Extreme Massengewalt im 20. Jahrhundert

Ein neuer Ansatz? Alle bisherige Geschichte, vor allem das 20. Jahrhundert, ist auch die Geschichte von Massengewalt.Ist der Begriff Genozid geeignet, die Realität korrekt wiederzugeben?

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Laut UNO-Konvention bezeichnet der Begriff Genozid acts committed with the intent to destroy in whole or in a part, a national, ethnical, racial or religious group as such. Mittlerweile ist diese Definition allgemein akzeptiert, Grundlage historischer Forschung, politischen Handelns und internationaler Gerichtshöfe.

Als begrifflicher Rahmen ist Genozid für den Historiker nicht immer nützlich, so der Historiker Christian Gerlach in seiner Studie über "extrem violent societies" (1). Gerlach, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bern und ausgewiesener Experte für Massenverbrechen im zweiten Weltkrieg, legt ein Werk gegen die historiographische Doxa vor. Und für den Verstand, denn wer je ernsthaft über Massengewalt nachgedacht hat, stieß schnell an die Grenzen des Genozidkonzepts.

Oft fehlt die "empirische Fundierung", so Gerlach, ohne die eine "dichte Beschreibung" nicht möglich sei. Er setzt den scheinbar einfachen Begriff "extreme Massengewalt" dagegen. Diese gelte es sozialgeschichtlich, das heißt genuin historisch mit kritischer Quellenarbeit und (vorsichtiger) Kontextualisierung in den spezifischen "space and time" darzustellen, um daraus wiederum vorsichtig Gemeinsamkeiten zu formulieren.

In fünf Fallanalysen konkretisiert Gerlach seinen Approach:

In "A coalition of violence" stellt er Massengewalt in Indonesien 1965-66 dar, in "Participating and profiteering" die Vernichtung der osmanischen Armenier. Der "Crisis of societies" am Beispiel Bangladesh folgen Analysen der imperialistischen Antiguerillakriege und der deutschen Besatzung Griechenlands.

Mit dem ZEIT-Rezensenten und Historiker Thomas Sandkühler bin ich der Ansicht, dass die erste Fallanalyse "herausragend" ist, sowohl was den historischen Erkenntniswert betrifft (das Geschehen ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt), als auch in der Exemplarität der Darstellung. Darum eine (zu) kurze Zusammenfassung:

Ende 1965 und Anfang 1966 wurden auf dem Archipel mindestens fünfhunderttausend wirkliche ound vermeintliche Kommunisten oft bestialisch abgeschlachtet. Gerlach belegt konkret und quellenkritisch, dass staatliche Gewalt allein diese Exzesse nicht erklären kann, auch nicht die Parteienkämpfe oder die Religionen. Er stellt eine "Überlappung" dieser drei "Faktoren" fest. "Ein Gewebe von Interessen schuf ein Netzwerk der Verfolgung". Der Hintergrund wurde gebildet von class conflicts in the transformation of the countryside, the establishing of a non-Chinese domestic elite, migration, clashes between the nation state an regional concerns, between secular modernists, traditional and orthodox moslems, and between foreign interests and locals (S. 88), oder vereinfacht: "a coalition for violence".

Die "foreign interests" zeigten sich beispielsweise im logistischen Support: US-Plantagenmanager lieferten Listen der zu Tötenden oder beuteten Gefangene als Zwangsarbeiter aus, der britische Geheimdienst lieferte geeignete Propagandaspezialisten, und ein gewisser BND (in bekannter Kontinuität) für 300000 DM Maschinengewehre und Funkgerät. Nach der Massengewalt - so Gerlach - hatte Indonesien ein neues Staats- und ein neues Sozialsystem: The poor were silenced again.

In der Konklusion seiner Analysen verweist Gerlach auf die Komplexität, das Prozesshafte der Geschehen, was ein "wasserdichtes Modell" bei historischer Redlichkeit unmöglich macht. Einige "patterns" sind dennoch erkennbar:

Extreme Massengewalt ereignet sich im "temporary state of crisis". Soziale und Gewaltkrire verstärken sich im Prozess. Charakteristika der erwähnten Krise sind Konflikte zwischen den Eliten und Prozesse der Akkumulation von Kapital und Macht, was besonders an den Beispielen der Vernichtung der Armenier und der deutschen Besatzungspolitik in Griechenland deutlich gemacht wird.

Auffallend ist auch die extreme Massengewalt gegen "vermittelnde Minoritäten", die - ob Juden, Armenier, Griechen - von der Gewaltwelle überrascht werden (vorausgehende Pogrome erscheinen erst ex post als Vorläufer).

Als "Junction between state and society" spielen vor allem die Milizen (die wiederum von gesellschaftlich "parkenden" jungen Männern gebildet werden) eine wichtige Rolle. Dies verweist auch auf die "temporary coalition" von Massengewalt ausübenden Sozialgruppen hin. Deren Ineresssenüberlappung erklärt auch die Intensität der Gewalt. Sie isoliert gleichzeitig andere Gruppen, die zu Gewaltopfern werden.

Wichtig für die Diskussion des Gerlachschen Ansatzes ist der Rahmen. Der Autor situiert die extreme Massengewalt in der "Transformation of non-industrialized regions" im Prozess kapitalistischer Durchdringung. Das gefällt dem Kritiker der FAZ, Christian Hartmann, Historiker am Institut für Zeitgeschichte, so wenig, dass er behauptet, Gerlach beziehe sich auf vormoderne bäuerliche Gesellschaften. Überhaupt übe der Autor "schnöde Kapitalismuskritik" und verfehle seinen Anspruch. Vielleicht sollte Hartmann das Buch noch einmal durcharbeiten.

Um auf die Kritik am Genozidbegriff zurückzukommen: Die Fallstudien und die Konklusion zeigen m.E. recht überzeugend dessen zu starren, auf den Staat als Akteur fixierten und zu allgemeinen Zugriff. Gerlach verdeutlicht zudem, dass ihm eine Art ethnizistische Falle zugrunde liegt: Mit der essentialistischen "primordial interpretation of ethnicity" wird auf das Verständnis von "Rasse", "Ethnie" und "Nation" als historische Konstrukte verzichtet. Damit wird der Instrumentalisierung des Begriffs Vorschub geleistet. Kritisch verweist der Historiker auf die "humanitären Interventionen" und die "ethnischen Säuberungen" der Zeitgeschichte.

Insgesamt hat Gerlach ein ungemein gelehrtes und methodisch kluges Buch vorgelegt. Es ist übrigens wohltuend, dass der Autor keine Furcht vor Begriffen wie Kapitalismus, Ausbeutung und Imperialismus hat. Ich wünschte mir Kapitel dieses Buches als Pflichtlektüre für Geschichtsstudenten und - vor allem - für Geschichtslehrer.

Und? Gibt es eine bessere Zukunft? It's hard to see how this could happen in a capitalist world of inequality, imbalances, and exploitation (Conclusions, S. 289). So ist es wohl. Leider.

!) Christian Gerlach, Extremely violent societies. Mass Violence in the Twentieth-Century World, Cambridge 2010 (University Press). Auf Deutsch: Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften im 20. Jahrhundert. München 2011 (DVA, 39.99 Euro)

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