Im Irrgarten der Kulturnation

Vaterlandsliebe Aufgeklärter Patriotismus als Heilmittel gegen AfD und Pegida? Thea Dorn plädiert für deutsche Kultur, Vaterland und Heroismus. Macht sie nicht den Bock zum Gärtner?

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Die deutsche (Kultur-)Gartenlandschaft kommt ohne zarte Pflänzchen aus
Die deutsche (Kultur-)Gartenlandschaft kommt ohne zarte Pflänzchen aus

Foto: imago/Manngold

Ellen Kositza ist enttäuscht. Bisher, so die Gemahlin Götz Kubitscheks und Mutter seiner sieben Kinder, habe sie Thea Dorn gerne gelesen. Deren Buch über „Die deutsche Seele“ (2012) war für sie „ein Unternehmen mit tüchtiger Empathie“. Und nun dieses. Der Titel des neuen Buches „Deutsch, nicht dumpf“ sei „scheußlich“, die Autorin tue so, „als sitze sie zwischen den Stühlen“.

Kositzas Enttäuschung ist verständlich. Der „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ geht nicht gerade zart mit den Identitären und dem „rechten Verleger und Möchtegernraubritter“ Götz Kubitschek um (obwohl dessen Familie doch so rührend das auch von Thea Dorn geliebte protestantische Abendbrot pflegt, inklusive Gebet). Und ihre Referenzautoren gehören auch eher zur demokratischen Linken, so Erikson, Thomas Mann, Adorno. Aber Kositza möge sich trösten. Auch die Linken (also diejenigen, die Dorn für links hält) finden vor dem unerschütterlichen Urteil Dorns nur selten Gnade, und bei genauerem Lesen könnte ihre fast gestorbene Liebe wieder ein wenig aufflackern.

Der Titel „deutsch nicht dumpf“ ist Programm. Das Buch ist ein Plädoyer für einen „aufgeklärten Patriotismus“, für ein kulturbewusstes Deutsch-Sein, welches für die Autorin das Gegenteil der von der AfD und anderen Rechtsextremen vertretenen Dumpfheit darstellt. Diese Attitude erlaubt es dem deutschen „Wir“ (das Pronomen wird in seiner Frequenz nur noch vom „Ich“ der Autorin übertroffen), „unser“ Land zu lieben. Wir dürfen es auch Heimat nennen. Und natürlich (natürlich?) darf das romantische Herz der Autorin höher schlagen, wenn (sie) an einem nebligen Herbsttag durchs Elbsandsteingebirge wandert. Oder Wagner hört. Oder den Sieg der deutschen Mannschaft feiert. Oder – nach langer Abwesenheit in der Fremde – in der Heimat wieder „nach deutschem Reinheitsgebot gebrautes“ Bier trinkt und in eine Scheibe Schwarzbrot beißt. Schließlich wusste schon Hindenburg, so möchte ich ergänzen: Der Mann von Schrot ist Roggenbrot.

Thea Dorn, die bei einem Waldspaziergang „Über allen Gipfeln ist Ruh'...“ haucht, führt uns mit ihrem Leitfaden durch die deutsche (Kultur-)Gartenlandschaft. Das kann ein spannendes Unterfangen werden, wenn man an diese Verse Erich Frieds denkt (die die Autorin leider nicht erwähnt):

Deutsches Schweigen. „Kommt Kinder.../wir wollen in den Wald gehen und hören, wie er schweigt“/So lehrten die Tauben/die Kinder ihre Taubheit/die ansteckend war/noch durch Lachen über den Witz/Und das Schweigen/wo ist es geblieben/auf dem Rückzug.../vor Marschliedern/starken Schritten (Fortschritt und Rückschritt)erschüttert/von Schüssen/von Keuchen (Spürhunde/ und Menschen)/unterbrochenvom Schrei/zerfetzt/von seinem Verstummen.

Es sei vorweggenommen. Eine ernste Diskussion über den Anteil der (der?) Kultur an den Untaten der Nation der „Dichter und Henker“ im letzten Jahrhundert, etwa in der Art Adornos, den sie gern, aber immer sehr kurz und allgemein zitiert, findet kaum statt. Entgegen der Behauptung deutscher „Tiefe“ rast die Autorin über die Oberfläche von (Kultur-)Geschichte und Politik, beschreibt auch (kurz) die Katastrophen, umkurvt dabei aber nicht ungeschickt die Frage, um die es bei Thema deutsche Kultur und Patriotismus nur gehen kann: Kann man angesichts des Geschehenen, das stets und untrennbar mit der „deutschen Kultur“ verwoben war, ernsthaft einen deutschen Patriotismus fordern? Meint sie allen Ernstes, mit nationalen "Werten" den Rechten das Wasser abgraben zu können?

Is identity not the very Devil?

Zu Beginn findet – wir sind schließlich in Deutschland - eine Belehrung statt, adressiert an die Skeptiker, aber auch die Kulturchauvinisten, dass es eine deutsche Kultur genauso gebe wie eine französische oder italienische. Das ist so allgemein wie wahr, obgleich sich diese Kulturen bei näherem Hinschauen pluralisieren. Als Philosophin (seit langem ein Distinktionsmerkmal, auch beim patriotischen Grünen Robert Habeck wird stets darauf hingewiesen) beweist sie die Kulturexistenz mit Wittgenstein. Der zeige nämlich am Beispiel des Begriffs Spiel, dass es „ein kompliziertes Netz von (Familien-)Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“. So sei es auch mit der (deutschen) Kultur. Dass Wittgenstein einst an Russell schrieb, Identity is the very Devil!, vergessen wir einfach. Zumal Dorn der deutschen Kultur eine – diskurspraktische – plastische Identität zuschreibt, die dumpfe Elemente abgeben und fortschrittliche aufnehmen kann. Stimmt irgendwie, sagt sich der Leser, um dann aber irritiert zu erfahren:

Auch für Kulturen gilt: Inzest ist der sicherste Weg in die Degeneration. Befruchtung von außen muss sein. Aber sämtliche Wandlungen der deutschen Kultur, selbst diejenigen, die durch Fremdherrschaft (Römer) oder Besatzung (Franzosen, Amerikaner) bewirkt wurden, konnten sich nur vollziehen, weil sie in Deutschland irgendwann auf fruchtbaren Boden gefallen sind.

Ich möchte die Frage nach Bewirkungen auf unfruchtbaren Boden nicht stellen, wohl aber die nach der römischen „Fremdherrschaft“ in „Deutschland“. Das klingt doch arg und unplastisch nach den „frech gewordenen Römern“ des 19. Jahrhunderts, genauso wie die stolze Behauptung, mit der deutschen Weinkultur hätten „die Deutschen“ die römischen und französischen Lehrmeister in der Kunst übertrumpft. Das hat etwas von der Plastizität des Hermannsdenkmals. Aber ich will (noch) nicht nörgeln und mich gelehrig durch den deutschen Kulturgarten führen lassen, nennen wir ihn den Johann-Gottfried-Herder-Garten, diesen, wie der Meister sagt, „Sammelplatz von Torheiten und Fehlern so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden“. Es ist „ein großer ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut“. Ein Garten, der zu kultivieren wäre, um den berühmten Schlusssatz Voltaires in seinem Candide aufzunehmen. Andererseits hatte Herder wohl andere Garten-Vorstellungen als der Franzose.

Ach so, höre ich die Gartenführerin sagen, bevor es los geht, möchte ich noch kurz den Satz Heribert Prantls widerlegen, Sie kennen ihn vielleicht. Nach der Wahl von 2017 hat er geschrieben:

Deutschland ist in der Situation des Alkoholikers. Wenn der wieder trinkt, wird es gefährlich.

