Hyänen, Megären, Pétroleuses ...

Frauen der Commune Nach den Militärs die Richter in Uniform. Der Commune wurde ein gigantischer Prozess gemacht. Besonders strafwürdig: kämpfende Kommunardinnen, vor allem die „Pétroleuses“

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Hyänen, Megären, Pétroleuses ...

Bild: Frédéric Théodore Lix / Wikimedia (Public Domain)

Die Apokalypse beginnt am Nachmittag des 21. Mai 1871. Die Truppen der „Versailler“, über 100.000 Mann, dringen in die Hauptstadt ein, erobern systematisch ein Viertel nach dem anderen. Am 23. Mai besetzen sie das ermblematische Quartier Montmartre. Eine Barrikade nach der anderen fällt, darunter auch die von Frauen gehaltene Barrikade an der Place Blanche. Die Versailler schießen „bombes à pétroles“in Richtung Nationalgarden. Diese setzen ihrerseits Häuser in Brand, um ihren Rückzug zu sichern. Am Abend des 23. Mai brennt der Palast der Ehrenlegion, in der Nacht zum 24. Mai der Tuilerienpalast, am selben Tag stehen das Pariser Rathaus und andere Repräsentationsbauten in Flammen.

Die „Versailler“ töten Männer, Frauen, Kinder, „à la baīonnette“ oder „au mur“. In vollem Bewusstsein ihres Tuns geben die Offiziere die „Fédérés“ zum Massaker frei. Die Hauptstadt Frankreichs soll in einem Blutbad „gereinigt“ werden (und sie selbst von der Schmach der Niederlage gegen Preußen). Es ist ein Vernichtungskrieg der "Zivilisation" gegen heimtückische "Barbaren". Schon am 27. Mai berichtet die "Times":

Man erzählt sich, dass eine Cantinière 10 Soldaten getötet hat, indem sie ihnen vergifteten Wein gab. Frauen sind auf der Stelle getötet worden, weil sie Petroleum verschütteten.

Die Zeitungen der Versailler nennen sie "Pétroleuses". So berichtet das (bis zu diesem Tag von der Commune verbotene) „Petit Journal“ am 29. Mai, einen Tag nach dem Sieg der Versailler:

Noch eine Pétroleuse.

Gegenüber der Nummer 27, rue La Bruyère haben die Infanteristen eine „Citoyenne“ festgenommen, die Petrolfläschchen bei sich trug, kleine flüssige Bomben. In ihren Strümpfen hat man 2 Briefe von Félix Pyat (einem bekannten Communard)gefunden. Die Megäre wurde sofort erschossen.

Das Ausmaß des Tötens ist bis heute nicht geklärt. Die Zahl von 30.000 getöteten "Communards" ist wahrscheinlich zu hoch. Es ist eine „politische“ Zahl, die beiden Seiten von Nutzen war. Der britische Historiker Tumbs zählt auf der Basis der Friedhofsregister ca. 6500 Tote; die sehr akribisch vorgehende Kommune-Forscherin Michèle Audin kommt auf deutlich mehr als 10.000 gestorbene Fédérés. Gesichert ist: Die Versailler Regierung verliert 887 Soldaten. Man vergisst darüber leicht die Verletzungen, die Vergewaltigungen, die Märsche der Gefangenen in die Lager und Kerker von Versailles, die Demütigungen, vor allem der Frauen, die Massentransporte im geschlossenen Güterwagen an entfernte Orte und Gefangenenlager, die Todesängste der Gefangenen.


Dem Blutbad folgt die Restauration der Ordnung. Sie wird den „Conseils de Guerre“, den Kriegsgerichten, überlassen. Die Mörder (wie soll man sie anders bezeichnen?) sprechen Recht. Zwischen 1871 und 1875 wird der Commune ein gigantischer Prozess gemacht. Bei der Aussortierung der roten „Canaille“ will das Regime Tabula rasa machen. Über 36.000.Gefangene sind zu sanktionieren. Die bürgerliche Presse berichtet ausführlich (und entsprechend parteilich); die „ehrbaren Leute“ konsumieren mit Schauer und Faszination die Berichte über die Prozesse gegen Louise Michel, Louis Rossel, den Militärchef der Kommune, und Théophile Ferré, dem die Geiselerschießung des Pariser Erzbischofs zur Last gelegt wird. 93 Gefangene werden zum Tode verurteilt, 251 zu Zwangsarbeit, 1.169 zu Festungshaft, 3.417 zur „einfachen“ Deportation, 1.247 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe.

Wider die Ordnung

Wie schon 1789, 1830, 1848 sind auch während der Commune zahlreiche Frauen aktiv. Beispielhaft seien das „Comité de vigilence des femmes“ von Monmartre (Louise Michel, André Léo) und die „Union des femmes pour la défense de Paris“ (Elisabeth Dmitrieff, Nathalie Le Mel) genannt. Ungezählte anonym gebliebene Frauen leisten der Nationalgarde Dienste als „Cantinières“ und „Ambulancières“. Sie treten aber auch als politische Rednerinnen in den politischen Clubs auf, nicht immer zur Freude der Männer. Auch wenn unter den Sozialisten kaum noch jemand das reaktionäre Frauenbild eines Proudhon vertritt (Frauen sind unfähig zu „zerebraler Spannung“), erzeugt die Forderung nach Scheidungsrecht und gleichen Lohn für Frauen auch bei bewährten Revolutionären (noch?) Kopfschütteln. Aber eine André Léo zum Beispiel lässt sich nicht beeindrucken: Entweder die Prinzipien der Demokratie sind falsch oder die Frauen haben dieselben Rechte wie die Männer. Und die Realität ist auch eine andere: die meisten Arbeiterfamilien in Paris basieren auf einer freien Beziehung. Die AnhängerInnen der „Ordnung“ sprechen angewidert von „Concubinages“.

Während der „Blutwoche“ nehmen Frauen, zum Teil in Uniform, an den Kämpfen teil, liefern den Nationalgarden Munition, laden die Gewehre, kämpfen gar auf den Barrikaden und transportieren wahrscheinlich auch Petroleum. Das ist eine andere Transgression als die Herrenkleidung und das Pfeifenrauchen einer George Sand. Und diese ungeheure Perversion der (göttlichen/natürlichen) Ordnung verlangt entsprechende Buße.

1051 Kommunardinnen werden angeklagt – nach Monaten demütigender Einkerkerung. Angesichts der großen Zahl (und der überfüllten Gefängnisse) werden allerdings 80 Prozent der Verfahren eingestellt. Bei den Männern sind dies „nur“ 60 Prozent. Auch bei den Verurteilungen scheinen die Richter dem „weiblichen Geschlecht“ gegenüber „gnädiger“ gewesen zu sein: 10 Prozent der Frauen, aber 28 Prozent der Männer werden bestraft. Doch man sollte genauer hinsehen: Jeweils 13 Prozent der letztlich angeklagten Frauen werden zu Tode, zur Zwangsarbeit oder Festungshaft verurteilt; bei den Männern sind es jeweils 0,9 sowie 2,3 und 11 Prozent. Die Vermutung, dass diese Disproportionalität mit dem Frauenbild der Ankläger, Verteidiger und Richter in Uniform zusammenhing, liegt nahe.

Der Capitaine Briot hat die schwierige Aufgabe, hunderte festgenommene Frauen der Commune zu verhören. Der von den Gefangenen als „stets höflich und zuvorkommend“ wahrgenommene Ermittler fasst im Februar 1872 seine Ergebnisse zusammen. Sie spiegeln den Zeitgeist als der Herren eigener Geist. Ein kleiner Textauszug:

Alle Angeklagten verbanden vollständigste Unbildung mit einem Mangel an moralischem Sinn (als Beispiele nennt Briot die Plünderung von Kirchen, Prostitution, Concubinage, Ausschweifungen und die „schändlichen Leidenschaften, deren Geheimnisse die Lesbierinnen enthüllt haben“)... Dies sind die Elemente, derer sich die Männer des 18. März bedient haben... Es reichte in der Regel, ihnen die Perspektiven der Unordnung zu präsentieren. Viele von ihnen waren durch die Verbreitung der Theorien des Sozialismus in den Clubs verführt worden und glaubten an eine neue Ära. Faulheit, Gier und Machthunger trugen zu ihrer Verblendung bei. Wie „außer sich“ warfen sie sich in die revolutionäre Bewegung, die sie verschlingen sollte.

Wieder einmal scheint das Vorurteil bestätigt: die Emotionalität des Weibes ist der Grund seiner Empfänglichkeit für teuflische Einflüsterungen. Diese Tendenz zur Exaltation liegt nicht mehr an der Komplexion der Flüssigkeiten, wie im Hexenhammer (1487) behauptet, sondern wird in den damaligen „modernen Zeiten“ auf (religiöse) Unbildung und – vor allem - fehlende Moral zurückgeführt. Aber die „natürliche“ Emotionalität der Frauen gewährt diesen – im Patriarchat - gewisse mildernde Umstände. Gnade findet zum Beispiel die Arbeiterin Jeanne Bigeau. Sie hat in den Clubs „sehr exaltiert zum Hass auf die Regierung aufgerufen. Ihre „Exaltation“ wird jedoch auf den Verlust ihres Sohnes im Krieg 1870 zurückgeführt. Ihr Prozess wird tatsächlich eingestellt. Auch die Disposition zur Denunziation ist bei Frauen „natürlich“ angelegt. Frauen werden in diesen Fällen häufiger freigelassen als Männer. „Concubinage“ wiederum ist ein hoch gefährliches Indiz.

Vorführung

Am 3. September 1871 werden dem Viertem Kriegsrat in Versailles 5 Frauen, vorgeführt. Elisabeth Rétiffe, Eulalie Papavoine, Lucie Bocquin, Joséphine Marchais und Léontine Suétens sind normale Näherinnen und Wäscherinnen, die wie viele andere ihre Männer, Nationalgardisten, im Verteidigungskampf unterstützt haben. Für das Gericht sind sie jedoch „Pétroleuses“, die vorerst einzigen, derer die Versailler habhaft geworden waren. Die Öffentlichkeit ist gut präpariert. Pünktlich zum Prozess kann das erschauernde Publikum in Lithographien sehen, wie „exaltierte“ Frauen vor dem Hintergrund des brennenden Paris Ölflaschen in Kellerlöcher leeren oder mit Petroleum und Fackel quasi einen Weltbrand verursachen. Der Titel der letzteren Lithographie ist vielsagend: "Die emanzipierte Frau, das Licht der Aufklärung auf der Welt verbreitend."

In Versailles kursieren Schauergeschichten. Der Kommunarde Ferré habe habe in Paris eine Brigade von 8.000 „Pétroleuses“ aufgestellt. An bestimmte Gebäude seien Zettel geklebt worden, mit dem Kürzel „B.P.B.“ („bon pour brûler“, zu verbrennen) und dem gezeichneten Kopf einer Bacchantin. Man habe sogar das verkohlte Skelett einer „Pétroleuse“ gefunden, in öldurchtränkter Kleidung, im Mund eine Pfeife (!)).

1873, eineinhalb Jahre nach dem Prozess beschreibt Alphonse Daudet, der Autor der beliebten „Briefe aus meiner Mühle“, eine Pétroleuse wie folgt:

- Angeklagte, erheben Sie sich, sagte der Vorsitzende.

Auf der hässlichen Bank der Pétroleuses gab es eine Bewegung. Etwas Unförmiges, Zitterndes stützte sich auf das Geländer. Es war ein Paket aus Lumpen... und darunter ein armes welkes, gegerbtes Gesicht, faltig, furchig, in dem die Bosheit der Augen inmitten der Falten blinzelte wie eine Echse in der Spalte einer Mauer.

Es ist die Hexe des 19. Jahrhunderts, die von den Vertretern der Ordnung ihrer gerechten Strafe zugeführt wird. Offensichtlich gehört die „Pétroleuse“ in die traditionelle Reihe von Gestalten, die Männern, aber auch Frauen Angst machen „Kreaturen“, aus dem Tierreich (Vipern, Hündinnen, Hyänen, Wölfinnen) und/oder aus der Mythologie (Amazonen, Furien, Megären, Hexen). Kurz nach der Niederschlagung der Commune veröffentlicht der konservative Dichter (ein "Parnassien") Catulle Mendès ein fiktives Tagebuch der "73 Tage", darunter folgendes Portrait der "Pétroleuse":

Im Allgemeinen sind es Frauen zwischen 40 und 50 Jahren. Unter ihrem Stirnband ragen die Locken schmutziger Haare hervor. Ihr Gesicht ist gerötet. Beim Gehen schauen auf ihre Füße. Die einen haben die rechte Hand in einer Tasche, die anderen tragen eine kleine Blechdose für Milch, die sie mit Petroleum gefüllt haben. In einer einsamen Straße bleiben sie stehen und konsultieren ein Stück Papier. Eine Stunde später steht ein Haus in Flammen. In Paris nennt man sie Pétroleuses.

Der so feinsinnige Verfasser hermetischer Gedichte, Théophile Gautier, wählt im Oktober 1871 folgendes Bild:

Eines Tages lässt der Tierwärter seine Schlüssel in den Toren der Menagerie. Aus den Käfigen springen die Hyänen von 93 und die Gorillas der Commune.

Während dem männlichen Communarden immerhin eine politische Meinung und Vernunft zugeschrieben wird, muss die „Pétroleuse“ quasi gegen alle Vernunft, „außer sich“ handeln.

Der Gerichtsreporter des Figaro, auch er ein für Eleganz bekannter Schriftsteller, entspricht zu Beginn seines Prozessberichtsdem Erwartungshorizont seiner konservativen LeserInnen:

Der Name „Pétroleuses“erinnert an die wilden Horden, unter dem Befehl der Commune, die zur abscheulichen Mission der Brandstiftung bereit sind.

Und er gibt alsbald der „Enttäuschung“über „jämmerliche Gestalten“ auf der Anklagebank Ausdruck:

Verlorene Mädchen, in Lumpen, mit rauer Stimme, erloschenen Augen, die nichts von einer Frau oder auch einem Mann haben, geschlechtslose Wesen, ohne Scham, ohne Bewusstsein (Le Figaro, 4.9.1871)

Angesichts des anarcho-archaischen Hexen-Chaos ist das Militärtribunal ist von beeindruckender Ordnung. Die sieben uniformierten Richter sorgen, hinter einem leicht gerundeten langen Pult sitzend, für Recht und Gerechtigkeit, unter einem großen Kruzifix, hoch über der (Sünder-)Bank der Angeklagten, die von den (meist weiblichen) Zuschauern gut eingesehen werden kann. Der Prozess ist natürlich kein richtiger Hexenprozess. Man ist zwar katholisch-konservativ, lebt aber schließlich im 19. Jahrhundert. Zumindest der Schein eines rechtsstaatlichen Verfahrens wird eingehalten. Und das macht die Beweisführung recht schwierig.

Beweise

Der Kanzler des Gerichts liest die Anklageschrift vor. Am frühen Morgen des 22. Mai hätten die vor „unseren“ Truppen fliehenden „Banden“ in der Rue de Lille laut schreiend ihre Vorbereitungen für die Brandstiftungen im Faubourg Saint-Germain getätigt. Unter diesen „Elenden“ seien 6 oder 7 Frauen gewesen. Sie seien in das Gebäude der Ehrenlegion eingedrungen und hätten dieses ausgeplündert. Auf der Straße hätte man gerufen „Paris muss hochgehen! Lasst uns alles verbrennen!“ In der Nacht habe es eine Orgie gegeben. Der Concierge des Stadthauses des Grafen de Chabrol sei bestialisch ermordet worden. Seine Frau konnte nur durch die Flucht diesem „Pandämonium“ entgehen. Am folgenden Tage hätten sich die schrecklichen Szenen des Vortags wiederholt. Besonders 5 Frauen (die Angeklagten) hätten sich hervorgetan. Sie waren bewaffnet und trugen rote Schärpen. Eine habe an der Barrikade Schüsse abgegeben, eine andere Petrolfässer zum Gebäude der Ehrenlegion gerollt.

Das Werk der Zerstörung fand überall statt. Das Petroleum, dieser gefährliche Stoff, auf den der diabolische Geist der Commune-Mitglieder baute, wurde zum Gebäude der Ehrenlegion gefahren und überall verschüttet...Um 6 Uhr abends zwang eine Attacke der Marinesoldaten die Aufständischen zum Rückzug. Ein Fanfarenton gab das Signal. Die Wahnsinnigen zerstörten durch das Feuer, was sie nicht mitnehmen konnten und vernichteten die Spuren ihres Diebstahls und ihrer Missetaten. 7 oder 8 dieser Elenden waren beauftragt, diese Mission durchzuführen, zum Preis von 65 Francs, dem Preis des Verbrechens.

Die Verhöre liefern jedoch alles andere als triftige Beweise. Die „femme Rétiffe“ erklärt sich wie alle anderen für unschuldig. Sie sei „Ambulancière“ gewesen:

Ich hätte einen Soldat aus Versailles genauso versorgt wie einen Nationalgarden.

Die Zeugen bekräftigen, sie nicht mit einem Petroleumfass gesehen zu haben. Der Weinhändler Noēl Fleury bestätigt z.B., dass sie zum Zeitpunkt des Brandausbruchs in seinem Laden gewesen sei. Nie habe er sie bewaffnet gesehen. Die Aussage scheint dem Reporter des Figaro nicht zu gefallen:

Man kann vermuten, dass die Aussagen des Weinhändlers bedeuten, dass diese Pétroleuse eine gute Kundin war, zum Beispiel viel trank und vor allem gut bezahlte.

Auch Eulalie Papavoine, 25 Jahre, hat sich um die Verletzten gekümmert. Ja, sie habe Petroleumfässer gesehen. Warum sie sich nicht entfernt habe,will der Präsident wissen. Weil sie bei ihrem Geliebten bleiben wollte. Aber das Bataillon sei doch geflohen.

Wir hatten doch Verletzte und Tote.

Die Tagelöhnerin Lucie Bocquin, 28 Jahre, lebt moralisch „einwandfrei“ als treue Gattin, bis sie einen Nationalgarden kennen und lieben lernt Sie wird am 23. Mai in der Nähe des brennenden Gebäude der Ehrenlegion festgenommen. Vor einer Barrikade und dem Leichnam ihres Geliebten. Sie ist bei der Inbrandsetzung des Ehrenlegion-Palastes anwesend, aber nicht tätig.

Nur Joséphine Marchais und Eugénie Suétens scheinen dem Bild einer „Pétroleuse“ zu entsprechen. Erstere ist wegen Diebstahls vorbestraft und hat einen „lockeren Lebenswandel“ Während der Commune arbeitet sie als Köchin im Bataillon ihres Geliebten, einem Metzger.

Wiederholt wirft der Präsident der Angeklagten Marchais vor, zur Brandstiftung aufgerufen zu haben, was diese mehrfach bestreitet. Sie habe auch keine 65 Francs erhalten, sondern 10 Francs für ihre Ambulanzdienste. Schließlich muss der Präsident zu einem „stichhaltigen“ Argument greifen:

Wir haben gerade aus Blois ein Dokument bekommen, das feststellt, dass Sie in Blois die schlechteste Reputation hatten. Ihre Mutter wurde dort zu 5 Jahren Gefängnis wegen Anregung zur Ausschweifung verurteilt.

Die 25 jährige Eugénie Suétens, ebenfalls wegen Diebstahls vorbestraft, lebt „en concubinage“ mit einem Nationalgardisten und arbeitet als „Cantinière“ in der Nationalgarde. Zweimal ist sie während der Kämpfe verletzt worden. Zeugen haben sie vor dem Gebäude der Ehrenlegion gesehen, bewaffnet, mit roter Schärpe. Sie habe sich um die Verletzten gekümmert und an den Barrikaden gebaut.

Haben Sie Geld bekommen?

Ja, um die Ambulancières zu bezahlen.

Wir glauben eher, dass man Sie ermutigen wollte, Feuer zu legen.

Der Präsident versucht es mit der Beeinflussung eines Zeugen:

Ich weiß, dass Sie diese Frauen nicht mit der Fackel in der Hand gesehen haben, ich frage aber nach Ihrem Eindruck. Haben Sie Petrol gesehen?

Der Zeuge hat nicht, so wie alle anderen Zeugen. Selbst der theatralische Auftritt der Witwe des getöteten Concierge erbringt keine konkreten Beweise.

Urteil und Ordnung

Entsprechend dick muss der Capitaine Jouenne, Commissaire du Gouvernement auftragen. In seinem Plädoyer vom 6. September geht es um Zivilisation und Ordnung. Mit dem 18. März habe ein Krieg gegen die Zivilisation begonnen, geführt von Leuten, die weder an Gott noch an das Vaterland glaubten. Diese schreckliche Kampagne

musste vor Ihr Gericht nicht nur die Männer bringen, die ihre heiligsten Pflichten vergessen hatten, sondern auch, und dies leider in großer Zahl, unwürdige Kreaturen, die es anscheinend als ihre Aufgabe ansehen, das Gegenteil ihres Geschlechts zu werden und die immense und großartige Rolle der Frau in unserer Gesellschaft zu verweigern... Nun sehen wir, wohin all diese gefährlichen Utopien führen, die Emanzipation des Frauen, welche die Doktoren predigen... Hat man all diesen elenden Kreaturen nicht die unglaublichsten Schimären vorgespiegelt?

Der Hauptmann klagt alle Frauen der Commune an, die Rednerinnen in den Clubs, z.B.:

Diese Heldinnen der Immoralität, des Diebstahls und der Brandschatzung, haben von den Kanzeln herunter die Sprache des Evangeliums durch die Propaganda des Verbrechens ersetzt... (vor allem„die Frau Michel“) und an die Stelle der Kirchenlieder die Marseillaise und den Chant du Départ gesetzt. Ihr kommender Prozess wird von größter Wichtigkeit sein.

(Kurzer nötiger Einwurf: „Von größter Wichtigkeit für deine Karriere, du...!“ möchte man ihm – selbst 150 Jahre später – noch zurufen).

Die Historikerin und Archivarin Edith Thomas resümiert die Anklage:

Alles was der Hauptmann Jouenne in den Zeugenaussagen findet, ist: der Beweis, dass die fast vergessenen Unglücklichen auf der Anklagebank unter den Aufständischen waren (was stimmt), dass sie aktiven Anteil am Aufstand hatten (was wahrscheinlich ist), an einer Plünderung (Butter, Sardinen) und an Brandstiftungen teilgenommen haben (was überhaupt nicht bewiesen ist).

Immerhin gaben die meisten Verteidiger (darunter Militärs) ihr Bestes. Der Leutnant Gunez, der Joséphine Marchais vertritt, versucht eine Erklärung:

Ich frage mich, wohin in unseren Zeiten der Korruption eine arme Frau denn gehen kann, wenn sie kein Brot hat?“

Sein letztes Argument ist ein Männerargument, in der Situation aber trotzdem anrührend und wird im bourgeoisen Publikum entsprechend positiv aufgenommen, so die „Gazette des Tribunaux“:

Gnade, meine Herren, es sind Frauen... Hören Sie meine inständige Bitte, es ist die Bitte eines Soldaten!

Für die Beratung braucht das Gericht eineinhalb Stunden. Das Urteil wird zunächst in Abwesenheit der Angeklagten verkündet. Die „Gazette des Tribunaux“ berichtet:

Die Frau Rétiffe, angeklagt des Attentats gegen die Regierung, des Massakers und der Verwüstung, des gemeinschaftlichen Raubs, der Mittäterschaft bei Brandstiftung und Mord, wird in allen Punkten außer dem des Mordes schuldig gesprochen...Das gleiche Urteil gilt für die Frau Suétens und die Frau Marchais. Die selbe Anschuldigung gilt für die Frau Papavoine, aber ohne den Schuldspruch bezüglich der Brandsiftung...

Aus diesem Grund verurteilt der Rat:

Die Frau Rétiffe, die Frau Suétens, die Frau Marchais zur Todesstrafe, die Frau Papavoine zur Festungshaft, die Frau Bocquin zu 10 Jahren Gefängnis.

