Fraktale in der Bildungslandschaft

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dem Schulkritiker Siegfried Bernfeld, der 1925 in Sisyphos den Prototyp des Erziehers und Lehrers entdeckte, verdanken wir auch die Figur des fiktiven Unterrichtsministers Machiavell. In einer Rede vor Hofräten lässt er diesen zum Beispiel folgendes verlautbaren: "Sie müssen verstehen, dass die Organisation des Erziehungswesens das entscheidende Problem ist. Die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der bürgerlichen Jugend von der proletarischen.Ich hoffe, Sie vergessen keinen Augenblick, dass wir uns in einer geheimen Amtssitzung befinden ..."

Ich stelle mir vor, jener Machiavell schriebe einen kommentierenden Brief zum Konzept "Fraktale Organisationsformen", wie es an einer größeren Schule in Osthessen entwickelt wurde (1).

"Sehr geehrter schulleitender Mitarbeiter,

Wir alle erleben seit einigen Jahren enthusiasmiert den notwendigen Paradigmenwechsel an Deutschlands Erziehungsanstalten (und nicht nur dort). Tausende von Schulen haben uns ihre Konzepte zur systemischen Selbststeuerung von Unterrichtsprozessen zwecks Evaluation zugesandt. Das Ihre hat der Frau Ministerpräsidentin, den Arbeigeberverbänden, den Lehrergewerkschaften, den Stiftungen, den Consulting-Unternehmen u.a.m. besonders gefallen. Sie sind deshalb für den Landespreis in Bronze für besonders innovative Unternehmensprozesse nominiert worden.

Schon der Titel Ihrer originellen Powerpoint-Präsentation Fraktale Organisationsstrukturen und die Entwicklung einer Teamorganisation begeistert uns wegen der innovativen Sprache . Auch das nicht minder originelle Pfeil-Logo Selbstverantwortung Plus erscheint uns richtungsweisend. Sie wollen MEHR als nur VERANTWORTUNG. Herr Dr. Hand vom Textilunternehmerverband lobte Ihre implizite Erkenntnis, dass der Appell an Selbstverantwortung stets kostenreduzierend wirkt. Mein enger Mitarbeiter Dr. Lobbing hebt die lautliche Nähe zu "Selbstausbeutung plus" hervor (das bleibt bitte unter uns!).

Sie schreiben in Ihrem Konzept: Eng damit verbunden ist die Förderung des lebensbegleitenden Lernens. Chapeau, mein Lieber. Sie haben die künftigen Humankapitale im Griff, ihre "Pauker" und "Paukerinnen" transformieren jedes Lernprodukt zu seinem eigenen individuellen Selbstlernprodukt, von der Schule bis zur Bahre, vom lernhelferbegleiteten bis zum sterbehelferbegleiteten Lernen. Sie machen Ihre Produkte im besten Sinn "fit for the future". Mit gefällt immer mehr das Bild des Insekts, das ohne kognitive Reflexion auf Veränderungen im Network re-agiert.

Allerdings, werter Executive Officer, sollten Sie stets die Begriffswahl im Auge haben. Sie schreiben: Die Lehrer schaffen Lehr - und Lernarrangements, die weitgehend Formen selbstorganisierten und lernbegletienden Lernens ermöglichen. Eine Forderung, die uns gefiel. Doch fühlte ich beim Partizip "weitgehend", dass ich meine glatte Stirn ein wenig runzelte. Warum nur "weitgehend"? Geht es nicht noch "weiter"? Oder gar "weitest"? Arbeiten Sie daran! Es gibt nämlich Schulen, die in der Tat sprachlich schon "weiter" sind! Wir werden Sie diesbezüglich evaluieren. Ich erwarte in Kürze Ihre Unterschrift unter eine Zielvereinbarung, die Ihnen Prof. Dr. Eifer-Streber vom Verband deutscher Euphemisten zumailen wird.

