sie 30.000 Menschen töteten. Stalin reagierte auf seine Weise mit der Verschleppung von bis zu 500.000 Westukrainern nach Sibirien.

1943, nach der Niederlage von Stalingrad und als Konkurrenz zu der UPA, bauten die Deutschen wieder ukrainische Verbände und die SS-Division „Die galizische Nr 1“ auf. Aufgenommen wurden nur Männer, deren Väter schon in der Habsburger Armee gedient hatten. Man sprach von „nichtgermanischen Freiwilligen“. Im Juli 1944 wurde die Division im Kessel von Brody eingesetzt. Von über 15000 Männern blieben nur 3000 übrig. Noch heute werden ihre Überreste gefunden.

Bilanz 1945. Nur 21 Jahre nach dem „Großen Schlachten“ hatte Deutschland einen Krieg begonnen, der weit mehr Tote forderte als der Erste Weltkrieg. 1945 hatte Polen 17,2% der Bevölkerung verloren, Deutschland 9,2%, die Sowjetunion 14,2%, in Zahlen: 13 Millionen Soldaten und 14 Million Zivilisten. Nach Angaben des ukrainischen Botschafters in Berlin sind 8 Millionen Ukrainer gestorben. Er zählt die ermordeten Juden dazu. Ihre deutschen und ukrainischen Mörder hatten dies anders gesehen. Eher so wie Bandera, den der Botschafter schätzt. In der Retrospektive lässt einen die nicht enden wollende Kette von extremen Gewaltverbrechen ratlos zurück. "Quelle connerie la guerre!" schrieb Jacques Prévert nach dem Krieg. Was für ein Irrsinn! Und was für irrsinnige Vollstrecker, ob vor Ort oder am Schreibtisch!

Der Buchenwaldschwur erweiterte das „Nie wieder Krieg!“ um ein „Nie wieder Faschismus!“ Er wurde im Kalten Krieg zum Ritual bagatellisiert, den Begriff "Faschismus" nahm man im Westen eher widerwillig hin, da er zur Termin0logie des sowjetischen Gegners gehörte. Der Schwur hielt jedoch aus unterschiedlichen Gründen recht lange – in Europa. Es war einem grünen Außenminister vorbehalten, im Jahre 1999 den Schwur zu einem Kriegsaufruf gegen Serbien modifizierzu modifizieren:

Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.

Fischer beerdigte damit die radikal pazifistischen Residuen der Grünen zugunsten eines „wertegeleiteten“ Bellizismus. Heute spricht man von „wertegeleiteter Außenpolitik“.

Und die muss sich zum ukrainisch-russischen Konflikt positionieren. Die Ukraine ist bekanntlich seit 1991 ein souveräner Staat, mit einer Bevölkerung, die angeblich zu 32% einen Stepan Bandera als Vorbild sieht. Bei den Majdan-Protesten 2013/14 trugen nicht nur offene Faschisten Bandera-Plakate. Der ukrainische Nationalismus der Regierung beförderte offensichtlich die kriegerische Sezession der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der ostukrainischen Donbas-Region. Und diese werden – was nicht überraschen kann – wirtschaftlich und politisch immer mehr in die russische Föderation integriert.

Dass die gegenwärtige Situation zu Sorgen Anlass gibt, ist evident. Zu viele Interessen kreuzen sich, um den Frieden gesichert zu sehen. Der planetarische Kampf um ökonomische und politische Hegemonie zwischen den USA und China, die erneute Zunahme des wirtschaftlichen Gewichts Russlands, die Aufrechterhaltung der autoritären Regierung Putins und der (wirtschaftlich) herrschenden Oligarchie, die Unterstützung der Sezession der Ostukraine durch die russische Konföderation, die Krimfrage, die z.T. divergierenden Interessen der EU-Staaten, deren autoritäre Herrschaft, deren wirtschaftlichen Oligarchen, die Erdgasfrage, die „erfolgreiche“ Arbeit der Rüstungslobbies, Imperialismus, Nationalismus – man kann kaum aufhören. Konkret äußert sich dies in Truppenaufmärschen, Manövern, und echten Truppenbewegungen, Waffenlieferungen, martialischen Drohungen, regelrechten Pressekampagnen. Und wie stets bei einer militärischen Eskalation, muss die rationale historische Analyse der simplen Schuldzuweisung weichen. Wofür gibt es schließlich die Presse? Die Hölle, das sind die anderen.


Und ganz schnell werden die Diskurse und die Bilder der Vergangenheit, in zeitgemäßer Gestalt, natürlich, wieder aufgewärmt. Nehmen wir – nur als ein Beispiel von zahlreichen anderen - das liberale Presseschlachtschiff der deutschen Mittelklasse, DIE ZEIT. Die leistete sich in der Ausgabe des 20. Januar buchstäblich einen Eye-Catcher. Auf der ersten Seite schaut einen „der Putin“ an, die Militärmütze ins Gesicht gezogen, der Kopf steckt tief in einem breiten Pelzkragen. Putins zusammen gekniffende blaue Augen schauen uns an, eiskalt, lauernd. „Was will er denn?“ fragt uns der Titel. Und weiter: „Ein Krieg in der Ukraine ist nicht sein eigentliches Ziel, doch Putin nimmt ihn Kauf.“ Er plane nämlich den „Umbau Europas“. Da ist er wieder, der unberechenbare Bär, der nur auf eine falsche Reaktion seines Beuteopfers wartet. Auf der Seite 3 lautet der Titel folgerichtig: „Auf dem Sprung“. Der ganze Text beschreibt den russischen Präsidenten als eine Art „Stalin 2022“, die Selbstabschottung des Diktators, seine Angst vor Infektionen, seine Wohnsitze (die Datscha darf nicht fehlen), die tiefe Abneigung gegen „Europa und die Welt“. Putins Ziel, so der Autor, sei die „Befreiung“ Europas von den Amerikanern, die durch Russland als „Schutzmacht“ abgelöst werden sollen.


Trost findet der horrifizierte Leser hoffentlich auf der Nebenseite. Eine sichtlich gereifte deutsche Außenministerin schaut dort sorgenvoll, aber entschlossen auf die andere Seite. Die „Verhandlungsreisende“ setzt für die Autorin auf „Worte statt Waffen“. Sie reist nach Kiew: „Da steht sie und schaut auf einen hölzernen Jesus am Kreuz“, der das Denkmal der Majdankämpfer markiert. Und sie reist nach Moskau, das „noch kälter und verschneiter als Kiew“ ist. Baerbock besucht das Grab des unbekannten Soldaten am Kreml, ein „Pflichttermin, und dennoch rührend“. Baerbock spricht später von „Scham und Ehrfurcht“. Neben ihr steht der leibhaftige Labrow: „Er brummelt ein bisschen, aber es klingt wie ein freundliches Brummeln“. Der russische Außenbär scheint dauernd zu „brummeln“. Baerbock ist aber tapfer (trotz geschwollenem Auge). „Sie muss erschöpft sein“, konstatiert die Autorin empathisch. Vielleicht liegt es daran, dass Baerbock nach dem ersten gemeinsamen Auftritt mit Lawrow ohne Händeschütteln und wortlos an ihrem Gastgeber vorbei zur Tür ging, wie die FAZ berichtete.

Pazifismus oder "notwendige Robustheit"?

Aber die Pressevielfalt ist gesichert. Für Spiegel-Online ist Putin der „Giftmörder“, für die NZZ ist er völlig „irrational“ und „kokettiert mit der Apokalypse“. Und in der „Welt“ findet sich eine neue Variante des alten Fischerarguments von 1999:

Geschichtsvergessen und unmoralisch ist es, wenn Deutschland, der Nachfolgestaat der Nazidiktatur, einfach nur zuschaut, wenn der Nachfolgestaat der Sowjetdiktatur die Ukraine überfällt.

Die Europapolitiker Michael Gahler (CDU), "Paneuropäer", außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion und Vorstand des Lobbyvereins und Thinktanks "Kangorou-Group" (s. Lobbypedia) und Viola von Cramon-Taubadel (Grüne), stellvertretende Vorsitzende der Ukraine-Delegation des Europäischen Parlaments, haben eine ausführlichere Variante dieses Arguments vorgelegt. Sie ist vor Jahren vom „Zentrum liberale Moderne“ entwickelt worden und die geht ziemlich weit, wenn auch nicht weit genug, in die Geschichte zurück: Sie sei etwas länger zitiert:

Wer aus der Geschichte gelernt hat und fest im Kreise der liberalen Demokratien verankert ist, darf weder Täter und Opfer verwechseln noch sie gleich behandeln. Erstaunt muss man zur Kenntnis nehmen, wie bei Politikern verschiedenster Parteien in Deutschland offenbar Wertefundament und Common Sense ins Rutschen kommen, wenn sie sich zu Russland äußern. Unsere Geschichte erlaubt es nicht, Waffen zu liefern, die gegen Russland eingesetzt werden könnten, hört man aus der Ampelkoalition, aber auch über sie hinaus. Das lässt aufhorchen. Lässt die deutsche Geschichte tatsächlich solche Schlüsse zu?