Das ist so natürlich nicht richtig, höre ich, denn der Satz setzt voraus, dass es eine unveränderbare „Essenz“ der deutschen Kultur gebe, die sieaber implizit permanent annimmt. Wir seien zwar gern deutsch, aber nicht dumpf. Die deutsche Kultur ist halt plastisch. Und in der vierten Generation, so die Gartenexpertin, müssen wir ja nicht als Abstinenzler leben. Man kann ja mit „Genuss und Augenmaß trinken“. Das Bild des trockenen Alkoholikers Deutschland, frage ich mich allerdings, stammt es nicht von Sloterdijk? Und von was konkret werden wir „trunken“? Welche deutschen „Kulturgüter“ genießen wir? Warum braucht es dabei Augenmaß, vom „deutschen Wein“ einmal abgesehen.

"Wir" sind Kulturnation, nicht Zivilisation

Aber besichtigen wir endlich den Garten, doch welchen? Es gibt nämlich den Kultur- und den Zivilisationsgarten. Ein alter Streit, weiß die Führerin und erwähnt den Kampf des Kulturgärtners Thomas Mann im ersten Weltkrieg. Um das Problem zu betonen, möchte ich das von Dorn erwähnte Mann-Zitat noch ergänzen: Bekanntlich machte Mann 1914 Zivilisation und Kultur zu „Erscheinungsformen eines ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles zwischen Geist und Natur.“ Die deutsche Seele, so Mann, „ist zu tief, als dass Zivilisation ihr ein Hochbegriff oder gar das Höchste sein könnte.“ Die Deutschen fuchteln eben nicht “französisch-renommistisch“ oder „auf englisch-bigotte Art“ mit dem Begriff Zivilisation herum. Thea Dorn, ganz „deutsche Seele“, definiert in diesem Sinne:

Zivilisation“ ist ein vorrangig politischer Begriff... Kultur hingegen ist der Scholle verhaftet. Ihr Bewohner ist nicht der Bürger, sondern der Bauer. Der Gärtner. Der Lehrer. Der Priester.

Und bevor der Leser angesichts der begriffsgeschichtlichen Herleitung Zweifel bekommt - schließlich war für die französischen Aufklärer war die „Civilisation“ immer auch „Culture“, und ist die Wesensunterscheidung der Begriffe historisch zutiefst reaktionär und kriegsaffin, wie im Ersten Weltkrieg fast alle deutschen Bildungsbürger bewiesen, die, wie Thomas Mann, ihre Schiller, Goethe und Herder kannten - redet die Autorin Tacheles:

Ja, Himmelhergott,ist die traditionell deutsche Verteidigung gegen die Zivilisation nicht genau das, was wir in unserer gegenwärtigen Situation brauchen?

Und einmal in Fahrt:

Im 20. Jahrhundert haben wir Deutschen, und mit uns die gesamte Welt, die grausame Erfahrung gemacht, wie ein einseitig verabsolutiertes Verständnis von Kultur in Barbarei umschlägt. Es wäre ein brutaler Treppenwitz der Geschichte, wenn die Menschheit im 21. Jahrhundert die Erfahrung machen müsste, wie ein einseitig verabsolutierter Zivilisationsbegriff ebenfalls ins Verderben führt.

Sehr wohl hat die gesamte Welt die Erfahrung deutscher Barbarei – und um die geht es hier - gemacht. Aber war deren Ursache ein „einseitig verabsolutiertes Verständnis deutscher Kultur“ oder nicht eher eine romantisch grundierte nationalistische Großmann-Kultur, die fabelhaft zu den imperialistischen Bestrebungen einer zu spät gekommenen Nation passte? Und was soll diese Gleichsetzung von Katastrophen bedeuten? Was versteht sie unter „Verderben“? Ist die Klimakatastrophe der Shoa gleichzusetzen? Ist da auch eine „Familienähnlichkeit“? Landet man als Verfechterin eines qualitativen Unterschieds zwischen Kultur und Zivilisation bei solchen Vergleichen?

