Im Boetie-Express

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Schon auf dem Bahnsteig waren sie mir aufgefallen, die beiden seltsam gekleideten älteren Männer, die in hörbar lebhaftem Gespräch langsam hin- und hergingen. Wenn sie an mir vorbei kamen, meinte ich lateinische und griechische Sprachbrocken zu vernehmen. Theologen? Reisende im Auftrag des Vatican? Als der Zug dann endlich eingelaufen war und ich meinen reservierten Platz Nr. 68 gefunden hatte, tauchten auch sie plötzlich auf: "Septanta unus," sagte der eine. "Septanta tres", der andere. "Nostri numeri" und seufzte erleichtert. Sie saßen mir jetzt gegenüber. So alt, wie ich gedacht hatte, waren sie gar nicht, so um die Dreißig. Der eine hatte schon lichtes Haar. Er wirkte etwas reserviert, schaute seine Mitreisenden aus etwas zusammen gekniffenden Augen an. Der andere war neugierig. "Sextanta Octemus!" sagte er plötzlich, auf die Platznummer über mir zeigend. Die beiden lachten sich an. "Excusez, mein Herr," sagte der Neugierige. "Sie sind einAchtundsechziger!" Sie stießen sich lachend in die Seiten. Die alte Dame neben ihnen starrte sie mit offenem Mund an. Der smarte, teuer gedresste Herr neben mir versteckte sich hinter seiner Zeitung, der Frankfurter.

Der Leutselige beugte sich schräg nach vorne und schaute intensiv auf die Zeitungsseite. "Überall Tyrannen hier, Michel. Ich sagte dir ja schon, dass sie nichts gelernt haben." Jetzt wurde ich noch neugieriger: "Wie gut Sie unsere Sprache beherrschen!" lobte ich. - "Wir sind Humanisten, mein Lieber!" erklärte der Michel Genannte. Da war ein mir unbekannter Blick voller Stolz. "Was meinten Sie mit 'Sie haben nichts gelernt'?" - "Ich möchte uns vorstellen. Ihre Compagnons de route sind mein Freund Michel de Montaigne, und ich, Etienne de la Boetie. Das "de" können Sie ruhig weglassen! Wir sind auf der Rückfahrt nach Bordeaux. Wissen Sie ..." - Was kann ich schon wissen! warf de Montaigne ein. "Hmmm, wissen Sie, wenn ich sagen, sie haben nichts gelernt, dann meine ich zum Exemplum dieses Bild mit dem hochgewachsenen jungen Mann Obama und unserem kleinen Landsmann, Landstyrann, Sarcotius. Sie feiern irgendeine Befreiung. Aber in Wirklichkeit feiern sie sich. Wo ist das freie Volk auf diesem Bild?" Montaigne mischte sich ein: "Wie hast du schon in jungen Jahren geschrieben? Oftmals verlieren die Völker ihre Freiheit, indem sie sich betrügen lassen, aber mir will es scheinen, als würden sie seltener von anderen als meistens von sich selbst betrogen. Was denken Sie, wenn Sie dieses Tyrannenbild sehen, mein Herr?" Ich war über diese Direktheit etwas verwirrt. "Im Grunde gar nichts mehr," sagte ich dann. "Ich bin einfach daran gewöhnt. Von Kindheit an. Es ist einfach normal." Der mit dem Namen la Boetie lächelte: Die Gewohnheit, die uns überall in der Gewalt hat, ist nirgends so groß wie bei der Verführung zur Knechtschaft. Sie bringt uns dazu, dieses Gift zu schlucken und es nicht einmal bitter zu finden. - "Kommt mir bekannt vor," entgegnete ich. "Die Tradition der toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden, hat ein kluger Mann gesagt." - "Ich weiß. Carolus Marxus und Fredericus Angelus. Aber das meine ich nicht. Ich spreche von einem süßen Gift. Es schmeckt gut, wenn wir diesen schönen Obama sehen oder unseren Sarcotius mit der schönen Clara, der ich gerne ein Sonett widmen würde." - "Sarcotius, dieser homo incultus," brummte Montaigne.

"Aber beide sind doch vom Volk, dem Souverän, gewählt worden! Obama ist der Hoffnungsträger der Welt!" warf ich ein. Der Betuchte neben mir raschelte vernehmlich mit der Frankfurter. "Ach, junger Mann!" seufzte La Boetie. Ich schaute ihn geschmeichelt an. Die Art, wie jemand zur Herrschaft gelangt, mag jedes Mal anders sein, die Art, wie er regiert, ist fast immer die gleiche. Die Eroberer gehen mit ihren Völkern wie mit einer Beute um. - "Das mag für Sarkozy zutreffen," gab ich zu. "Wir hatten so viele Caesaren in der Geschichte," nickte Montaigne. "Wie Ihr Führer!" Der Betuchte räusperte sich und rutschte unruhig hin und her. "Aber Obama? fragte ich. - "Warum überhaupt ein - wie sagt ihr heute - Leadership? Der Mensch ist doch vernünftig genug, die Tugend zu lieben, edle Taten u schätzen, das Gute, das man ihm tut, dankbar anzuerkennen. Und wir verzichten gerne auf irgendeinen persönlichen Vorteil, wenn wir die Ehre und das Wohlbehagen desjenigen vermehren, den wir mit Recht lieben und verehren. Warum also ein Leadership?" La Boetie schaute mich erwartungsvoll an. Der Betuchte gähnte - etwas laut. - "Vielleicht," sagte ich. "Vieleicht geht es in der historischen Situation, in der wir leben, nicht anders. Denken Sie an die Wirtschaftskrise, an Israel-Plästina, an ..." - "Vorsicht, junger Mann!" Montaigne schaltete sich ein. Mein älterer und damit weiserer Freund hat geschrieben: Ist es vielleicht so, dass die Völker allzu gutmütig sind und darum von einem, der ihnen Gutes getan hat, auch in alle Zukunft nichts Böses befürchten? Ich denke, so ist es. Aber was kann man wissen?" - "Michel, du permanenter Skeptiker!"

