Gaucks Besuch

Oradour Demnächst wird der Bundespräsident mit seinem französischen Kollegen Oradour besuchen. Sollte er nicht - statt peinliche Worte zu finden - einfach einmal schweigen?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein Überlebender des Massakers, Robert Hebras, schreitet im Oktober 2011 durch die Hauptstraße von Oradour-sur-Glane
Ein Überlebender des Massakers, Robert Hebras, schreitet im Oktober 2011 durch die Hauptstraße von Oradour-sur-Glane

Foto: JEAN-PIERRE MULLER/ AFP/ Getty Images

Oradour je n'ose plus

Lire ou prononcer ton nom

(Jean Tardieu)

Oradour nicht mehr wage ich

Zu lesen oder sprechen deinen Namen

Am 3. September wird Bundespräsident Gauck zusammen mit Francois Hollande Oradour-sur-Glane besuchen und sicherlich bewegende Worte finden. Wenigstens für die veröffentlichte Meinung werden es die "richtigen" sein. Vielleicht die Worte, die Gauck in Sant'Anna di Strazzena fand: Das Verbrechen, das hier stattgefunden hat, darf niemand, der davon weiß, vergessen. Vielleicht der Spruch von der Versöhnung als "Geschenk" oder der vom Recht der Opfer auf Erinnerung und Gedenken.

Vielleicht wird auch Gauck von einer "entfesselten unmenschlichen Waffen-SS" sprechen wie Schröder 2004 bei der offiziellen Erinnerung an die Landung der Alliierten. Diese Redewendung ist mittlerweile gängig. Sie entlastet ja auch. Ob Gauck es schafft, wie Schröder zu sagen, er "schäme sich im Namen der Deutschen"?

Kein Kniefall, nein, aber wäre ein stilles Entsetzen, ein einfaches Schweigen, wie Tardieu es in seinem Gedicht anmahnt, nicht angemessener? Wenn man überhaupt von "angemessenen Verhalten" sprechen mag.

Erinnerung

Bis zum Juni 1944 ist Oradour ein etwas verschlafenes großes Dorf, ein "bourg" von knapp 1000 Bewohnern, mit gothisch-romanischer Kirche, kleinen Geschäften, Handwerksbetrieben, einem Markt und einem Kirmesplatz. Eine Trambahn verbindet es mit dem 20 Kilometer entfernten Limoges. Im Zentrum steht wie in vielen französischen Orten ein Freiheitsbaum, eine Eiche. Sie wurde im Revolutionsjahr 1848 gepflanzt "Die Eiche ist der eigentliche Baum der Freiheit", hatte Abbé Grégoire schon 1794 dekretiert. Neben dem fast hundertjährigen Baum befindet sich das "Café du Chêne". Der Wirt hat einige Tische für die beliebte "heure de l'apéro"vor die Tür gestellt. Schließlich ist Sommer.

Deutsche Soldaten haben die Bewohner bis zum 10. Juni 1944 nicht zu Gesicht bekommen. Auch wenn die Mehrheit bis 1940 mehrheitlich links wählte, ist die Résistance bisher kaum in Erscheinung getreten. Allerdings hat der Widerstand im ganzen Südwesten Frankreichs seit der Landung in der Normandie stark zugenommen. Dagegen setzen die deutschen Besatzer die an der Ostfront praktizierte "Bandenbekämpfung". Das besetzte Land ist zu "säubern". Es wird wieder einmal kein Pardon gegeben. Gefangene werden wieder einmal nicht gemacht.

SS-Truppen hinterlassen auf ihrem Weg in die Normandie eine Blutspur. Aus Rache und zur Abschreckung befiehlt SS-General Lammerding, am 9. Juni in Tulle 100 Männer in der Hauptstraße an Balkonen und Laternen aufzuhängen (dem hundertsten "schenkt" man das Leben). An den Tagen darauf werden 149 Bewohner in Konzentrationslager deportiert. Francois Hollande war übrigens lange Bürgermeister von Tulle.

Einen Tag später, es ist ein Samstag, veranlasst General Lammerding ein "vorbereitendes Treffen" im Bahnhofshotel von Saint-Junien, 12 Kilometer von Oradour entfernt gelegen. Nach einem Massenmord an Résistants hat der Widerstand einen SS-Kommandaten erschossen, der "natürlich" zu rächen ist. Der Oberscharführer Kleist, vier Vichy-Milizen sowie Sturmbannführer Diekmann beschließen bei Kaffee die Zerstörung Oradours. Unverzüglich ist die Marschbereitschaft herzustellen.

Um 13.30 Uhr, brechen ungefähr 200 Bewaffnete der "SS-Panzerdivision Das Reich" unter Diekmanns Kommando auf. Das Dorf wird eingekreist. Soldaten marschieren ins Dorf. Die überraschten Bewohner, so die Zeugnisse, betrachten die Eindringlinge eher mit Neugier als mit Angst. Sie ahnen nichts.

Über den öffentlichen Ausrufer muss der (von Vichy ernannte) Bürgermeister die Bewohner angeblich zwecks Verteilung von Fleisch- und Tabakrationen auf dem Jahrmarktplatz antreten lassen. Frauen und Kinder werden von den Männern getrennt.Die Häuser werden durchsucht, auch die vier Schulen. Auf Lastwagen werden M enschen aus den umliegenden Dörfern heran transportiert.

Um 14.45 Uhr beginnt Diekmann seine kurze, von einem elsässer Waffen-SS-Mann übersetzte Ansprache an die Bevölkerung. Es gäbe Waffen- und Munitionsverstecke im Dorf. Jeder, der eine Waffe besitze, solle vortreten. Nur ein Bauer reagiert. Er habe ein Jagdgewehr. Die SS-Männer winken ab.. Diekmann verlangt vom Bürgermeister dreißig Geiseln, was dieser zurückweist.

Gegen 15 Uhr werden Frauen und Kinder von den Männern getrennt und in die Kirche geführt. Eine quälende Stunde vergeht Dann wird der Befehl erteilt, die 180 Männer zu den sechs Exekutionsorten zu führen, Scheunen, Schuppen, eine Garage. Nach der Gerichtsaussage des Obersturmführers Heinz Barth beginnt um 16 Uhr das Massaker mit Maschinengewehren. Der damals 23-jährige Barth gibt selbst Feuerbefehl. Die zum Teil noch lebenden Opfer werden anschließend mit Stroh und Holz bedeckt und angezündet. Die nicht direkt beteiligten Täter plündern inzwischen die Häuser und stecken sie anschließend in Brand. Flüchtende Bewohner werden erschossen.

Von den 350 Frauen und Kindern kann sich nur Marguerite Rouffanche retten. Ihr verlässliches Zeugnis erlaubt eine ungefähre Rekonstruktion des Geschehens. SS-Soldaten - die Zeugin schätzt sie auf gerade zwanzig Jahre - tragen eine Kiste ins Kirchenschiff, aus der Schnüre herausragen. Diese werden angezündet. Die Kiste explodiert, und dicker schwarzer Rauch entsteht. Die Frauen und Kinder fliehen verzweifelt hin und her. Sie werden gnadenlos niedergeschossen, manche mit Granaten beworfen. Schließlich brennt die ganze Kirche. Die Opfer werden unter dem zusammenstürzenden Dach begraben.

Um 18 Uhr erreicht eine Gruppe Reisender aus Limoges den Ort. Die Soldaten kontrollieren ihre Identität, befehlen ihnen, den Ort zu verlassen. Ein Unteroffizier in korrektem Französisch: "Sie können sagen, Sie haben Glück gehabt." Vor Gericht drückt Heinz Bahrt das so aus: "Als die Handlung abgeschlossen war, wie soll ich mich da ausdrücken, ging man gewissermaßen zur Tagesordnung über, wie man heute so sagt."

Bis auf eine kleine Gruppe verlassen die Soldaten den Ort. Die Zurückgebliebenen entdecken im Haus eines Weinhändlers Champagner. Das Schifferklavier erklingt. Kameradschaft.

Oradour n'a plus de femmes

Oradour n'a plus un homme

Oradour n'a plus de feuilles

Oradour n'a plus de pierres

Oradour n'a plus d'église

Oradour n'a plus d'enfants

(Jean Tardieu)

Oradour hat keine Frauen mehr

Oradour hat nicht einen Mann mehr

Oradour hat keine Blätter mehr

Oradour hat keine Steine mehr

Oradour hat keine Kirche mehr

Oradour hat keine Kinder mehr

Das zerstörte Dorf wird nicht wieder aufgebaut. Es bleibt ein Ort des Todes. 1953 wird ein neues Oradour errichtet, einige hundert Meter von den Ruinen entfernt. Der neue Doktor des Dorfs entdeckt einen Ort der Trauer , leere Straßen und - vor allem - keine Kinder.

Sturmbannführer Adolf Diekmann stirbt in der Schlacht der Normandie. Er "fällt für sein Vaterland", wie man zu sagen beliebt. SS-Gruppenführer Heinz Lämmerding wird 1951 zum Tode verurteilt - in Abwesenheit, er lebt als Bauunternehmer in Düsseldorf und wird nicht ausgeliefert. Bei seiner Beerdigung 1971 halten alte Kameraden die Totenrede. Obersturmführer Heinz Barth - ebenfalls zum Tode verurteilt - lebt inkognito in der DDR, wo er schließlich enttarnt und zu lebenslangem Gefängnis verurteilt wird. 1997 wird er freigelassen, bekommt rückwirkend eine Kriegsopferrente, die erst 2000 annuliert wird. Er stirbt 2007.

Epilog

Mit dem Vers "Oradour n'a plus de feuilles" (Oradour hat keine Blätter mehr) irrte Jean Tardieu. Ausgerechnet die Freiheitseiche überlebte (so wie die uralte Eibe an der Kirche), "immer noch so schön, aber sehr traurig in der Einsamkeit des vergessenen Zeugen", wie der Historiker Robert Bourdu schreibt. Bourdu stellt sich die Ausgelassenheit der Menschen beim Pflanzen des Baumes vor, sein friedliches Leben in einem eher langweiligen Dorf und dann den unbeschreiblichen Horror. Er imaginiert, dass man eines Tages die Friedenseiche fällen und sich von Jahresring zu Jahresring zurückarbeiten wird. In der Schicht von 1944, die den Frühsommer indiziert, wird man winzige rostfarbene Spuren des Glutbrandes finden, inmitten dessen der Freiheitsbaum stand.

Aber, so Bourdu, die Schreie der Sterbenden sind nur im Gedächtnis der Menschen aufbewahrt. "Was nicht aufhört wehzutun, bleibt im Gedächtnis" (Nietzsche) - und sollte wahrlich nicht mit salbungsvollen präsidialen Phrasen zugekleistert zu werden.

Lea Rosh/Günther Schwarberg, Der letzte Tag von Oradour, Göttingen 1992 (Steidl)

Robert Bourdu, Histoires de France racontées par les arbres, Paris 1999 (Ulmer)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden