"Schädelstopfer" und "Poilus"

Kriegspropaganda 1914-18: Ausnahmezustand der bürgerlichen Demokratie: fast alle französischen Intellektuellen stehen an der Propagandafront. Ihre Mission: Heroisierung der Soldaten, Beschweigen des Massensterbens und Marginalisierung des Pazifismus.

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Aus dem Frontnotizbuch I des Schriftstellers Henri Barbusse:

15. Januar 1915. Mit dem Bajonett in die Schützengräben. Artilleriebeschuss. Wir suchen Deckung. Lethune neben mir verwundet... Eineinhalb Meter von mir wird D. am Kopf getroffen und röchelt mit zertrümmertem Schädel, während ich, den Brotbeutel überm Kopf, noch auf die Einschläge warte. Ich nehme an, er schnarcht; als ich mich umwende, sehe ich ihn mit Blut und Erde bedeckt daliegen. G., dem der Arm weggerissen ist, schreit man solle ihm den Arm verbinden. Das Trommelfeuer wird heftiger...

Frontnotizbuch II (9 Monate später):

14.Oktober 1915. Heute morgen haben Monial und ich den Unterstand verlassen. Wir steigen zur Straße hinauf. Die Toten, die hier lagen, sind weggeschafft worden. Sie hatten entsetzlich und erbarmungswürdig ausgesehen. Einer war völlig schwarz im Gesicht, hatte gedunsene, verfärbte Lippen und zerfetzte Hände... Andere waren formlose, schmutzige Bündel, aus denen unbestimmbare Dinge hervorragten... Ein Stück weiter hatten wir einen Toten transportiert, den wir in Maschendraht und in eine Zeltbahn wickeln und das Ganze dann mit Schnüren an einem Pfahl binden mussten.

Wie erträgt man das Unerträgliche? Über ein, zwei, drei, vier Jahre? Verdun 1916: über 300.000 Tote, kein einziger Territorialgewinn. Die Schlacht an der Somme im selben Jahr: 450.000 Tote, über 600.000 Verwundete, 12 Kilometer Gewinn.

Im öffentlichen Diskurs gab es lange Zeit nur eine Antwort. Und die erinnert fast an das „moralische Gesetz in mir“ eines bekannten Philisophen: Ein intrinsisches patriotisches Pflichtgefühl habe die „Poilus“ (die einfachen Soldaten, im Militärjargon die"Behaarten") getrieben, ihr Vaterland ge- und entschlossen zu verteidigen. Im Kampf gegen die barbarischen „Boches“ des Kaisers, dessen Großvater Elsass und Lothringen geraubt hatte und nun schon wieder im Land stand, verteidigten diese einfachen und ehrlichen Leute die universellen Menschenrechte. Jeder wusste, so der Diskurs, dass es um „mehr“ als seine kleine Person gehe, nämlich um die "Sainte République".

Die neuere Historiographie hat bewiesen: das Bildnis ist zu schön, um (ganz) wahr zu sein. Die patriotischen Demonstrationen im August 1914 waren eher die (großstädtische) Ausnahme. Gleichzeitig gab es große Manifestationen für den Frieden, noch Ende Juli 1914. Die selbst-bewusste Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, findet sich offensichtlich in den Briefen und öffentlichen Texten bürgerlicher Intellektueller. Die Mehrheit der Eingezogenen meldete sich jedoch in den Kriegsbüros, weil sie es mussten. Die „Pflicht“ war ein äußerer Zwang, dem „man“ folgte, weil man es in der republikanischen Schule und beim Militär so gelernt hatte. Und weil man Sanktionen befürchtete. Eine freie Wahl war das nicht. Der Historiker André Loez erklärt:

Franzose“ zu sein, war weniger Ausdruck einer innigen Identität als eines sozialen Zwangs, verbunden mit einer Norm (der "Pflicht") und sozialen Interaktionen (z.B. nicht vor den Kameraden „kneifen“).

Gelernter Zwang und Norm war auch die bekannte „Arbeitsteilung“ der Geschlechter im Krieg, in allen Ländern: Den Frauen waren die Tränen, die Angst und die Versorgung der Wunden vorbehalten, später mussten sie die Lücken in den Werkhallen schließen. Den Männern oblag der unbedingte Wille, das Vaterland nicht im Stich zu lassen (wie es damals in Deutschland hieß). Und das "Schlachthaus" zu ertragen. Ein bisschen mehr als unser „Frieren für die Freiheit“, aber so ähnlich schon. Es sollte schließlich 3 Jahre dauern, bis den konsternierten Offizieren ein lautes

Erschießt mich doch, aber in den Schützengraben gehe ich nicht mehr. Läuft ja auch auf dasselbe hinaus!

entgegengeschleudert wurde

Die "Poilus" hatten den Krieg nicht gewählt. Er hatte sich ihnen von außen aufgedrängt, sie in eine Maschinerie versetzt, die ihnen den "freien Willen" nahm. Bourdieu spricht von einer "somatischen Hörigkeit". Sicher, es gab von Anfang an Fälle kollektiven Ungehorsams, mancher hatte auch das unerwartete Glück einer „guten Verletzung“ oder einer Verwendung hinter der Front, aber der „Poilu“ war dazu verdammt „durchzuhalten“. Da half auch nicht der - statistische - Liter schlechten Weins, der "Pinard", am Abend. Wieder hatte er keine Wahl. Befehlsverweigerungen wurden streng geahndet (Entzug von Tabak, Verhinderung von Fronturlaub, Stigmatisierung). Desertionen wurden "pour l'exemple" mit Erschießung bestraft, vor der Kompagnie. Erst ab 1916 mussten die Todesurteile der Kriegsgerichte politisch bestätigt werden. Ein "Poilu" berichtet:

Der Gnadenschuss erfolgt durch den Sergeant und dann muss die Kompagnie am Leichnahm des Kameraden vorbeiziehen. Kaum jemand kann die Tränen unterdrücken.

In sicherer Entfernung

Zu den Konstanten des modernen Krieges gehört die Zunahme des bellizistischen Tons mit der sicheren Entfernung zur Front. Die „Kriegskultur“, so der Historiker Nicolas Offenstadt, fand sich eher hinter als an der Kampflinie. Die Legitimation des Krieges war das „Privileg“ der urbanen „Träger des symbolischen Kapitals“ (Intellektuelle, Romanciers, Journalisten, Wissenschaftler, Politiker). 1921 schrieb der pazifistische Philosoph Alain:

Es gibt zwei Arten von Kriegen. Den einen fasst man in Worte, den anderen macht man. Und die beiden haben fast nichts miteinander gemein .

Mit dem Kriegsbeginn setzte setzte sich unter den Intellektuellen ungemein schnell eine immergleiche Doxa durch: Manches war permanent zu wiederholen, anderes unbedingt zu beschweigen. Es ging um die Positionkämpfe in den literarischen und journalistischen Feldern. Da war einerseits Anpassung angesagt, andererseits aber auch die Kunst, distinktive Unterschiede zu setzen.

Mit der Ermordung von Jean Jaurès am 31. Juli war die große Symbolfigur des Kampfes für den Frieden zu Schweigen gebracht worden. Bis zuletzt hatte der Sozialist an den Erfolg eines Generalstreiks der der französischen und der deutschen Arbeiterklasse zur Bewahrung des Friedens geglaubt. Die nationalistische Rechte ihrerseits sah ihn als „Agent der deutschen Partei“. Und auch von sich links verstehenden Intellektuellen wurde er kritisiert. Charles Péguy fand zum Beispiel diese netten Worte:

In Kriegszeiten gibt es nur eine Politik, die des Nationalkonvents. Wir dürfen nicht verschweigen, was eine Politik des Nationalkonvents (Péguy spielt auf die Revolutionskriege 1792/93 an) für Jaurès bedeuten würde: den Karren zur Hinrichtung und Trommelwirbel, um seine laute Stimme zu übertönen.

Am 3. August 1914 offenbarte sich die „Zeitenwende“: Das deutsche Kaiserreich erklärte der französischen Republik den Krieg. Am 4. August billigte die SPD im Reichstag die Kriegskredite. Und am selben Tag erklärte der Generalsekretär der CGT, Léon Jouhaux, am frischen Grab Jaurès den Krieg :

Diesen Krieg haben wir nicht gewollt. Diejenigen, die ihn entfesselt haben, sind Despoten mit blutrünstigen Absichten, mit Träumen von krimineller Vorherrschaft. Sie werden dafür büßen müssen.

Dagegen verblasste die Erkenntnis, dass an jeder Seite des Bajonetts ein Proletarier steckte. Auch die Abgeordneten des PS-SFIO (Section française de l'Internationale ouvrière) stimmten am 4. August für die Kriegskredite. Dafür durften sie später zwei Minister stellen. Der Spruch des deutschen Empereur "Ich kenne keine Parteien mehr" fand seine Entsprechung in der "Union sacrée" des französischen Präsidenten Poincaré. Das klang zwar nicht so deutsch-mittelalterlich, aber meinte im Grunde dasselbe wie der deutsche „Burgfrieden“. Rechte und Linke fielen sich im Krieg in die weit geöffneten Arme: die Armee und die Nation waren „sacrées“ (duften also nicht hinterfragt werden), der Feind ein Barbar (er führte sich in Belgien tatsächlich barbarisch auf) – und überall lauerten Spione. Der Plan, auf der Grundlage des berüchtigten „Carnet B“, einer Liste mit den Namen erklärter Pazifisten, Verhaftungen von Kriegsgegnern durchzuführen, war damit Makulatur. Die bürgerliche Demokratie hatte schließlich den Anspruch des Rechtsstaats.

Die Intellektuellen zogen also für die "Union sacrée" in den Krieg, manche an die Front, andere blieben in Paris. Wie "ein Mann" standen sie hinter dem einfachen "Poilu", dessen tiefe Verbundenheit mit der nationalen Sache für sie außer Frage stand. Dass er sein Leben zu opfern hatte, war selbstverständlich. Sie würden seinen Tod zelebrieren. Der 51-jährige Star der Rechtsintellektuellen und Abgeordnete Maurice Barrès verkündete in der Nationalversammlung:

Ich engagiere mich …

und fuhr nach Verklingen der lauten Bravorufe tapfer fort:

den ganzen Krieg lang einen Artikel pro Tag für das „Echo de Paris“ zu schreiben.

Und er hielt tapfer durch. (Fast) jeden Tag veröffentlichte Barrès auf der ersten Seite links des "Echo de Paris" lange Kommentare zu den unterschiedlichsten Aspekten des Krieges, von der Versorgung der Invaliden, der Witwen und Waisen bis zu den Sorgen der Frontkämpfer. Der Erznationalist forderte sogar das Wahlrecht für Frauen, genauer, für die Frauen und Mütter gefallener Soldaten. Aus dem extrem antisemitischen Anti-Dreyfusard wurde ein repräsentativer Verfechter der weißen und trikoloren „Union sacrée“. Dabei zeigte er sich als Meister in der „Sinngebung“. Das anonyme Massensterben an der Front verwob er mit dem „Mythe national“. Immer wieder rekurriert er auf die Heroen des "Mythe national", Charles Martel, Roland, die Lothringerin Jeanne d'Arc:

Im Rolandslied sprechen während der Schlacht nur die Führer, Roland, Olivier, Turpin. Die anderen kämpfen wortlos, aber wenn die Schweigsamen, die Anonymen gestorben sind, lässt Gott auf dem Leichnam eines jeden einen Weißdorn sprießen...Unsere Epen drücken die Heiligkeit der anonymen Verdienste durch schöne Symbole aus.

Aber neben den "Anonymen" gibt es die Helden. Am 17. September 1914 erhob Barrès den Schriftsteller und Dreyfusard Charles Péguy in den Pantheon der "Union sacrée":

Er ist durch eine plötzliche Kugel gestorben. Wir sind stolz auf unseren Freund. Er starb mit den Waffen in der Hand, im Angesicht des Feindes, der Frontleutnant Charles Péguy. Von nun an gehört er zu den Helden der französischen Gedankenwelt. Sein Opfer vergrößert den Wert seines Werkes. Er feierte die moralische Größe,die Verleugnung, die Extase der Seele. Nun ist er heilig...

Barrès schreckte aber auch nicht vor Kolportagen zurück. Am 19. Dezember 1914 warnte er:

In Lothringen hat man mir erzählt, dass sich die Deutschen mit erhobenen Armen näherten und « Kamerad» riefen. Um dann plötzlich die Maschinengewehre zu enthüllen und unsere zu vertraulichen Brüder zu massakrieren.

Im Ausnahmezustand der Krieges ist die Zensur essentiell. So war es der Presse streng untersagt, die Frage nach den Kriegszielen Frankreichs zu stellen (Was geschieht mit dem Saarland, mit den Kolonien?). Hervorzuheben war der rein defensive Charakter des Krieges. Eine Anweisung verbot sogar das Wort "Frieden". Wie in allen kriegsführenden Ländern (gerade in Deutschland) sollte der Krieg als - naturwüchsiger - Zusammenstoß der « Kulturen » erscheinen, für Barrès eine leichte Übung. Am 16. Dezember 1916 erklärte er den bürgerlichen Lesern des "Echos de Paris" unter dem Titel "Unsere Meister ":

Sie mobilisieren ihre Intellektuellen gleichzeitig mit ihren Soldaten und befehlen ihren Gelehrten, ein Banditenzertifikat zu unterzeichnen... Die deutsche « Kultur » ist nichts anderes als die Organisation der wilden Grausamkeit, der Theorie der Begehrlichkeit, der Industrie als Beiwerk der reinen Kraft. Sie prahlen mit Goethe und Schiller, mit Kant und Herder. Aber weder die beiden Poeten noch die beiden Phbilosophen haben Deutschland zivilisiert. Wer hat denn Deutschland zivilisiert ? Niemand !

Im "Intransigeant" , dem auflagenstärksten konservativen Metropolenblatt, schrieb Henri Lavedan, Mitglied der "Académie francaise" im Oktober 1914 über das Lachen der "Poilus":

Der französische Soldat lacht überall, wo er ist. Er hat schon am Tag seiner Mobilisierung gelacht. Das Lachen der Schützengräben ist außergewöhnlich, wunderbar. Es beruhigt den Hunger und den Durst, kräftigt und erfrischt... Übrigens muss der französische Soldat einfach lachen, denn jeder Kampf ist für ihn wie eine Schulhofpause. Dieses schreckliche und ehrlichen Lachen drückt einfach die Freude zu kämpfen aus, auch angesichts des Todes.

Die Republik „verdankte“ Lavedan ein „Credo des Français“. Einige Verse mögen hier reichen:

Ich glaube an den Mut unserer Soldaten, an die Wissenschaft und an die Hingabe unserer Führer­

Ich glaube an das Recht, den heiligen Krieg der Zivilisierten und an das ewige Frankreich.

Ich glaube an die Gebete der Frauen, an die heroische Schlaflosigkeit der Gattin, an die fromme Ruhe der Mütter, an die Reinheit unserer Sache, an den unbefleckten Ruhm unserer Fahnen...

Ich glaube an uns. Ich glaube an Gott. Ich glaube! Ich glaube!

"Der Gehorsam ist das letzte Glück"

„Bourrage de crânes“ nannten die „Poilus“ solche Texte, „Schädelstopfen“. Es wäre ein Irrtum, sie nur den Nationalisten und Konservativen zuzuschreiben. Zwar liegt es quasi in der Natur der Sache, dass der Krieg die hohe Zeit des extremen Nationalismus ist, aber auch die Linke hatte sich quasi über Nacht verändert. Am Tag seiner Ermordung erschien in der damals sozialistischen „Humanité“ noch flammender Aufruf des Redaktionsdirektors Jaurès. Es sollte sein letzter sein. Der Schrecken des Krieges könne der Menschheit erspart werden, wenn der Pflicht des „Heroismus der Gedanken“ und des „Heroismus der Tat“ bekämpft folge. Noch am Abend der Ermordung von Jaurès notierte der junge Sozialist (und spätere Résistant) Jean Texcier:

Der europäische Krieg ist fast unvermeidbar, etwas Immenses und Barbarisches, das verwirrt und entwaffnet. Wo sind die Erklärungen von neulich? Wo die Drohungen: Generalstreik, Aufstand? Man fühlt sich wie in einem Wirbelwind, der uns gleichzeitig mitreißt und immobilisert.

Das Notat zeigt die Hilf- und Ratlosigkeit der Pazifisten im Sommer 1914. Die Ohnmacht der Arbeiterklasse und ihrer politischen Repräsentanten (vor allem im Kaiserreich) war überdeutlich. Der Glocken von Basel wurden von den Trommeln und Fanfaren übertönt. Der Pazifismus war "entwaffnet". Einen Monat später zeigte sich jedoch Edouard Vaillant, immerhin ein alter Communarde, im einstigen Blatt Jaurès' ganz sicher:

Der Kampf für die Unabhängigkeit Frankreichs ist der Kampf für den Frieden in der Welt,so dass patriotische und sozialistische Pflicht sich gegenseitig stärken.

Für die nächsten zwei Jahre bestimmten die Kriegsbefürworter den Kurs der „Humanité“. Die pazifistischen Gruppen waren zunächst ohne jede Wirkung. Es sollte ein Jahr dauern, bis im Manifest von Zimmerwald (Schweiz) wieder internationalistische Töne erklangen:

Proletarier Europas!

Der Krieg dauert schon über ein Jahr. Millionen Kadaver bedecken die Gefechtsfelder. Millionen Männer werden bis zum Ende ihres Lebens verstümmelt sein. Europa ist ein riesiges Schlachthaus geworden...Proletarier! Ihr habt eure ganze Kraft, euren ganzen Mut, eure ganze Ausdauer in den Dienst der besitzenden Klassen gestellt, um euch gegenseitig zu töten. Heute müsst ihr für eure eigene Sache kämpfen, für das geheiligte Ziel des Sozialismus, für die Befreiung der unterdrückten Völker und der versklavten Klassen.

Als Reaktion und in Rücksicht auf das verbündet Zarenregime wurde 1916 der "Zimmerwaldien" Trotzki ausgewiesen. Immerhin trotzte im selben Jahr eine Handvoll von Sozialisten der „Union sacrée“ und stimmte in der Nationalversammlung gegen die Kriegskredite. Aber kommen wir zu den Intellektuellen zurück. Diesmal also den linken. Den einstmals linken.

Der geistreiche Polyhistor Remy de Gourmont ist heute fast unbekannt. Dabei hatte seine Kritik des reaktionären Katholizismus und des patriotischen Revanchismus ihm nicht wenige bedeutende Feinde bei den Rechten und viel Ehr' bei den Linken eingebracht. Die Pflichtübung des Betrauerns des Verlustes von Elsass und Lothringen hatte er 1891 als „patriotische Spielzeug“ bezeichnet und über das wirklich Wichtige im Leben nachgedacht:

Persönlich würde ich im Austausch mit diesen vergessenen Ländern weder den kleinen Finger der rechten Hand hergeben – schließlich dient er mir zum Abstützen meiner Hand beim Schreiben -, noch den kleinen Finger der linken Hand. Die brauche ich nämlich zum Ausdrücken meiner Zigarette.

Nun schrieb er so eindeutige Texte wie diesen aus der Sammlung „Während des Gewitters“ (1915):

Der Gehorsam ist das letzte Glück für diejenigen, die ihren Willen in die Hände ihrer Führer gelegt haben. Wie dies das Leben vereinfacht!... Ich werde nicht überrascht sein, wenn ein junger Soldat später bei der Erinnerung an diese harte Momente sagen wird: „Das war die glücklichste Zeit meines Lebens.“

Wo es um "Sinngebung" geht, dürfen die Historiker nicht fehlen. Die Revolutionshistoriker sahen im französischen Defensivkrieg eine Art Wiederbelebung der Revolutionskriege des „Jahres II“ (1792/93), allerdings mit unterschiedlichen Heroen (die auch nicht fehlen dürfen), Danton für den einen (Aulard), Robespierre für den anderen (Mathiez). Ihre deutschen Kollegen bezogen sich quasi in einer Parallelaktion auf die "Befreiungskriege" gegen Napoleon 1812/13.

Interessant ist die Häutung des Antimilitaristen Gustave Hervé. Bis 1914 war kaum ein Radikalerer in der sozialistischen Partei zu finden als der Herausgeber der „Guerre sociale“, dem „Organ des revolutionären Proletariats“. Hervé galt als der „Blanqui moderne“. Er war der Antipatriot und Internationalist par excellence. 1905 schrieb er:

Was das Vaterland ist? Das hier! Das ist diese monströse soziale Ungleichheit, die schändliche Ausbeutung einer Nation durch eine privilegierte Klasse.

Mit Ausbruch des Krieges verlangte der 43-Jährige dem „ersten Infanterieregiment in Richtung Grenze“ zugeordnet zu werden. Der Kriegsminister sah ihn jedoch lieber als Propagandisten der „Union sacrée“. SeineMetamorphose zum Bellizisten begründete Hervé 1915 in „La Patrie en danger“:

Ach! Unser schöner Traum vom internationalen Generalstreik gegen den Krieg, wo ist er geblieben?... Unsere Flügel sind beim Schock der harten Realitäten gebrochen, und nun sind auf auf unserem angeborenen Boden, mit einer einzigen Sorge: ihn zu verteidigen, wie es unsere Vorfahren gegen den brutalen Eindringling getan haben.