Immerhin liest man Kritisches zur leidigen „Leitkultur“:

Hier müsste ein rabiater Gärtner her, der sich anmaßt, das „Kraut“ treffsicher vom „Unkraut“ zu unterscheiden... Es kann nur Bocksbeiniges dabei herauskommen.

Wie wahr! Formuliert wie von Thomas Mann. „Leitzivilität“ ist ein besserer Begriff, Zivilität vielleicht ein noch besserer.

"Wir" sind identisch

Von der „Leitkultur“ zur „Identität“ ist es nur ein kleiner Schritt. Die gesamte Argumentation der Autorin steht und fällt mit der Behauptung einer, allerdings plastischen „Selbigkeit“ der Mehrheit der in Deutschland lebenden Bevölkerung und der tatsächlichen Existenz einer deutschen Kultur seit dem 18. Jahrhundert, die von der aktuellen „Identitätsdiffusion“ bedroht ist. Die Psychologie muss helfen, und bekanntlich führen alle Identitätszuschreibungen zu Erikson. 1951 schreibt dieser:

Das Wort Identität, das wir hier benutzen, hat den Vorteil, dass es eine doppelte Beziehung beschreiben kann: man kann mit sich selbst identisch sein und zur selben Zeit dennoch identisch mit etwas anderem.

Und dieses „Andere“ ist für Erikson die „kulturelle“ oder „nationale Identität“. Der Historiker Lutz Niethammer hat in seiner Spurensuche zum Begriff der kollektiven Identität herausgearbeitet, wie „bewundernswert und bodenlos“ die diesbezüglichen Forschungen Eriksons sind. Die konkrete historische Komplexität wird genial reduziert und erlaubt Exkulpationen wie die folgende:

(Die Welt) hat dauernd das verzweifelte deutsche Bedürfnis nach Einheit unterschätzt, das in Wirklichkeit von Leuten gar nicht verstanden werden kann, denen in ihrem eigenen Land eine solche Einheit selbstverständlich ist.

Im Klartext bedeutet dies, dass nur ein Deutscher um seine „geheime“ (die un-heimliche?) Identität wissen kann. Umso besser kann man klagen, wie Dorn es mit ihren Hinweisen auf die „Zersplitterung des Selbstbildes“ oder “Verlust der Mitte“ (übrigens der Titel eines klerikal-reaktionären Buches eines ehemaligen Nazis aus den fünfziger Jahren) tut. Dorns Antidot ist die Re-Akkomodation an die kulturelle Identität, die „Urvertrauen“, „Autonomie“ und „Werksinn“ schafft. Die „Ur-Wörter“ kommen in diesem Kontext besonders gut. Eine „gesunde“ deutsche kulturelle Identität im Jahre 2018 lehnt sowohl das „Deutschsein“ der Rechten (z.B. der Identitären) als auch die „Beliebigkeitsillusion“ der Linken (so wie sie Dorn versteht) ab. Überhaupt sieht sich die Alpinistin auf einem Grat, rechts „der Abgrund eines versteinerten Kulturessenzialismus“, links „das Wolkenmeer postmoderner Multi- und Hyperkulturalität“.

Folgen wir ihr auf dem Grad zum Heimatgipfel. Mit Luis Trenker: „Der Berg ruft!“ Und sie geht sicher, identitätssicher, und beseelt, denn mit Joseph Görres weiß sie: ,

Der Mensch fußt … mit tiefen Wurzeln in der Vergangenheit seines Dasein, und sie erstrecken sich weit unter ihrem Boden weg in uralte Zeit...

Und dabei ist nicht allein (You never walk alone), denn schon Herders Kugelmetapher („Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie die Kugel ihren Schwerpunkt“) zeigt ihr, dass „Kulturen – wie einzelne Menschen – einen Schwerpunkt brauchen. Das erklärt auch, dass es keine Heimat ohne Sehnsucht gibt. Die Bergführerin scheut sich nicht, das Heimatlied eines gewissen Hans Albers zu singen, sozusagen die Berge und das Meer miteinander zu versöhnen, und, dermaßen gestärkt, „mit einem urzufriedenen Lächeln im Gesicht“ von ihren Heimaterfahrungen zu erzählen, die natürlich plastisch sind, denn sie liebt auch die Bretagne (wenigstens das haben wir gemeinsam). Sie bedauert jene, deren „Seelen keinerlei Heimaterfahrungen haben“, die Entwurzelten also. „Les Déracinés“ war ein programmatischer Roman des antisemitischen Nationalistenstars Maurice Barrès, was wohl kein Problem darstellt, ebenso wenig wie die gar nicht so lustige Provokation, Marcel Proust, wäre er denn Deutscher gewesen, hätte seine „A la recherche du temps perdu“ „Auf der Suche nach der verlorenen Heimat“genannt.

Am Ende zitiert sie die eher linken Améry und Bloch zum Thema Heimat. Interessanterweise diesmal nicht Adorno. Hatte der doch am Ende seines Heine-Aufsatzes befunden:

Es gibt keine Heimat mehr als die Welt, in der keiner mehr ausgeschlossen würde,

und damit die notwendige gesellschaftliche Transformation als Grundlage transnationaler Humanität – ohne deutsches Heimatgedöns. Aber vielleicht ist dies aus dem Wolkenmeer kosmopolitischen gesprochen, was Absturzgefahr bedeutet.

German Community

Bisher erfahren wir: Aufgeklärte Patrioten haben eine deutsche kulturelle Identität und stehen zur deutschen Heimat. Sie sind weder kosmopolitisch heimatlos noch dumpf deutsch. Wir sind nun im europäischen Teil des Gartens aus Kraut und Unkraut angekommen. Und der, so erfahren mit Ferdinand Tönnies (Identitätsdiskurse haben immer dieselben Referenzautoren), gedeiht nur als Gemeinschaft, nicht als Gesellschaft, in welche man geht „wie in die Fremde“. Die EU ähnele aber mehr einer Gesellschaft. Dorn wendet sich heftig gegen ein „Europa der Regionen“ (in denen das Nationale fehlen würde) und vor allem gegen eine Republik Europa ohne Nationalstaaten, wie es Ulrike Guerot vorschlägt. Dorn möchte ein Europa des „Wir“, ein Europa mit einer großen Erzählung, mit Tönnies eine „gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung...“ Warum ausgerechnet dieser Begriff? Braucht Europa nicht vor allem ein sinnvolles, weil humanes, ökonomisches System? Aber lassen wir's. Gartenarbeit wird halt nicht als Arbeit im ökonomischen Sinn verstanden, sondern als Therapie. Immerhin steht fest: der aufgeklärte Patriot ist für eine europäische Gemeinschaft (der nationalen Identitäten? Der Heimaten?). Und, wie wir weiterhin erfahren, etwas erleichtert, übrigens: er ist ein strenger Verfechter der Menschenrechte, gegen den neurechten Ethnopluralismus und gegen den linken Kulturrelativismus. Für Dorn werden kulturelle Identitäten eben nicht durch das „Diktat“ der Menschenrechte vernichtet. Vielleicht hat sie doch eine andere Vorstellung von Kultur. Und deren Geschichte.

Wir betreten den Garten der deutschen Nation. Thea Dorn, ganz schön selbstsicher, selbstidentisch, möchte uns mal eben erklären, „warum es sie gibt“. Genauer, sie möchte „für ein deutsches Wir“ plädieren, es historisch herleiten. Der „Traum von der deutschen Nation“ (der für so viele ein Alptraum werden sollte) sei älter als der Nationalstaat. Das stimmt. Falsch ist, dass das Heilige Römische Reich deutscher Nation sich im 10. Jahrhundert herausbildete. Erst zur Stauferzeit kam es zum Begriff „Heiliges Römischen Reich“, und der Zusatz „Deutscher Nation“ erfolgte erst in der frühen Neuzeit. Das sei nebenbei bemerkt. Von einem „aufgeklärten Kulturpatriotismus“ (Bernhard Giesen) kann man erst Ende des 18. Jahrhunderts sprechen. Das damalige nach wenigen Zehntausenden zählende Bildungsbürgertum, das die "Kulturnation" bildete, war weltoffen, so Dorn. Allerdings drehte sich dies mit den napoleonischen Kriegen, wie sie – sehr knapp – an den Beispielen Kleist, Körner und Jahn zeigt. Paradigmatisch für die Methode Dorn sind die Reden Fichtes an die „deutsche Nation“ (1807, 1808). Bei Dorn lesen wir den Passus:

...was Vaterlandsliebe eigentlich will, das Ausblühen des Ewigen und Göttlichen in der Welt, immer reiner, vollkommener und getroffener im unendlichen Fortgange.

Das klingt klassisch-weimarisch. Die Autorinhätte, dem historischen Kontext, der Rezeption der Reden und ihrem Anliegen angemessen, auch diese Passagen zitieren können (oder müssen):

Die Deutschen sind das Urvolk“, das das Recht hat, sich das Volk schlechtweg, im Gegensatz zu anderen von ihm abgeschnittenen Stämmen zu nennen, wie denn auch das Wort Deutsch in seiner eigentlichen Wortbedeutung das so eben gesagte bezeichnet...Lasst uns auf der Hut sein gegen diese Überraschung der Süßigkeit des Dienens, denn diese raubt sogar unsern Nachkommen die Hoffnung künftiger Befreiung... Wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.

Dieses nun ist so weit nicht entfernt vom „Am Deutschen Wesen wird einmal noch die Welt genesen“. Zur Rezeption Fichtes und unzähliger anderer Kriegsagitatoren sei kurzauf die „Ruhmeshalle“ des Leipziger „Völkerschlachtdenkmals“ verwiesen, deren Plastiken

die Eigenschaften des deutschen Volkes während der Befreiungskriege verkörpern: Glaubensstärke, Volkskraft, Tapferkeit und Opferbereitschaft...

Konfession deutsch

Dorn analysiert nicht die Tatsache, dass der deutsche Patriotismus in Kriegssituationen Gestalt annahm. Die Chiffren 1813/15 („Befreiungskriege“), 1840 (Rheinkrise), 1864 bis 1871 („Einigungskriege“) 1914 zeigen einen Blut- und Eisenpatriotismus, weit von der Aufklärung und der Weimarer Klassik entfernt, auf die sich das Bildungsbürgertum weiter emsig berief. Und auch der deutsche Faschismus konnte noch im Krieg „unseren“ Herder benutzen. Kein Geringerer als Gadamer erklärte 1941, im pariser Deutschen Institut, den Franzosen, mit Herder, warum die deutsche Nation sie besiegt hatte. Thea Dorn entzieht sich diesen Problemen durch partielles Beschweigen, Nebenschauplätze (seitenlange Wagnerei) und durch die Berufung auf die wenigen Lichtgestalten deutscher Kultur wie Thomas Mann, der Jahrzehnte und das amerikanische Exil brauchte, um sich von seinem kriegskulturellen Gerede zu befreien.

Ansonsten erinnert der historische Teil arg an Schulbuchtexte mit entsprechender Komplexitätsreduktion, aber immer ganz sicherem Urteil. Zum Beispiel zu den „von blumiger Anarchie, brachialem Kommunismus oder gar blutigem Terror“ träumenden“ 68ern:

Die Warnung vor einem damals heraufziehenden „Linksfaschismus“ ist eine der wenigen Einschätzungen des Philosophen und Adorno-Schülers (?) Jürgen Habermas, der ich mich uneingeschränkt anschließe.

Respekt vor diesem Mut zur historischen Vereinfachung, die sich mit kleineren Fehlern und den typischen Akzentuierungen (kein konservativer Text zur Nachkriegsgeschichte kommt ohne den Morgenthau-Plan aus) zum „Deutschland einig Vaterland“ schleppt. Nach lang(weilig)en Seiten ist Deutschland endlich geeint, und die Autorin kann dem Kommunisten Stefan Heym eine „grundfalsche Diagnose“ attestieren, hatte dieser doch 1992 prophezeit:

...wenn man den Leuten nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen...

