Jeans und Kapitalismus - eine neue (alte) French Theory

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"Michel Clouscard? Inspecteur Clouseau? Ha, ha! Nee, tut mir leid, nie gehört! Clouscard, sagtest du?" "Ja, Clouscard," sagte ich. "Hat 'ne Menge über unsereins geschrieben!"

Michel Clouscard, 1928 - 2009, Olympialteilnehmer 1948, Schüler von Henri Lefèbvre (den auch niemand mehr kennt), marxistischer Philosoph, Professor für Soziologie in Poitiers, Jazzfan, zum Schluss rühriger Pensionär in Gaillac, Liebhaber alles Schönen und des Gaillac perlé (sagt man, wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden), Autor von seinerzeit viel gelesenen Büchern (L'Etre et le Code, 1972, Néo-fascisme et l'idéologie du désir, 1973, Le capitalisme de la séduction, 1981). Michel Clouscard, der schließlich in der öffentlichen Wahrnehmung von den Sternen Foucault und Bourdieu und deren massiv auftretenden Epigonen verdrängt wurde, Clouscard, der Linke, dessen Ideenwelt angeblich auch den Reaktionären gefallen kann. Clouscard, der aufgrund seiner Originalität einfach nicht vergessen werden darf. Und den ich selbst auch jetzt erst "entdecke". Ich muss gestehen, dass ich fasziniert bin (wohl wissend, dass Faszination Erkenntnis trüben kann).

Was ist denn so attraktiv am Clousardschen Denken? Ich nehme als Beispiel Le capitalisme de la séduction, das jetzt dankenswerterweise von den kleinen Editions Delga wieder aufgelegt wurde. Untertitel: Critique de la social-démocratie libertaire. Das klingt für deutsch sozialisierte Ohren ungewöhnlicher als für Franzosen. Die Vorstellung eines libertären Steinmeier ist aber auch gar zu komisch. Clouscard sieht denn auch eher einen gewissen Roten Dany (Cohn-Bendit) als libertär-sozialdemokratisches Muster einer Generation, deren Integration-in-die-Welt er ab 1945 untersucht. "Untersucht" sagt sich so leicht. Das Werk Clouscards ist eine Art Kritik der soziologischen Vernunft. Er seziert - ich musste bei der Lektüre stets an Flaubert denken - die Phänomenologie der Initiation junger Menschen in den "neuen Kapitalismus" der Nachkriegszeit. Wie langweilig sich das anhört! Und wie atemberaubend spannend die Aussagen des Autors sind! Er erinnert ein wenig an den Adorno der Minima Moralia. Doch während dieser nur zart andeutet, wie sich der Spätkapitalismus in die Körper und den Verstand der Menschen einschreibt, geht es bei Clouscard wirklich zur Sache: zum Poster, zum Flipper, zur Jukebox in den 50er Jahren, und zu den Jeans, den langen Haaren, der Gitarre in den 60ern. Feiern wir nicht gerade das 40 jährige "Revival" Woodstocks - auch im Freitag?

Der große Aufbruch? Clouscard lacht uns aus. Ha! "Das Prêt-à-porter de la contestation!" (Empörung von der Stange!) Was sind beispielsweise Jeans? Die Uniform des Begehrens. Die Objektivation der Phallokratie!" Widerspruch? Die Jeans erlauben den Übergang vom Modellkleid zum Modellkörper. Cl. formuliert das Glücksversprechen der Jeans folgendermaßen: ...das Geschlecht ohne Gebärzwang, das Verlangen ohne Ehe und die Ehe mit Scheidung. Der freie, natürliche, spontane Körper. Doch andererseits: die gesamte Liberalisierungsideologie. Es ist das Bürgersöhnchen (fils à papa), das sich semiologisch in Szene setzt - in seiner neuen "Bande", die die traditionelle Pfandfinderbande des Bürgertums ersetzt. Diese Bande gratwandert: sie muss "aufbegehren" innerhalb des (gerade) noch Erlaubten, darf aber nicht ausarten - wie etwa die Baader-Meinhof-Bande oder die Manson-Family. In der Bande "kollaborieren" der Bürgersohn und der Lumpenproletarier, beide Marginalisierte ihrer Klassen. Clouscard setzt hier diesen Hammersatz: L'incivisme est une école d'arrivisme (Das Aufbegehren gegen die Bürgerlichkeit ist die Schule des Arrivismus). Stimmt nicht! prostestiert die Leserfraktion der Grünen. Stimmt nicht! rufen meine Achtundsechziger-Kollegen. Wenn ihr euch mal nicht irrt! Ihr beweist dochtäglich, dass Clouscard Recht hat.

Im Folgenden beschäftigt er sich mit seinem großen Thema - der Musik (auch hier eine Affinität zu Adorno): Les sens s'électrisent (Die Sinne zucken elektrisch, etwas frei übersetzt), sozial übersetzt: nach der Gruppendynamik die mechanische Musik. Manche werden an dieser Stelle analog zu Adorno Clouscard reaktionär finden: Der Rock annektiert den Jazz, wie die Fetenideologie die Volksfeste, wie die Retromusik das Akkordeon annektierte." Und er ergänzt - wieder so ein Ideencoup - ... und wie der Linksradikalismus Marx annektiert: die politische Systemintegration. Clouscard seziert den Rythmus, genauer: den Maschinenrhytmus, den er dem Swing, dem "menschlichen" Rythmus gegenüberstellt. Ist das etwa nicht richtig? Was ist denn Techno, wenn nicht die Musik durch und für den Homme-Machine (hindurch)? Clouscard hämmert: Die Werbung ist Rythmus, der Rythmus Werbung.

Ausführlich beschreibt Clouscard die Initiationsmechanismen des Drogenkonsums: Der Bekiffte ist die Essenz der Konsumgesellschaft ... die Droge ist ihr Fetisch.Solche Sätze können weh tun! Wer der so genannten Achtundsechziger ist nicht stolz auf eine kleine reale oder fiktive Drogenkarriere (früher klammheimlich, heute ostentativ)? Clouscard: Die Reise ans Ende der Nacht war nichts als eine pantoffelige Promenade im Garten der Allgemeinplätze. Allein dieser zitierte Satz rechtfertigt die Anschaffung des Buches. Jimmy Hendrix in Pantoffeln! Und solche phrases-choc gibt es auf fast jeder Seite.

Doch kommen wir zur Gretchenfrage: Wie hält es Clouscard mit dem Feminismus? Er bleibt sich auch hier seiner dialektischen Klassenlinie treu. Er postuliert eine ideologische Konvergenz von Feminismus und Phallokratismus. Beide gehen "substantialistisch" und "antihistorisch" vor. Beide fordern zudem das Gleiche: Weg mit dem Institutionellen und her mit dem Recht auf Abtreibung! Dein Körper gehört dir, ich will kein Risiko, sagt der Macho. Clouscard urteilt: Das alte phallokratische Projekt ist an den fortschrittlichen Liberalismus bis zu seiner sozialdemokratisch-libertären Variante angepasst. Oder ökonomisch: Indem er (der Macho) die Frau auf den Arbeitsmarkt wirft, macht er aus ihr eine Arbeitslose. Er sieht zwei "Frauenschicksale" mit unterschiedlichen Ausbeutungspraktiken: die Systemprofiteurin und die Systemverliererin, für die er ein sexuelles, affektives und soziales Scheitern konstatiert. Ich vermute, ein noch lebender Clouscard würde angesichts von "Freitagsfragen der Woche" wie "Sollen mehr Frauen in die Aufsichtsräte" in ein bitter-galliges Lachen ausbrechen. Ich könnte dies verstehen. Gibt es doch Clouscard zufolge weiterhin - klassentheoretisch - folgende Konstellation: 1. Die Frau der herrschenden Klasse, die den Mann und die Frau der beherrschten Klasse ausbeutet, 2. den Mann der herrschenden Klasse, der seine Frau (der herrschenden Klasse zugehörig) sowie die Frau und den Mann der beherrschten Klasse ausbeutet. Interessanterweise finden wir ähnliche Überlegungen bei der amerikanischen Feministin Nancy Frazer, die kürzlich ebenfalls die Konvergenz von Feminismus und Neoliberalismus konstatierte.

Wie endet der Entwicklungsroman des Libertären Sozialdemokraten? Da, wo er von Anfang an enden sollte: im Schoß der bourgeoisen Familie. In an Balzac erinnernden Passagen beschreibt der Autor die Rückkehr des "verlorenen Sohnes", der sich durch sein Aufbegehren nicht "zu sehr" kompromittiert hat. Beide, die alte und die neue Bourgeoisie, entdecken das durch ihre ökonomischen Transaktionen desertifizierte Land und richten sich dort mit im legerem Habitus ein: Der Vater bringt den Zaster, der Sohn die Visionen...Man hatte sikch in der Stadt zerstritten. Man versöhnt sich auf dem Lande. Letzte Szene der bürgerlichen Komödie: Der traditionalistische Vater wird Öko, der Sohn beginnt zu basteln, Vorstufe der "ernsten" Arbeit. Die nächste Ideologie des "neuen Kapitalismus" zeichnet sich am Horizont ab (heute sind die Grünen à la mode, gerade in Frankreich): der ökologische Kolonialismus.

Ein Buchereignis, das nicht schon wieder vergessen werden sollte. Meisterhaft geschrieben, ein Buch, das man mit grimmigem Vergnügen liest, auch wenn man nicht immer einverstanden ist. Ein Buch, das wohl nicht auf Deutsch erscheinen wird - es würde allen, sich fortschrittlich verstehenden Lesern viel zu schwer im Magen liegen, ein im besten Sinne "schonungsloses" Buch.

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