Nimmermüde trommelte er für den Krieg. 1915 sprach er von den „blökenden Pazifisten von Zimmerwald". Ein Jahr später benannte er seine Zeitschrift in „La Victoire“ um und erreichte tatsächlich eine Auflage von 80.000 Exemplaren. Hervé vertrat nun – ähnlich wie Mussolini - einen „Socialisme national“. Gegen den „alten Boche-Sozialismus des Klassenkampfes“ setzte er auf die Klassenversöhnung und eine starke politische Führung. Es sollte nicht seine letzte Mutation bleiben. In seinem letzten Lebensjahr (1944) bilanzierte Hervé sein politisches Leben: Er sei immer der erste gewesen: der erste Bolschewist, der erste Faschist, der erste Pétainist, der erste Résistant und der erste Gaullist. So konnte man es auch sehen.

Angesichts dieser geballten intellektuellen Artillerie schien Widerstand zwecklos. Einige Autoren standen als Eingezogene unter der Kontrolle ihrer Hierarchie, so der pazifistische Philosoph Alain („Ich fliehe in die Armee. Lieber bin ich körperlicher Sklave als geistiger“). Andere schwiegen öffentlich oder kauten die Doxa der „Union sacrée“ wieder – und kritisierten diese privatim in Briefen und Tagebüchern. Nur wenige besaßen die Courage eines Romain Rolland („Au-dessus de la mêlée“, 1915):

Diese intellektuelle Elite, diese Kirchen, diese Arbeiterparteien haben den Krieg nicht gewollt. So sei es... Aber was haben sie gemacht, um ihn zu verhindern? Was haben sie gemacht, um ihn abzumildern? Sie haben den Brand mit entfacht. Jeder trage seine Last.

Rolland saß zwischen den Stühlen. Er musste gleichzeitig die violente Kritik der deutschen Kriegsenthusiasten (Thomas Mann) und die der französischen Bellizisten ertragen. Henri Massis, Anhänger der „Action française“, schrieb ein ganzes Buch über den "Verräter" („Rolland contre la France“). Der weiße und der trikolore Teil der „Union sacrée“ konnten aber nicht verhindern, dass – im Kriegsdeutschland undenkbar – ein Antikriegsbuch 1916 den bedeutenden Prix Goncourt erhielt: „Le Feu“ von Henri Barbusse. Der Autor hatte sich 1914 freiwillig gemeldet, um gegen den preußischen Militarismus zu kämpfen. Er musste jedoch erkennen, dass der Krieg „eine monströse und vor allem dumme Sache“ ist, wie er seiner Frau schreibt:

Man kämpft für den Fortschritt, nicht gegen ein Land., gegen einen Irrtum, nicht gegen ein Land.

Der Roman zeigt ganz konkret die buchstäbliche Unmenschlichkeit des Krieges. Allerdings leisten seine Helden keinen Widerstand.Das hätte die Zensur wohl nicht geduldet. Barbusse selbst durfte bis zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst 1917 nicht öffentlich zu seinem Buch Stellung nehmen. Aber der Erfolg von „Le Feu“ zeigt an, wie groß der Bedarf an realitischer Kriegsdarstellung war. Bis Juli 1918 waren 200.000 Exemplare verkauft. Nach der Lektüre von Auszügen aus dem Buch wurde Käthe Kollwitz Pazifistin.

"Ich gehe nach Stockholm"

Verlassen wir also die Pariser Intellektuellenwelt in Richtung Front. Die Jahre verstrichen. Leben und Sterben in den Gräben, im Schlamm. Die Läuse. Die Ratten. Das Trommelfeuer. Die Angst, einen Kopfschuss abzubekommen, lebendig begraben zu werden oder im Stacheldraht zu hängen. Das Gefühl der Sinnlosigkeit. Die "Fatigue". Die große Offensive des Frühjahrs 1917 unter Führung des Generalissimus Nivelle, mit neuen Panzern, gab den zermürbten Männern Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Doch wieder erlebten sie den Choc der harten Realitäten: Wieder einmal verloren Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben. Die (von der Zensur kassierten) Briefe von der Front zeigen: die "Poilus" haben nur noch ein Ziel: endlich Frieden, endlich ein Ende der „Boucherie“ (der Abschlachterei). Die oft diffusen Nachrichten über die russische Februarrevolution machten Hoffnung. Von Fraternisierungen war die Rede, von Arbeiter- und Soldatenräten. Gerüchte vom Separatfrieden im Osten kursierten. Der Name „Stockholm“ bekam plötzlich eine hypnotische Kraft. Die geplante Konferenz der europäischen Sozialisten band die Hoffnungen an sich. Beispielhaft sei der „meuternde“ Soldat Barjolle zitiert, den sein Hauptmann fragt, wohin er denn gehe:

Ich gehe nach Stockholm.