Gute Frage. Und die Antwort kann nach dem oben Beschriebenen doch nur lauten: Ja, was denn sonst? Aber nein:

Russland umzingelt (?) die Ukraine und provoziert damit seit Wochen mit mehr als 100.000 Soldaten, schweren Waffen sowie der gesamten militärischen Infrastruktur, die für einen Einmarsch benötigt würde.

Das letzte Mal, dass in Europa ein Land ohne Kriegserklärung vergleichbaren Druck auf einen schwächeren Nachbarn ausgeübt hat, war wohl 1938 kurz vor der Münchner Konferenz, als die deutsche Wehrmacht ihre Truppen rund um (?) die Tschechoslowakei zusammengezogen hatte und diese zum Einmarsch bereit standen. In dem Moment gaben Frankreich und Großbritannien nach, versagten der Tschechoslowakei den Beistand, weil sie hofften, damit einen „großen“ Krieg in Europa zu verhindern...

Das „Appeasement“ war es also, der Pazifismus, der nach den Worten eines ehemaligen CDU-Generalsekretärs Auschwitz erst möglich gemacht hat. Russland ist also das gegenwärtige Äquivalent von Nazideutschland? Und Putin tatsächlich der "neue Hitler" oder der „neue Stalin“? Eine feste Haltung Daladiers und Chamberlains hätte also tatsächlich Hitler an der Annexion Tschechiens und der Installation eines autoritären slowakischen Staates gehindert? „Willen“ und „notwendige Robustheit“ hätten vielleicht sogar den 2. Weltkrieg, konkreter, den deutschen Angriffskrieg auf Osteuropa verhindert, und damit den Holocaust?

Europa und Deutschland fehlt es sicher nicht an Verhandlungs- und Dialogbereitschaft oder gar dem Willen zur Entspannung mit Russland. Aber Deutschland fehlt es am Willen, wenn es um Frieden geht, notfalls auch die notwendige Robustheit zu demonstrieren. Damit sind wir in EU und Nato zunehmend allein zu Haus, während große und kleine Partner den Appeasement-Fehler von 1938/39 vermeiden wollen.

Ein Blick auf die Karte genügt, um festzustellen, dass der deutsche Angriffskrieg in Osteuropa nicht nur, aber vor allem über Polen, Belarus und die Ukraine besonders viel Leid gebracht hat. Der Großteil auch der Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung hat dort stattgefunden.

Deshalb muss die Lehre der Geschichte sein: Nie wieder soll die Ukraine erneut leichtes Opfer einer auswärtigen Aggression werden, diesmal durch deutsches Unterlassen (Tagesspiegel, 26. Jan.)

Ob sich die deutsche Außenministerin von der Argumentation einer Parteifreundin und eines Rüstungslobbyisten überzeugen lässt? Ist diese nicht vielmehr ein ziemlich deutliches Verkaufsargument der Rüstungskonzerne? Zumindest werden die Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine immer lauter. Sogar ein ehemaliger ukrainischer Boxchampion wird in den Ring geschickt. Momentan zögert Baerbock noch vor dem entscheidenden Schritt. Den Funke-Medien teilt sie mit:


Wir sind in einem sehr kritischen Moment... Wenn man das Schlimmste verhindern will, sollte man nicht das Schlimmste herbeireden.. Nun öffnet sich ein kleines Fenster für Gespräche. Dieses müssen wir nutzen.

Auch die Lehren aus der Geschichte formuliert sie ein wenig anders:

Wir haben eine besondere Verantwortung gegenüber allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, weil Deutschland unfassbares Leid über die Menschen dort gebracht hat. Ja, deshalb haben wir auch eine historische Verantwortung, alles zu tun, um eine militärische Eskalation zu verhindern (Westf. Rundschau, 28.Jan.).

Frau Baerbock, wäre es angesichts des seit über hundert Jahren durch deutsche Kriegstreiber hervorgerufenen Menschenleids nicht angemessen, das „auch eine Verantwortung “ durch ein „für immer die Verantwortung“ zu ersetzen? Mit dem Philosophen Alain: "Es reicht Nein zu sagen."

Christian Gerlach, Extremely Violent Societies, Cambridge 2010

HISF (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht, Hamburg 2002

Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, Stuttgart 2002

Herfried Münkler, Der Große Krieg, Reinbek 2014

Klaus Kellmann, Dimensionen der Mittäterschaft, Wien 2019

Michael Wildt, Generation der Unbedingten, Hamburg 2002

Reinhard Opitz, Europoastrategien des deutschen Kapitals, Köln 1977

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