Glück auf Glück ab

Ruhrtopie Der Philosoph Wolfram Eilenberger hält den Menschen des Ruhrgebiets den Spiegel vor. Es ist allerdings ein Zerrspiegel. Versuch einer Rückspiegelung durch einen „Ruhri“

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Hömma, Beautiful Loser, wat is dat denn?
Hömma, Beautiful Loser, wat is dat denn?

Foto: Ralph Orlowski/Getty Images

Umgeben von „Ländern“ – dem Münsterland, dem Lipperland, dem Sauerland, dem Bergischen Land, dem Rheinland – ist es selbst nur ein „Gebiet“, das Ruhrgebiet. Dieses hat hat zwar über 5 Millionen Einwohner, aber kein Anrecht auf die historische Würde eines Landestitels. „Ruhrland“ kommt nicht (mehr) so gut. Es klingt etwas aufgesetzt. Ansonsten hat man die freie Wahl: „Ruhrgebiet“, „Ruhr-Region“,„Ruhr- oder Kohlenpott“ (zu „Pott“ vereinfacht, mit falschen, aber freudschen Assoziationen), „rheinisch-westfälisches Industrierevier “ (zu „Revier“ vereinfacht), „Metropole Ruhr,“ „Agglomeration Ruhr“ (nicht ganz so kneipentauglich) oder auch nur „Wir hier“. Und dieses „Wir“ steckt seit einem halben Jahrhundert in einer tiefen Krise, die gerne als Strukturwandel euphemisiert wird. Der Redenschreiber Armin Laschets formuliert dies so: „Das Ruhrgebiet ist eine Chancen- und Innovationsregion“. Ja, die „Stiftung Industriedenkmalpflege“ unternimmt sogar große Anstrengungen, um die „industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ zumindest auf die „Tentativliste“ für den Titel „Welterbe der UNESCO“ zu bringen (in der Werbebroschüre wird u.a. die „radikale Überformung der Landschaft von ungewöhnlicher Größe“ hingewiesen. Gemeint sind die Halden). Der Antrag wurde abgewiesen. Die Misere bleibt. Jeder fünfte der 5 Millionen Ruhrgebietsbürger gilt als arm.

Beim Promoten und finanziellen Anschieben sind Korporationen der „Guten Tat“ aktiv, besonders die RAG-Stiftung und die Brost-Stiftung. Letztere finanziert Startups, das journalistische Correctiv-Team, Uni-Lehrstühle, Symposien und vergibt Preise. Der Brostpreis 2020 fiel an den CDU-Innenminister des Landes, der diesjährige an einen ehemaligen WDR-Intendanten, was nicht verwundern sollte. Im Ruhrgebiet ist es halt normal, dass im Stiftungsvorstand der omnipräsente Professor Bodo Hombach und ein Vertrauter des ehemaligen Ministerpräsidenten Rüttgers sitzen, der wiederum mit seinem alten Verkehrsminister das Kuratorium ziert.

Benannt ist die Stiftung nach Anneliese und Erich Brost, dem Mitbegründer des WAZ-Konzerns. Der heißt heute nach komplizierten Eigentumsübertragungen „Funke-Medien-Gruppe“ und besitzt das Medienmonopol im Revier (WAZ, NRZ, WP, WR). Die Stiftung hält seit einigen Jahren einen „Stadtschreiber Ruhr“ aus, inklusive schicker Wohnung in Mühlheims Villengegend und guter Alimentation. Professor Bodo Hombach begründet dies so:

Wenn man ein realistisches Bild seiner Zeit und seiner Region haben möchte, braucht man den Blick von außen.

Natürlich ist ein Stadtschreiber Ruhr in einer gewissen feudalen Zwangslage: Gegenleistungen werden erwartet: die Teilnahme an repräsentativen Veranstaltungen und am Ende einen gut geschriebenen Rapport. Letzterer ist gar nicht so einfach. Die großzügigen Gönner nicht vergrämen, sie müssen bedankt sein; die „kleinen Leute“ sind zu lieben (weil sie klein sind?), und man muss innerhalb eines Jahres verstanden haben, wie das hyperkomplexe-Ruhrgebiet so tickt. Der letzte Stadtschreiber Ruhr, Wolfram Eilenberger, nennt seinen Endbericht „Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung“(1). Der Fußballexperte (Bayernfan) ist Philosoph und Bestsellerautor, kann wirklich gut schreiben und schreckt auch vor Provokationen nicht zurück, ein „Geradeaus-Sein“, das im „Revier“ bekanntlich gut ankommt (Na ja!). Allerdings bekennt er in einem Interview vor Antritt seiner Stelle,dass er vom Ruhrgebiet keine persönliche Erfahrung hat, was kein Mangel sei, denn:

Der Blick mit fremden und neugierigen Augen bringt einen zu einem unbefleckten Urteil, darin liegt der Reiz meines Amtes.

Ich muss gestehen, dass ich das Buch nur bis zur drittletzten Seite gelesen habe. Eigentlich hätte mich der Titel warnen sollen. Kann man eine echte Liebeserklärung „versuchen“? Geht es nur um die Erklärung oder um die konkrete Liebe zum Ruhrgebiet und/oder den Menschen? Oder gar um ein „Je t'aime moi non plus“(Gainsbourg)? Warum überhaupt „Liebe“? War es nicht sogar ein ehemaliger Justiziar der Rheinischen Stahlwerke in Essen und späterer Bundespräsident, der sagte, „Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig“? Aber weiter im Text.

Ruhrtopie und mythische Nachzeitigkeit

In Umkehrung eines bekannten literarischen Musters beschreibt Eilenberger zunächst sein Ankommen in der Provinz. Auf einem Autobahnschild liest er „Metropole Ruhr“: Metropole?

In der Vorstellung der Meinen war das Ruhrgebiet vor allem ein Ort, wo niemand leben mochte. An dem nichts lockte. Der nichts versprach... Synonym für sozialen Abstieg und nachhaltiges Losertum.

Als Intellektueller hat der Autor sich natürlich vorbereitet: Bottroper Protokolle, Böll, Rothmann. Und er weiß, dass die

Kernstädte der „Metropole Ruhr“ … in den Lebensqualitätsrankings der Republik seit Jahrzehnten eine Phalanx der Abgeschlagenen, mit Gelsenkirchen als verlässlichem Träger der roten Laterne (bilden).

Und gleichzeitig

scheint es so, als ob ein nostalgisch getränkter Ruhrpottkult gerade in den bürgerlichen Milieus des Mittelstandes mit Hochschulreife südlich der A40 eine besondere identifikatorische Kraft entwickelte.

Das stimmt und liest sich gut. Ebenso wie seine Abrechnung mit dem nicht sterben könnenden Bergmann-Mythos:

...eine Arbeitsform heroisierter Männlichkeit, die von robuster Physis, schweißtreibender Auslaugung, konkreter Todesgefahr und … spezifischen Solidaritätserwartungen erbunden war.

Wie kann es sein, dass das miserable Dasein von „Arbeitsmigranten“ heute in falscher Erinnerung verklärt wird, diese

verkehrte Welt, in der das physische Absteigen vom „Steiger“ verantwortet wurde und die lebensbedrohliche Ausgesetztheit an die letztlich unverfügbaren Kräfte und Gefahren der Tiefe das „Glück auf“ zum Alltagsgruß werden ließ...?

Auch mich „Ruhri“ irritiert die Inbrünstigkeit, mit der Schulchöre, Fussballfans, Sänger und Politiker das Steigerlied aus absolutistischen Zeiten schmettern, von Heino über Grönemeyer und Stoppok bis zum rotschaligen Münte und Professor Bodo Hombach. Dieses demonstrative „Glück auf“, der deutsche Bergmanngruß, scheint mir so aus der Zeit gefallen wie ein „Grüß Gott“. Es scheint ohne Signifikat.

Die Antwort Eilenbergers ist mir zu „philosophisch“. Er spricht von einem „Ruhr-Paradox“:

Das heutige Revier als verbindliche Identitätsregion existierte damals weder an sich, noch für sich, noch an und für sich... Das Ruhrgebiet gibt es erst, seit es das Ruhrgebiet nicht mehr gibt... Die eigentliche Daseinsform ist damit die mythischer Nachzeitigkeit.

Und damit eigentlich ein Nichts. Und das stimmt nicht ganz. So wie in unseligen Zeiten ist auch der heute der Bergknappenkult „sozialer Klebstoff“ (Professor Bodo Hombach) in inegalitärer Gesellschaft. Er sorgt weiterhin für „dieses wahrhaft deutsche Gefühl der Untertanentreue“, das Heine schon vor 200 Jahren den Harzer Bergleuten attestierte. Es ist diese sehr christliche Treue gegenüber der Obrigkeit, die für lange Zeit die Entwicklung die Bergarbeiterbewegung gehemmt hat. Und dabei waren die Bergleute gewerkschaftlich noch besser organisiert als die Bau- und Hüttenarbeiter, die Metallarbeiter Krupps und die Arbeitsmigranten aus Polen und Masuren.

Im Kaiserreich konnten sich die Montanunternehmer auf ihre christlichen Gewerkschaften verlassen. Deren „Kooperation“ verurteilte jeden Streik zum Misserfolg. In der Weimarer Republik vertraten die Bergtarbeiterverbände standhaft die Ordnung. Als Beispiel diene dieser Aufruf zu Beginn der „Märzrevolution 1920“:

Wir bitten die Bergarbeiter, die Ruhe zu bewahren und sich vertrauensvoll hinter ihre Organisationen zu stellen und weitere Weisungen abzuwarten. Diese werden erfolgen, sobald eine Klärung der Verhältnisse dies zulässt.

Bezeichnenderweise setzten die Bergbauindustriellen noch vor den Schwerindustriellen auf den Faschismus, um die sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik zurückschrauben zu lassen. Die Nazis machten sie denn auch zu „Führern“ ihrer „Betriebsgemeinschaft“ und die Arbeiter zur „Gefolgschaft“. Der Geheime Bergrat Hilger konnte auf dem Deutschen Bergmannstag 1933 verkünden:

Bergmann sein, heißt Kämpfer sein, heißt aber auch Kumpel sein. Wenn der deutsche Sozialismus durch die Tat bewiesene Kameradschaft ist, darf der Bergmann für sich in Anspruch nehmen, dass ihm diese Art von Sozialismus nicht fremd ist.

Umso bemerkenswerter sind die oft individuellen Widerstandshandlungen von (Berg-)Arbeitern in einem feindlichen Überwachungsmilieu. Auch nach dem Krieg und trotz (oder wegen) der Mitbestimmung (durch Gewerkschaftsfunktionäre) setzt sich das Betriebsgemeinschaftsgefühl fort. Der Sozialhistoriker Klaus Tenfelde spricht von einer allgemeinen „Sozialdemokratisierung“, und die sei

höchst wirksam, das zeigen Vergleiche mit anderen Staaten und Gewerkschaften in ähnlicher Lage, in der Pazifierung eines an sich neuen und brisanten Konfliktpotentials.

Die Ruhrarbeiter sind quasi die „Musterknaben der Arbeiterbewegung“ (Tenfelde). Dass die kommunitären „Kruppianer“, „Thyssianer“, „Höschianer“ – und später -– „Opelianer“ nach verlorenem Kampf um die Werkschließung ins „Nichts“ fielen, ist verständlich. So verständlich wie der heutige Ruhrgebietskult.

Eilenberger verzichtet leider darauf, den Spuren der („Ruhr“-)Kämpfe (und den Schleimspuren gewisser Gewerkschaftler und Politiker) zu folgen. Der Faschismus kommt in diesem Buch nicht vor. Liegt es daran, dass die Frage nach den industriell-politisch-medialen Komplexen der Vergangenheit die Frage nach denen der Gegenwart stellt? Dabei ist er sich der Welt bewusst,

in der sich „Fördern“ und „Ausbeuten“ bis zur Ununterscheidbarkeit überlappen, sowohl im Verhältnis von Mensch zu Mensch als auch in dem von Mensch zur Natur.

Aber die Rede vom Verhältnis von Mensch zu Mensch ist so schön wie abstrakt. Die Herren Ausbeuter hatten und haben Namen und Adressen (manche residier(t)en nicht weit von seiner „marmornen“ Stadtschreiberwohnung entfernt). Ihre Ausgebeuteten haben das Verhältnis bezahlt: Viele „Kumpel“ waren nach der Diagnose Steinlunge schnell „weg vom Fenster“ (ihrer kleinen Behausung). Und bei der Grablegung erklang … das Steigerlied. Bis heute nutzen die Herrschenden diesen Mechanismus, virtuos im harmonischen Dreiklang mit Stadion und Kulturindustrie. In den letzten Jahren wurde der Heimatkult hinzugesellt. „Heimat Ruhr“ heißt auch das neueste Buch zur Geschichte des Ruhrgebiets, herausgegeben von … Bodo Hombach und der Brost-Stiftung. Und der Miner's Market boomt. Die Firma „Grubenhelden“ (keine Heimat ohne Helden) verkauft hochwertige T-Shirts im Grubenlook. So kostümiert, schmeckt den Touris die „Currywurst aus dem Kohlenpott“ der Firma „Ruhrfeuer“ noch einmal so gut.

Andererseits. Der Autor schreibt:

Erst die Enkel der Generation Maloche sind bereit, eben jene Ruhrgebietseigenheiten als identitätsprägend zu bejahen, die in der Gegenwart der Region kein Erlebnispendant mehr besitzen.

Sicherlich. Tendenziell lässt der Kältestrom neoliberaler Gouvernance auch das Erinnern an die alte Arbeiterkultur verblassen, sie höchstens noch zur Folklore gerinnen. Xenophobie und Rassismus werden vielerorts an ihre Stelle gesetzt. Die Ideologie des „Melting Ruhrpott“ („Wir sind alle Kinder von Arbeitsmigranten“) könnte dem entgegenwirken. Dazu gehört auch eine (nicht immer ernst genommene, eher spielerische) Erinnerungskultur. Aber auch das wäre mehr als das von Eilenberger diagnostizierte Nichts.

Bei den Enkeln der Generation Maloche

Aber dann steht der Reality Check an. Es geht ans Eingemachte. Und das will mir gar nicht schmecken. Wohl auch, um den Pflichtaufgaben des Stadtschreibers zu genügen („der unbefleckte Blick von außen“), verlässt der Autor sein „marmornes Stadtschreiberhaus“ und unternimmt „Streifzüge“ ins weite Revier, reist aus dem reichen Mülheim zu den Paupern weiter nördlich und östlich. Er versucht, in subjektiven Momentaufnahmen das große Ganze, das Wesen, im Kleinen zu finden. Das ist von Hause aus seine Stärke. Doch es kann auch daneben gehen. Zugespitzt formuliert, seine Beschreibungen erinnern an orientalistische Reiseberichte, vom hohen Dromedar herab. Überall wittert der Autor die „Attitude der beautiful losers“, deren Motto „Woanders ist auch scheiße“ (Frank Goosen) sei, angeblich der „Wappenspruch einer ganzen Region“. Er ist wohl doch nicht so viel in dieser Region herum gekommen.

Immerhin hat er auch im östlichen Revier botanisiert. Natürlich „tief im Westen“, also in Bochum. In einem Restaurant am Bochumer Stadtpark (ich weiß auch, welchem) hat er sogar „Ruhrpott Tapas“ bestellt:

Die studentische Kellnerin der Lokalität scheint tatsächlich spanische Wurzeln zu haben... Ruhrpott-Tapas - Respekt für die Wortschöpfung! Regionalkult meets Weltoffenheit, Atze goes Fusion. Oder eben: Woanders schmeckt's auch scheiße.

Ich würde mir die Bemerkung verkneifen, dass ein Philosoph nicht den gastrosophischen Esprit eines Siebeck haben muss, wenn der Autor mit dieser groben Ironie, die nicht weiß, dass Bouletten, Currywurst und Kartoffelsalat mittlerweile im dritten Sternehimmel angekommen sind, nicht noch nachtreten würde:

Im Geiste entwerfe ich einen kommenden Weltbestseller. Anstatt vegetarisch-orientalischer Traditionstraumgerichte... finden sich in diesem Schwarz-Weiß-Band ausschließlich fleischbasierte Cholesterinchampions für den Männerhunger zwischendurch, mit Rezepten, die selbst der geschiedene, alkoholkranke Mittfünfziger auf Stütze (sic) zu Hause problemlos nachkochen kann, sollte das Büdchen wider Erwarten einmal zuhaben. Das Ruhrgebiet erschiene in diesem Band … als vernarbter Bauchnabel und prophetischer Ursprungsort des fossilen Kapitalismus. Arbeitstitel: „Essen – Das Kochbuch“.

Drei Seiten später greift der Gourmet einen Begriff Sartres auf, den er einen „tief canivoren Caféhausphilosophen“ nennt: „Mauvaise foi“ (Unaufrichtigkeit, Selbstbetrug). Auf das Ruhrgebiets bezogen

Weder ist der heutige Pott das, was er einst war. Noch das, was er zu sein glaubt. Noch das, was er offenbar glaubt, auch in Zukunft sein zu sollen.

Ja, „Was“ ist er denn, der „Pott“? Was ist seine „Essenz“? Eilenberger verrät es nicht. Zunächst spricht er jedoch von dem, was er genau kennt, den Fußball. Er stellt die ziemlich rhetorische Frage,

ob die Traditionsvereine des Reviers in Wahrheit jene Malaise verkörpern, als deren Therapie sie sich anpreisen? Wirtschaftlich, sozial, stilistisch.

Zu diesem Behufe unternimmt Eilenberger eine (Fußball-)Feldstudie im Dortmunder Stadion, auf Einladung eines Chemieunternehmens (welches?), konkret: er spricht im VIP-Bereich des Signal-Iduna-Stadions mit einem Edelfan (Doktor der Theologie) und beobachtet, dass ein Kinderchor,

40 Sonnenkinder, die Mehrheit davon stark übergewichtig, euphorisiert auf den Rasen (stürmt).

Der Promibereich scheint ein guter Aussichtspunkt für derartige Studien zu sein. Immerhin wird der Leser mit einer Einsicht à la manière de Sartre beglückt:

Das ganze Stadion steht mit Schal in der Höhe. Echte Selbstliebe. An irgendetwas muss der Mensch eben glauben.

Lebenslügner, Loser, Übergewichtige, schlechten Geschmack gibt es wahrlich nicht nur im „Revier“, und Kollektividentitäten sind, wie Eilenberger weiß, stets „imagined“. Aber die Ruhrgebietler (also auch ich) haben für Eilenberger ihre Besonderheiten. Zum Beispiel die, keine zu haben. So

kreierte das Ruhrgebiet... in den einschlägigen (?) Künsten, kein Werk wirklich identitätsprägenden Ranges, weder in der Innen- noch der Außenwirkung. Einen Balzac des Ruhrgebiets gibt es ernsthaft gesprochen ebenso wenig wie einen Dickens, Joyce, Döblin oder Woody Allen. Keinen Walter Benjamin, Heidegger, Karl Kraus oder Brecht. Keine Frieda Kahlo, Coco Chanel oder Simone de Beauvoir...

Die Liste will nicht enden, und der Leser wird immer kleiner. Es gebe in Dichtung, Malerei oder Musik noch nicht einmal eine „Schule“ oder Gruppe“,

kein Kunstwerk, in dem sich sein Lebensstil und Daseinsgefühl dauerhaft spiegeln könnte.

Mit einem Wort: das Ruhrgebiet ist künstlerisch ein „ungeschriebenes Blatt“. Das stimmt natürlich so nicht. Übrigens genauso wenig, wie sich das Daseinsgefühl der Pariser in „den Blumen des Bösen“ spiegelt. Es gab Gruppen wie die „Werkleute auf Haus Nyland (1912), den „Ruhrlandkreis“ (1923), einen Eric Reger („Union der festen Hand“), die „Gruppe 61“, den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ (1970). Dass Eilenberger dies nicht der Rede wert findet, sollte er begründen.

Aber, es ist natürlich auch nicht falsch. Das Ruhrgebiet hat tatsächlich nicht die großen planetarischen Künstler hervorgebracht. Doch die Ungerechtigkeit der Aussage kränkt, obwohl sie als scheinbar unschuldige Feststellung daherkommt. Als Argument ist sie unendlich reaktionär. Man bekommt ein wenig Lust, den in Karlsruhe geborenen Autor zu fragen, warum seine Stadt nur Typen wie Oliver Kahn produziert hat.

Jeder der erwähnten Großen ist undenkbar ohne den Kontext. Einen „Balzac des Ruhrgebiets“ kann es nicht geben, weil nie Bedingungen existierten, in denen „der Müßiggang des Künstlers eine Arbeit und seine Arbeit ein Ausruhen“ ist, um es mit den Worten des Meisters zu sagen. Das Ruhrgebiet war und ist ein Raum, dessen Zweck die Ausbeutung von Mensch und Natur ist. G wird G'. So simpel war's und ist's. Bildung war und ist hier zuvörderst Ausbildung. Kultur war und ist Unterhaltung, Balzac und einige anderen erwähnte Großgeister für die bourgeoisen Damen, Fußball, Tauben und die Medien der Funke-Gruppe für die Proleten. So wie die prächtigen Villen in Mülheim für die einen und die schäbigen Wohnkolonien für die vielen anderen. Man nennt es Klassengesellschaft.

Setzen wir ebenso simpel voraus, dass Bildungsproduktion eine entsprechende Konsumtionsbereitschaft voraussetzt. Und eine gewisse universitäre Bildung. Nur kurz sei daran erinnert, dass das bis 1803 unter vier verschiedenen Fürsten aufgeteilte Ruhrgebiet nach dem Intermezzo des napoleonischen Königreichs Westfalen an Preußen fiel. Schon 1818 hob eine Kabinettsordner Friedrich Wilhelms die Universität Duisburg auf. Sie wurde inklusive der prächtigen Bibliothek nach Bonn transponiert. Selbst die Bergakadamie hatte ihren Sitz in Berlin. Was „man“ brauchte, waren Arbeiter mit rudimentärer Ausbildung. Erst 1870 wurde eine Technische Hochschule gegründet – in Aachen. Es sollte fast 100 Jahre dauern, bis die erste Uni (Ruhruni Bochum) errichtet wurde, zum Zwecke der Ausschöpfung der Bildungsreserven des Reviers. Damals machten nur 5 Prozent der Arbeiterkinder Abitur. Wo war der Ort für einen Balzac – oder auch „nur“ für einen Zola?

Eilenberger versucht tapfer eine Außenvisite der besagten Universität:

Anstatt durch Straßenschilder und ehrwürdige Stifternamen (vielleicht Brost?) sind die Hauptgebäude – Militärarealen, Atomkraftwerken oder finnischen Kindergartengruppen gleich – nach Großbuchstaben voneinander unterschieden. So sieht es also aus, wenn Architekten Gleichheit mit Gerechtigkeit verwechseln und die erhoffte sozialdemokratische Funktion ganz und gar die Form bestimmt.

Da fehlt nur noch ein Nietzsche-Zitat über Gleichheit und Sklavenmoral.

Seenplatte

Fazit. Auch die Feldstudien zeigen dem Autor: Die Lage des Ruhrgebiets ist ernst und fast hoffnungslos. Aber für uns alle lehrreich.

Das Ruhrgebiet ist ein Beispiel für die Notwendigkeit einer Transformation, welche die westliche Moderne des fossilen Kapitalismus in den kommenden Jahrzehnten zu bewältigen haben wird. Die Fragen des Ruhrgebiets sind unser alle Fragen.

Dem kann ich mich anschließen, mit dem gewichtigen Unterschied, dass die „westliche Moderne“ sich nicht nur irgendwelcher fossiler Schlacken, sondern des Kapitalismus zu entledigen hätte. So weit würde Eilenberger nicht gehen wollen (wenn er denn nicht muss), seine Preisstifter erst recht nicht. Er spricht lieber von einem „neuen Zivilisationsraum, für dessen schmerzhafte Geburtswehen das Ruhrgebiet bis heute steht.“

Wir sind im Moment alle Bergleute der sechziger Jahre.

Und er projiziert ein „post-anthropozänes Modellgebiet Ruhr“, verbunden mit

einer nachhaltigen Ausschleichung der dort ansässigen Menschen sowie dem sukzessiven Einstellen allen Steuerns und Eingreifens, selbst des Schützens und Bewahrens...

Und einmal im Schwung: Das Ruhrgebiet wird zur Seenplatte, zum Revier der Kormorane, der „schwarzen Raben des Meeres“, den Todesvögeln, die in Herden die Flüsse leer fischen, den gefiederten Raptoren, die den Philosophen so faszinieren, dass er sich bei einer Flussfahrt mutmaßt:

Vielleicht sprechen die anderen Tiere ja nur deshalb nicht mit uns, weil ihnen die Zeit dafür noch nicht reif ist.

Und die Menschen? Wer? Ach die? Eilenberger entwickelt eine „Momentvision“.

Dem Menschen wäre allenfalls in kleinen Sippen und Kolonien eine eher nomadisierende Ansiedlung erlaubt. Und sein Wirtschaften wie bei den indigenen Naturvölkern ganz auf die nachhaltige Deckung leiblicher Grundbedürfnisse.

Das Get-Back ins frühe Neolithikum ist natürlich nicht ganz ernst gemeint. Eilenberger stellt „dem Revier“ nur die bescheidende Frage, ob es

wirklich die ihm mitgebene Chance oder Verantwortung verneinen (wolle), die es aufgrund seiner spezifischen Erfahrungen und bis heute klaffenden Wunden zu einer Beispielsregion für ein ganzes kommendes Zeitalter des Strukturwandels macht.

Dies impliziere: Abschied von der fossilen Moderne „mit ihren männlich kodierten Leitwerten“, die Transformation zu einer „nachhaltigen Wissensgesellschaft, zur „Einwurzelung“ der Menschen „in selbstgewähltem Bleiben und tätiger Sorge“. Und so jargonniert es "eigentlich" weiter. Ich beende meine Lektüre drei Seiten vor dem Ziel. Der Autor beschreibt gerade seine „Ruhrtopie“. Er imaginiert ein „Pott-Luck“:

Jeder und jede bringt seine und ihre Spezialitäten nach Essen mit. Alle werden an den Gaben der anderen satt...

Von den hohen Halden Heideggers zum internationalen Projekttag einer Grundschule ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. Für mich war jedenfalls diese philosophische Begleitmusik zum vom Laschet vom Blatt gelesenen „das Ruhrgebiet als Chancen – und Innovationsregion“ ein kleiner Schritt zu viel. Schade. Der Anfang des Buches war wohl doch zu viel versprechend.

Coda. Im August 2021 durfte oder musste Eilenberger sein Werk in der Brost-Stiftung vorstellen. Professor Hombach (SPD) leitete wie immer ein („grosses Essay“), Hendryk Wüst (CDU), ehemals Verkehrsminister (Kuratorium) und Michael Hüter (ebenfalls CDU, Direktor, Institut der Deutschen Wirtschaft) trugen bei. Eilenberger wurde von einer bekannten WDR-Moderatorin befragt. Alle waren sehr zufrieden. Hüther möchte allerdings die Bergmannskapelle nicht missen.

(1) Wolfram Eilenberger, Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung. Stuttgart 2021 (Klett-Cotta)

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