Der "Figaro" berichtet, dass das

ein wenig unerwartete Urteil eine starke Emotion im Auditorium hervorgerufen hat. Der Befehl wird gegeben, den Saal zu räumen.

Der Berichterstatter der „Gazette des Tribunaux“ lässt es sich nicht nehmen, die Reaktion der „Pétroleuses“zu rapportieren. Die Leser erwarten dies. Den Angeklagten werden die Urteile erst nach der Räumung des Saales verlesen. Nur einige Journalisten dürfen anwesend sein.

Die Frau Papavoine lächelt zunächst, und der Herr Gerichtsverwalter sieht sich verpflichtet, sie daran zu erinnern, dass dies nicht der Augenblick ist, um zu lachen.

Nur eine der Verurteilten sagt etwas, darunter diesen Satz:

Und wer soll mein Kind ernähren?

Die Garde begleitet sie in ihr Gefängnis.

Die Leser der bürgerlichen Presse werden das Urteil zufrieden aufgenommen haben. Die Männer, weil ihre Frauen sehen, wohin die Emanzipation hinführt, die (meisten ) Frauen akzeptieren im "glücklichen Vergleich" ihrer Situation mit der der "Pétroleueses", dass eine bürgerliche Ehe wohl doch ein sicherer Hafen ist (auch wenn man nicht aufs Meer fahren kann).

Im April 1873 beschreibt Präsident Patrice de Mac Mahon, Nachfolger Thiers und als Chef der Versailler Armee mitverantwortlich für die „Blutwoche“, die neue (alte) „moralische Ordnung“ mit diesen Worten:

Mit der Hilfe Gottes, der Hingebung unserer Armee, die immer die Sklavin des Gesetzes sein wird, mit der Unterstützung aller ehrbaren Menschen werden wir das Werk der Befreiung unseres Territoriums und die Wiederstellung der moralischen Ordnung unseres fortsetzen. Wie bewahren den inneren Frieden und die Prinzipien, auf denen unsere Gesellschaft beruht.

Folgerichtig wird 3 Monate später die „öffentliche Nützlichkeit“ des Baus einer dem Herzen Jesu gewidmeten Basilika auf dem Hügel von Montmartre beschlossen. Von deren Balustrade haben heute die Touristen einen herrlichen Blick auf Paris, auch auf die schnell wieder aufgebauten 1871 verbrannten Prachtbauten.

Am 15. Dezember 1871 berichtet die „Gazette des Tribunaux“:

Die Strafe der Frauen Suétens, Marchais und Rétiffe, die vom 4. Kriegsgericht zum Tode verurteilt wurden, ist in die Strafe der Deportation umgewandelt worden. Sie werden nach La Guyane transportiert und dort für Arbeiten verwandt. Alle drei haben Zeichen größter Freude gezeigt, als sie die Nachricht ihrer Strafumwandlung bekamen.

Elisabeth Rétiffe stirbt 1882 in La Guyane. Über Léontine Suétens ist eine Beschwerde des Gouverneurs überliefert: Suétens sorge für ständigen Ärger. Joséphine Marchais gelingt 1872 kurzfristig die Flucht. Sie stirbt (wahrscheinlich) 1874 im Bagne. Eulalie Pavoine stirbt schon 1873 in Châlons. Lucie Bocquin soll ihre Taten bereut habe. Sie wird 2 Jahre vor der allgemeinen Amnestie aus der Haft entlassen.














Michèle Audin, La Semaine Sanglante, Paris 2021 (Libertalia)

Ludivine Bantigny, La Commune au Présent, Paris 2021 (La Découverte)

Alice de Charentenay/Jordi Brahamcha-Marin, La Commune des écrivains, Paris 2021 (Fallimard)

Quentin Deluermoz, Commune(s) 1870-1871, Paris 2020 (Seuil)

Edith Thomas, Les "Pétroleuses", Paris 2021 (Gallimard, erstm. 1963, immer noch Standardwerk)

"Le Figaro", "Le Petit Journal", "La Gazette des Tribunaux" u.a. Zeitungen von 1871 online auf "Gallica"

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