Eine aufgeklärte Patriotin weiß, dass in diesem Falle der „politische Schlamassel in unserem Land heute noch gewaltiger (wäre)“, weswegen sie Helmut Kohl „uneingeschränkt dankbar“ ist. Der Dank gilt auch Genscher, Brandt und dem „klugen deutschen Patrioten“ Schäuble (der auch gerne von „deutscher Identität“ spricht). Und so lief alles auf eine „normale Nation“ hinaus. Im „Sommermärchen“ 2006 erlebten sogar die Nationalfarben und die Nationalhymne ihr Revival... Aber ach! Dorn hat Zweifel. Die Nation ist weiter zerrissen: Volk gegen die Eliten (dabei ist Carl Schmitt zufolge Demokratie die Identität von Regierenden und Regierten), Rechte gegen Linke, Grenzverteidiger gegen Befürworter offener Grenzen, Fundamentalisten gegen Säkulare. Ach, des Streites will es kein Ende nehmen in diesem „unserem“ Vaterlande! Daraus folgt für die Autorin so kurz wie bündig:

Das einzige Mittel, unsere Gesellschaft vor einer … nicht mehr zu kontrollierenden Spaltung zu bewahren, scheint mir das Bekenntnis zur Nation zu sein.

Natürlich nicht „völkisch-ethnisch“, beeilt sie sich hinzufügen, sondern im „verfassungsrechtlichen, sozialsolidarischen und kulturellen Sinn“. Es braucht also eine, in den Worten Habermas' von 1974, „vernünftige Identität“, sozusagen einen Verfassungspatriotismus Plus. Dorn stimmt dem Grünen-Chef Habeck zu, der ein „positives Bekenntnis zu der Gesellschaft, in der man agiert“, fordert, ein „Ja zum Gemeinwohl“ (er hütet sich, „Gemeinnutz“ zu sagen). Und nun fühlt sich auch Dorn aufgerufen, eine Rede zu halten. Sie sei etwas länger als üblich zitiert, weil sie mir repräsentativ für die Attitude aufgeklärter Patrioten zu sein scheint:

Liebe Mecklenburger! (Es folgen die anderen lieben Bewohner der östlichen Länder). Ich verehre eure Landschaften, und, wie ihr seht, bilde ich mir ein, eure Enttäuschung über und euren Zorn auf uns „Wessis“ zu verstehen. Aber ich verstehe nicht, warum immer mehr von euch glauben, ihre Enttäuschung... auszudrücken, indem sie Kreuze bei einer zunehmend rechtsextremen Partei machen... ich verstehe eure Wut auf Angela Merkel, die … bis heute nicht die rechten Worte findet, die euch das Gefühl geben würden, eure Seelennöte wären bei ihr gut aufgehoben... Aber bitte, pöbelt die Kanzlerin nicht an! Rottet euch nicht vor Flüchtlingsunterkünften zusammen! Bespuckt keine Menschen, die eine dunklere Hautfarbe haben als ihr!... Erweist euch als würdige Erben eurer geistigen Idole wie Bertolt Brecht, der zwar auch manch politische Dummheit und manch grobe Unmanierlichkeit auf dem Kerbholz hatte, dem aber niemals eingefallen wäre, Flüchtlingsunterkünfte anzuzünden oder türkische Mitbürger zu ermorden (Es folgt die Tiefe der deutschen Seele, die nur verstehbar ist, wenn man die sächsischen Kulturlandchaften erkundet und bla, bla, bla. Und die Rede endet so:) Liebe Ostdeutsche: Ihr seid Hüter dieser kulturellen Schätze! Deshalb: Hütet auch euch! Bleibt wach und munter!

So schreibt nicht Friedrich Wilhelm IV, sondern eine deutsche Patriotin im Jahre 2018. Und auch diese hat es mit dem Militärischen. Hart richtet sie über von der Leyen, die in einer früheren Phase die Armee als „sanfte IT-Truppe mit blendender Karriereaussicht“ präsentiert habe. Zum Glück betone nun auch sie die „Verantwortung“. Mit Bohrer verweist Dorn auf den „Ernstfall“ (noch nicht auf den „Ausnahmezustand“). Und gegen den „Vulgärpazifismus“ fordert sie:

Verfassungspatriotismus muss beinhalten, seine Werte im „Ernstfall“ auch militärisch zu verteidigen.

Und so endet das lange Plädoyer für Patriotismus mit einer Meditation über das postheroische Opfer:

Ist es kein Verlust, wenn die befreiten Individuen erkennen müssen, dass sie keine Ideale, keine Werte mehr kennen, für die sie im Extremfall sogar zu sterben bereit wären?

Sie zitiert dazu doch noch Brecht (der mit dem Kerbholz) und dessen Lieben und Beschirmen des Landes. Am Ende allerdings dürfen wir die dritte Strophe „unserer“ Hymne lesen (und – wie die Autorin? - mitsummen). Schön – oder doch nicht ganz. Denn Dorns Lieblingsschriftsteller war in seiner wirklich großen Rede 1945 nicht ganz so euphorisch:

­Der deutsche Freiheitsbegriff war immer nur nach außen gerichtet; er meinte das Recht, deutsch zu sein, deutsch und nichts anderes, nichts darüber hinaus, er war ein protestierender Begriff selbst-zentrierter Abwehr gegen alles, was den völkischen Egoismus bedingen und einschränken wollte... Warum musste der deutsche Freiheitsdrang immer auf Unfreiheit hinauslaufen?... Der Grund ist, dass Deutschland nie eine Revolution gehabt und gelernt hat, den Begriff der Nation mit dem der Freiheit zu vereinigen. Die Nation, sie ist ein revolutionärer und freiheitlicher Begriff, der die Menschenliebe einschließt und innenpolitisch Freiheit, außenpolitisch Europa meint.

Der aufgeklärte deutsche Patriotismus trägt schwerer an dieser Last als er denkt. Wer die dritte Strophe der Hymne singt, hat – in historischer Perspektive – die erste und zweite schon gesungen. Und noch ganz andere Lieder. Und wie oft kündigte der deutsche Ruf nach Freiheit den „Tod fürs Vaterland“ an. Thesa Dorn benutzt eine bekannte verkürzte Schillersequenz: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“ Deutsche Schüler sollten doch wieder Aufsätze schreiben über den, wie selbst sagt, „schrecklichen Gehalt“ dieses Zitats. Zum Beispiel angesichts der islamischen Gotteskrieger.

Dorns Aufruf wird nicht ungehört verhallen. Es deutet sich eine „patriotische Mitte“ an. Das Spitzenduo der Grünen zum Beispiel begab im Sommer auf eine Art magical history tour zu den Wallfahrtstätten des deutschen (und des teutschen) Patriotismus: Wartburg, Hambach und Hermannsdenkmal, selbst dieses. Motto der Werbetour: „Des Glückes Unterpfand“. Es gibt offensichtlich ein Bedürfnis in Teilen der Bevölkerung, ein Bedarf, dessen Bedienung politischen Gewinn bringt. Ob dieser aufgeklärte Patriotismus den Rechten die Themen nimmt, ist jedoch zu bezweifeln. Vielleicht sogar liefert er ihnen weitere Gegenstände und Diskurselemente. Patriotismus ist bekanntlich sehr plastisch. Und darum wird auch Frau Kositzas Liebe zu den Texten Dorns nicht ganz erlöschen. „Metapolitisch“ gesprochen.

Thea Dorn, deutsch nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. München 2018. 2. Auflage (Knaus)

Johannes Fried, Die Deutschen. Aufgezeichnet von Dichtern und Denkern. München 2018 (Beck)

Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek 2000 (Rowohlt)

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