Meinem externen Consultant Dr. Mandel gefiel besonders die Aussage: Die fraktalen Organisationsstrukturen führen im Zuge eines Quality-Management-Systems zu Individualfeedback und persönlicher Entwicklung. That's it! Weg mit den Top-Down-Prozessen (natürlich nicht in den oberen Etagen, damit wir uns richtig verstehen!). Darum entwickeln wir die weitgehende (s.o.!) Deregulierung der Entscheidungen. Auch hier hören Sie mein eindeutiges Yes. Bei Deregulierung sowieso. Meine oben genannten Mit-Entscheidungsträger sind ebenfalls voll d'accord. Die Zeit der Obrigkeitsschule ist passé. Man muss bekanntlich alles ändern, damit sich nichts ändert (bleibt bitte auch unter uns). Bei Ihnen bekommen (sehr schön! "bekommen", nicht "erlangen") die Abteilungsebenen und die (untergeordneten) Fraktale einen hohen Grad an Autonomie. Wir wissen, was Sie meinen - und korrekterweise nicht sagen. Aber: "Autonomie"? Und die gar "fraktal"? Klingt uns arg anarchisch und damit versteckte Begierden beim Personal erweckend. Ersetzen Sie "Autonomie" bitte sofort durch "Einverständige Zweck-Mittel-Identifikation"!

Dies entspräche auch Ihrer Definition der "Fraktale": selbständige Einheiten, in denen Qualitätsziele gelebt werden. Das "Leben der Qualitätsziele ist einfach Spitze, werter Anstaltsleiter. Und die Ziele, schreiben Sie, richten sich nach dem Unternehmenszielsystem. Dieses "Leben" erlebt eine ständig stattfindende Messung und Bewertung der Leistung der Fraktale. Klasse! Die "permanente Evaluation" statt der "permanenten Revolution" eines früheren Troubleshooters. Das ist es, was Sie als "Vitalität" bezeichnen, was - wie jeder nun weiß - Herausfinden und Nutzen von Erfolgsfaktoren bedeutet. Ich fühle es: Sie werden es schaffen, Ihr vitales Personal auf diese Erfolgsfaktoren anzusetzen.

Sehr zufrieden sind meine externen Consultants auch mit Ihrem Konzept der systemischen Unterrichtsentwicklung. Die so genannte "pädagogische Freiheit" der Konservativen unter der Lehrerschaft war schon immer Sand im Betriebe. Kontrolle, besser: Controlling durch halbjährliche Lernstandserhebungen gefällt uns immer wieder. Warum aber nicht monatlich? Frau Dr. Starker vom gleichnamigen Verlag hat mir diesbezüglich gutes Lernmaterial (individualisiert, versteht sich) in Aussicht gestellt.

Regelrecht begeistert waren wir über Ihr Kompetenzraster. Raster sind uns Regierenden immer sympathisch. Keiner soll durchfallen (die anwesenden Herrschaften lachen). Verstehen Sie: Keiner! Gut Ihre präventiven Maßnahmen: Nutzung freier Zeitressourcen in SOL-Phasen für die individuelle Lernberatung. Sehr zielführend. Time's money. Dr. Lobbing vom Verband industrieller Sozialdiagnostiker lobte besonders Ihr Reflexionsraster zum Arbeits- und Sozialverhalten (RRASV).

Am Rande sei erwähnt, dass die Namen der von Ihnen erwähnten methodischen Approaches: Moodle, Schulfix, Teamlearn etc. das Kabinett regelrecht inspirierte. Bezüglich des notwendigen kooperativ-individuellen Lernens kamen wir auf Namen wie "Duddel", "Waddel", aber auch "Cooking" (die MP lachte herzhaft und wir anschließend auch) und bezüglich des schmerzhaften Vokabellernens auf "Ypsi". Für die spaßige Viertelstunde vielen Dank!

Zum Schluss ein ministerialer Advice: Gehen Sie bitte ökonomisch mit dem Begriff "Fraktale" um. Es lädt zu Wortspielen regelrecht ein - und das wäre schade für Ihr Alleinstellungsmerkmal auf dem Bildungsmarkt. Ich möchte Ihnen, lieber Officer, auch reinen Wein einschenken. Ihr Konzept ist ein Heiße-Luft-Konzept. Es ist von vollkommen schöner Hohlheit - aber für die Dummies, die Ihre Anstalt besuchen, reicht es allemal. Wir sehen uns bei der Preisverleihung.

PS. Ich melde hiermit meinen Sohn, der bekanntlich Ihre Anstalt besucht (mit Erfolg) von derselben ab. Ich denke, er hat eine gute Bildung verdient.

Ihr Machiavel"

(1) Die folgenden Zitate sind der Powerpopint-Präsentation einer hessischen Schule entnommen. Ich habe mich um Repräsentativität bemüht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden