Gustave und Flaubert

Lebensgeschichte Eine neue Flaubert-Biographie zeigt den Schriftsteller als einen Mann seiner Zeit, der weit über diese hinausragt. Irgendwie sind wir heute immer noch "Bovarysten".

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"Flaubert schreibt als Künstler und beschreibt als Historiker." Besser kann man die "Methode Flaubert" kaum definieren als mit den Worten Michel Winocks, dem wir nicht wenige Referenzwerke zur Politik- und Ideologiegeschichte verdanken. Er hat nun eine voluminöse Biographie des "Einsiedlers von Croisset" vorgelegt (1). "Flaubert unter (!) dem Blick des Historikers" betitelt Pierre Assouline seine Besprechung in "La République des livres". Fast tausend zum Teil leidenschaftliche Kommentare zeugen vom breiten Interesse am Autor. In unserem Nachbarland.

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Dabei scheint doch alles geschrieben und gesagt - sogar von den ganz Großen. Geradezu seziert haben sie ihn: Sartre, Barthes, Bourdieu. Jeder Roman ist mehrmals verfilmt worden. Wir alle haben unser Portrait Flauberts gespeichert: das weiche etwas füllige Gesicht, von langem schütteren Haar umrahmt, der "gallische" Schnauzbart und - vor allem anderen - die großen Augen, umrandet von schweren Liedern, die dicken Tränensäcke. Was spiegelt dieser Blick?

Madame Bovary c'est moi. Auch diesen Satz kennt jeder. Er ist falsch - und richtig zugleich. Winocks Biographie zeigt genau dies. Es ist eher ein "Moi contre Moi". Winock geht professionell mit dem überreichen Quellenkorpus um. Seine "touche" (Assouline) besteht erwartungsgemäß in der Verbindung des Biographischen mit dem Allgemeinen, mit der "Dixneuviémeté", wie der Philosoph Philippe Muray formuliert. Flaubert, geboren in der Restauration und gestorben in der 3. Republik, verkörpert sie und weist doch weit darüber hinaus.

Der Vater ist ein berühmter Arzt (der repräsentativen Sozialfigur des 19. Jahrhunderts, der familialen sowieso). Sein zweiter Sohn Gustave erlebt das Krankenhaus von Rouen als "familiäre Landschaft", Sterben und Tod inklusive. Ich habe niemals ein Kind gesehen, ohne es mir als Greis vorzustellen, nie eine Wiege ohne ein Grab. Beim Betrachten einer nackten Frau denke ich unwillkürlich an ihr Skelett, schreibt er später seiner Geliebten Louise Colet.

Der bürgerliche Wohlstand erlaubt eine ziemlich elitäre Schulausbildung. Gustave ist ein guter Schüler, der sich aber (oder deswegen) zu Tode langweilt - und ein frühreifer Autor wird. Er schreibt auf Hugos und Scotts Spuren romantische Texte voller Todessehnsucht. Erst die Reise durch Frankreich und Korsika, die ihm sein Vater klassengemäß aus Anlass des Abiturs spendet, bringt Abwechslung und erste Liebeserfahrungen. Es ist eine klassische Reise, interessanterweise die Route des "Guide du voyageur". Gustave Flaubert wehrt sich gegen diese "bürgerliche Reisemythologie" (Barthes): Ist es mein Fehler, wenn mich das, was man interessant nennt, langweilt, und wenn das sehr Kuriose mich nervt? Das hindert ihn nicht, ganz konventionell die "idées recues" etwa über "den" Korsen zu reproduzieren: ein Leben in Muße, Stolz und Größe.

Als Zweitgeborenen hat ihn die Familie zum Juristen bestimmt, dem zweiten Aufsteigertyp des Jahrhunderts, denken wir nur an die vielen Juristenkarikaturen Daumiers. Gustave sträubt sich. Die Vorlesungen öden ihn an. Er schwänzt, freundet sich mit jungen Literaten an (vieles findet sich in den Romanen wieder). Die 1843 eröffnete Bahnlinie Paris-Rouen ermöglicht schnelle Fluchten in die Normandie. Gustave hasst die Bahn, "donnert dagegen" wie ein Spießer - und nutzt ihre Möglichkeiten. Sein täglicher Liebesbriefwechsel mit Louise Colet geschieht per Bahn. En passant sei erwähnt, dass Winock sowohl dieser Liaison als auch der intensiven Brieffreundschaft mit George Sand sehr schöne Seiten widmet.

Relativ kurz analysiert Winock den schweren Zusammenbruch Gustave Flauberts, den Sartre bekanntlich ein Buch lang als "archetypischen Blitzschlag" interpretiert, der dem sich gegen den pater familias auflehnenden Kranken als "sinngebende Notwendigkeit" erscheint. "Sein" statt zu "existieren", "haben" statt zu "tun". Damit - so Sartre - begebe er sich in die Situation des "bourgeoisen Rentners". Wie auch immer, Gustaves Vater kauft mit Entschädigungszahlungen (Enteignung wegen Eisenbahnbau) jenes großzügige Landhaus in Croisset, idealer Ort für einen intellektuellen bourgoisen Rentier, seine Eremitage.

Das epochale Jahr 1848 erlebt Gustave Flaubert tatsächlich "en révolution", als manchmal mitgerissener Flaneur. Benjamin schreibt: "Die Haltung des Flaneurs - eine Abbreviatur für die politische Haltung der mittleren Klassen". Die Bilder bleiben Gustaves Gedächtnis und werden zu einem "alten Projekt", das erst viel später bearbeitet wird. Das Drama der Junikämpfe erlebt er nicht.

Mit Maxime Du Camp, dessen schwerem Photographenmaterial und Dienern unternimmt Flaubert eine lange Orientreise, ausführlich vom Biograph beschrieben. Zeitgemäß findet die Überfahrt im Dampfschiff statt (die Herren reisen selbstverständlich in der ersten von vier Klassen). Winock verhehlt nicht die sexualtouristischen Aspekte. Gustave kehrt 1851 als "erfahrener Mann" zurück. Der Habitus Flauberts ist strukturiert.

Gegen den kleinen Napoléon hat er nicht allzuviel. Ich würde ihm sogar den Hintern küssen, um ihm persönlich zu danken, wenn dieser Platz nicht schon von dieser Menschenmasse besetzt wäre. Wie der heilige Polycarpos sieht er sich nur von Mittelmäßigkeit, Dummheit und Schmutz umgeben. 89 hat Königtum und Adel demoliert, 48 die Bourgeoisie und 51 das Volk. Es gibt nichts mehr außer dieser torfdummen Canaille. Flaubert entwickelt eine Art politischer Künstlerökonomie: Wenn der Künstler keine Renten hat, muss er vor Hunger verrecken, zitiert Bourdieu aus einem Brief an Sand. An anderer Stelle schreibt er: Wir sind Arbeiter des Luxus; und keiner ist reich genug uns zu bezahlen. Will man mit seiner Feder Geld machen, muss man ins Journalistengeschäft, Fortsetzungsromane oder Theaterstücke schreiben. Bourdieu kommentiert: "Das geerbte Geld sichert immer noch am besten die Freiheit vom Geld."

Der von Barthes so genannte "Beschreibungswahn" Gustave Flauberts zeigt sich in erster Perfektion in "Madame Bovary" (1856). Der Roman macht Flaubert dank der Tatsache, dass er zunächst im "Feuilleton" erscheint und zu einem Prozess führt, schlagartig berühmt. Winock gibt eine historische Einordnung des "Bovarysmus" und seiner Sozialfiguren, darunter jener Apotheker Homais, Flachvoltairianer und antiklerikalistischer Missionar oder der Pfarrer Bournisien, dessen Mission in mechanischer Sakramenteverteilung besteht. "Bourgeois" sind sie beide, sind sie fast alle. Ich verstehe unter dem Wort "Bourgeois" den Bourgeois in der Arbeiterbluse genauso wie den Bourgeois im Gehrock. Wir und wir allein, das heißt die Gebildeten, sind das Volk, die Tradition der Menschheit, schreibt Flaubert. Man sieht: sein Bürgerhass ist viszeral, geht weit über das demonstrative "Epater les bourgeois" hinaus.

Sein neuer Roman "Salammbô" (1862) widerspricht den Kritikererwartungen, der schaurig-erotische Roman "archéologique" wird aber ein Publikumserfolg. Flaubert ist im verhassten Status des "Arrivierten", trifft sich regelmäßig mit Sainte-Beuve, Renan und den Goncourts bei Magny (dem Erfinder des Tournedos Rossini und des Châteaubriand, wie wir erfahren) und geht in standesgemäßer Kleidung zu den Soirées der Prinzissein und Künstlerprotectrice Mathilde. Ja, er, der schrieb, les honneurs déshonorent und, sich in der "Bovary" über Homais' Ehrenkreuz mokierte, trägt es nun selbst. Er ist mondän geworden, zieht sich aber immer wieder ins Eremitendasein nach Croisset zurück.

Zu den Stärken Winocks gehört ohne Zweifel die politische Lektüre der "Éducation sentimentale" (Lehrjahre des Herzens, 1869). Wie schreibt Gustave Flaubert die Revolution? Er hat die Bilder im Kopf und ergänzt sie wie immer durch eine enorme Dokumentation. Viele Parallelen zu Marx finden sich (ohne dessen Gewissheit allerdings), so in dieser Passage: Jede Person agierte nach einem Modell, der eine kopierte Saint-Just, der andere Danton, wieder ein anderer Marat, er (Sénécal) wollte Blanqui ähneln, der wiederum Robespierre imitierte. Natürlich hat auch Gustave Flaubert Sympathien, selbst zu seinem Antihelden Frédéric Moreau, doch fast keiner findet vor seinen Augen Gnade in dieser tödlichen Farce.

Der Banquier Dambreuse wird ein zitternder Republikaner, entlässt Diener, verkauft seine Pferde und kauft einen Filzhut. Er erklärt sich gar zum Proletarier: Sind wir nicht alle mehr oder weniger Arbeiter? Die Marxleser erinnern sich an dessen "Alle Royalisten verwandelten sich damals in Republikaner und alle Millionäre in Arbeiter". Die Sozialisten sind im Roman eher religiös - und ziemlich dumm. Die Magie glaubt an die sofortige Veränderung durch die Kraft der Formel, genauso wie der Sozialismus, wird Flaubert später schreiben.

Die Protagonisten des Romans sind fast alle auf der Barrikadenseite der Repression, selbst Dussardier, der einzige Wahrhafte, der in den Junikämpfen die Republik verteidigen möchte. Voller Ekel beschreibt Flaubert den Terror der Sieger (mit denen er sympathisiert), auch den intellektuellen. Thiers "Vom Eigentum" wird die neue Bibel. Ergebnis ist der Staatsstreich im Dezember 1851: der dogmatische Sozialist Sénécal ist diesmal auf der Seite der Polizei - und tötet kalten Blutes den aufrechten Dussardier. Mit diesem stirbt die Republik.

Ein Jahr nach Erscheinen des Romans erklimmt die Dummheit eine neue Höhe. Es ist wieder Krieg. Diesmal gegen die Preußen. Und Flaubert, eben noch in Gedanken über das "materialistische" Zeitalter des Mittelmaßes und der Dummheit versunken, verkündet plötzlich - die Ideen vieler Intellektueller von 1914 vorwegnehmend: Mein Gewehr ist bereit! Er wird tatsächlich Leutnant der Nationalgarde, praktiziert das, was der junge Rimbaud damals als "Patrouillitisme" verspottet. Entsetzt reagiert er auf die Niederlage und die Proklamation der Commune (28. März 1871). Über deren Beschluss, die Mieten einzufrieren, schreibt dieser Urvater der Moderne und der Spießerverachtung: Die Regierung mischt sich jetzt sogar in das Naturrecht (!) ein. Die Commune stellt fest, dass man nicht schuldet, was man schuldet. Geht es noch "bourgeoiser"? Hat Sartre recht? Gustave Flaubert kommt nicht aus der Situation des"Rentiers heraus.

Die große Brieffreundin George Sand (Winock beschreibt ausführlich ihre Beziehung) ruft ihn zur Ordnung: Du bist niemals jung gewesen!... Wenn heute das Volk unter den Stiefeln liegt, reiche ich ihm die Hand, wenn es morgen selbst der Unterdrücker ist, werde ich es verachten. Flaubert - unbelehrbar - schäumt gegen das allgemeine Wahlrecht: Ich bin doch wohl mehr wert als 20 Wähler von Croisset!

Schließlich verliert Gustave sein Vermögen. Der Mann seiner geliebten Nichte ist vor dem Bankrott zu retten. "Der Ruin ist der Alptraum des Rentiers", hat Sartre geschrieben. Flaubert stirbt am 8. Mai 1880. Bei seiner Beerdigung in Croisset fragen Journalisten einen Kutscher, ob er wisse, wer der Tote sei. Gewiss antwortet dieser, das ist Monsieur Flaubert, der Bruder des Arztes.

Post mortem 1. Angesichts der manifesten Menschenverachtung Flauberts und seiner Indifferenz dem Schicksal der Communards gegenüber schreibt 2013 ein Kommentator in der "République des livres": "Gerne hätte ich dem Peloton von Communarden angehört, das den Auftrag hätte, diesen alten protofaschistischen Esel Gustave zu erschießen. Danach hätte ich mich mit Entzücken in die Lektüre der Èducation sentimentale vertieft." Ersteres wäre eine große Dummheit gewesen, denn es hätte das große unvollendete Meisterwerk "Bouvard und Pécuchet" und das kleine "Wörterbuch der Gemeinplätze" verunmöglicht. Hätte der Kommentator letzteres gelesen, würde er nicht solche Dummheiten schreiben. Das sagt viel über die Aktualität des Sottisiers.

Post mortem 2. Michel Winock schreibt als Historiker und beschreibt als Künstler der Biographie. Er hilft uns einen Künstler zu verstehen, der "modern" sein konnte, gerade weil er ein "reaktionärer" Rentier war.

(1) Michel Winock, Flaubert, Paris 3013 (Gallimard, 537 Seiten)

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