"Mein Gott, was für ein ideologisches Zeugs!" platzte es plötzlich aus dem Betuchten heraus. "Die Menschen wollen geführt werden, und damit basta! So war es, ist es, wird es immer sein! Ist doch ganz einfach!" Der Zug hatte gerade einen Bahnhofsaufenthalt. Eine junge Frau afrikanischer Herkunft ging durch den Korridor, einen großen blauen Müllsack hinter sich her ziehend. Die leeren Dosen darin schepperten. Die beiden schauten sich mitleidend an. Ebenso aber auch den Betuchten. Es sind die Völker selber, also auch Sie, Sie ruheloser, von irgendeinem Dämon besessener Mensch, die sich durch ihre Tyrannen misshandeln. aber, wie die alte Geschichte zeigt, gibt es Siege der Freiheit über die Knechtschaft, des Freiheitsdrangs über die schnöde Beutegier. - "Schnöde Beutegier!" zischte der Betuchte. "Träumer seid ihr alle. Gutmenschen!" - "Danke für das Kompliment," entgegnete Montaigne. "Sie scheinen zu denen zu gehören, über die mein Freund schreibt: Sie leisten ohne Bedauern und voller Freude alle Arten von Sklavendiensten, die ihre Väter doch nur unter äußerstem Zwang geleistet hatten. Sie wurden schon unter dem Joch gezeugt und in der Knechtschaft genährt und aufgezogen. Sie haben keinen Willen zur Freiheit, lesen eine Zeitung, die Ihnen Bilder malt und die nur eine List der Tyrannen ist, ihre Untertanen zu verdummen."

Der Betuchte lachte, die ältere Dame schüttelte den Kopf. La Boetie legte nach: Sie haben kein Herz, denken niedrig und sind unfähig zu großen Taten. Die Despoten wissen das ganz genau. Mein Herr, Sie glühen vor Ehrgeiz und brennen vor Habsucht. Warum helfen Sie nicht der jungen Frau mit dem blauen Sack?" Der Betuchte stand auf und verließ schnell das Abteil. Schon kurze Zeit später kam er mit dem Zugbegleiter zurück, der sich die beiden von außen kurz anschaute und wieder verschwand.

Ich versuchte die Wogen zu glätten, indem ich die politische Gretchenfrage stellte: "Selbst wenn ich Ihre Analysen teile, stellt sich doch die Frage nach der Alternative (ich schämte mich sogleich für diese Einleitung): Was sollen wir denn tun?" - "Was wir tun sollen ... Sollen?" La Boetie schüttelte den Kopf. "Das müssen Sie schon selber wissen.Es reicht sicher nicht, so wie Voltaire und andere meinen, unseren Garten zu kultivieren. Lasset uns lernen! Der Tyrann stirbt an sich selber, sobald man aufhört ihn zu nähren. Wenn man ihm nicht mehr gibt, wenn man ihm nur nicht mehr gehorcht, so ist er auch schon besiegt, sinkt nackt nund bloß vor sich hin und bedeutet gar nichts mehr ..."

Der Zug wurde plötzlich mit einer Vollbremsung zum Stehen gebracht. Taschen fielen von der Ablage. Die Tür zum Abteil wurde abrupt aufgerissen. Zwei Uniformierte warfen sich auf Montaigne und La Boetie fesselten ihre Hände und knebelten sie. Bei Hinausführen der beiden sagte einer der Uniformierten: "Entschuldigen Sie, aber die Operation war notwendig. Die entwischen uns immer wieder. Dabei sind sie gefährlich, extrem gefährlich! Schönen Tach noch!"

"Gott sei Dank!" sagte der Herr im Toppdress. "Das ist ja unerträglich. Diese Sprache!" Und er versteckte sich wieder hinter der Frankfurter. Die Dame begann Kreuzworträtsel zu lösen. Ich fand ein zerknülltes Blatt Papier in meinem Schoß. Ich entfaltete es und las:

Qui a veu au village un enfant enjoué/Qui un baston derrière à un chien a noué/Le chien d'estre battu par derrière estonné,

Il se vire et se frappe, et les enfants joyeux/Rient qu'il va, qu'il vient, et fuyant parmy eulx/Ne peut fuir les coups que luymesme se donne.

Wer jemals im Dorf ein Kind sah im Spiel,/Das einen Stock knüpfte hinten an einen Hund,/Und den Hund, ganz verwirrt, von hinten geschlagen,

Sich windend, sich stoßend, und die Kinder, die freudig/Sein Hin und Her belachen, seine Flucht in ihrer Mitte/Ohne sie fliehen zu können, die Schläge, die er sich selbst verabreicht.



Zitate aus: Etienne de la Boetie, Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen, Frankfurt 1968 (geschrieben 1548) und ders., Amour, lors que premier ma Franchise fut morte

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