Die Konferenz scheiterte bekanntlich. Auf Druck des neuen Generalissimus Pétain, des „guten Soldaten“ (Macron), wurden den sozialistischen Delegierten einfach die nötigen Papiere verweigert.

Hoffnung auf ein Kriegsende erweckte auch die Streikwelle. Im Mai 1917 streikten und demonstrierten Zigtausende Näherinnen und Munitionsarbeiterinnen für höheren Lohn und für den Frieden. Ihre Parolen waren „Vive la paix!“ und „A bas la guerre!“ Die rote Fahne wurde wieder sichtbar. An der Front kam das (falsche) Gerücht auf, die Polizei habe die Streiks blutig unterdrückt.

Die „Mutineries“ breiteten sich ungemein schnell aus. André Loez zeigt dies an einem Beispiel:

Am Abend des 21. Mai protestierten die Männer des 162. Regiments in Coulonges gegen ihren vermuteten erneuten Einsatz an der Front. Sie sangen die „Internationale“. Einen Tag später gab es eine andere Demonstration im 7 Kilometer entfernten Nachbardorf Ronchères, wieder mit Absingen der „Internationale“. Mit Messern bewaffnet, durchsuchten die Soldaten das Divisionsdepot. Der Kommandant musste drei Delegierte empfangen, die ihm ihre Beschwerden mitteilen. Er konnte sie vorerst beruhigen. Am 24. Mai kommt es wieder zu Diskussionen zwischen Soldaten und Offizieren. Drohungen werden ausgeteilt. Am 25. Mai demonstrieren Soldaten im nächsten Nachbardorf, wieder unter Singen der „Internationale“. Ein Oberst wurde mit Steinen beworfen.

Ende Mai war die Transformation der „Guerre des tranchées“ (Krieg der Schützengräben) in einen „Grève des tranchées“(Streik der Sch.) ein Massenphänomen geworden. Die Gesamtzahl der „Meuterer“ ist zwar aufgrund der extrem lückenhaften Quellenlage kaum quantifizierbar. Es gab wohl zwischen 30.000 bis 80.000 „Mutins“. Die Hüter der Ordnung waren hoch beunruhigt, der Generalstab ebenso wie Regierung und Parlament. Kollektive Befehlsweigerung ist für alle Militärs eine nicht zu duldende Transgression, auch in nicht-diktatorialen Staaten. Die Offiziere schienen jedoch zunächst handlungsunfähig. Drohungen und Appelle funktionierten nicht. Ein Bataillonschef, der die „Mutins“ aufforderte, doch endlich wieder zu marschieren, und zwar „für Frankreich“, bekam die Antwort:

Wenn man sieht, was im Moment passiert, kann man doch nicht für Frankreich marschieren.

Natürlich wurde die übliche Taktik eingesetzt. Gewalt und Verhandlungen lösten einander ab. Es endete zumeist mit dem Einsatz der Gendarmerie. Die "Mutins" wurden in Lastwagen verfrachtet, hinter die Front transportiert und schließlich verhaftet.

In einer ersten Phase wurden Exekutionen "pour l'exemple" durchgeführt. Erst ab Mitte Juni gewährte Pétain, der Militär der Stunde, die politische Bestätigung der militärgerichtlichen Urteile, die in der Regel gnadenlos ausfielen. Über 500 Todesurteile wurden gefällt, zahlreiche „Mutins“ wurden zu langen Gefängnisstrafen und Zwangsarbeit veurteilt (wegen „mildernder Umstände“). Auch wenn die meisten Todesurteile durch den Präsidenten Poincaré aufgehoben wurden (besser: in lange Gefängnisstrafen umgewandelt wurden), erinnern sie in ihrer Härte an die Bestrafung der Aufständischen in den Jahren 1848, 1851 und 1871.

Die Presse schrieb darüber nichts, im Unterschied zur Stockholm-Konferenz. Das „Echo de Paris“ vom 1. Juni 1917 berichtete, Monsieur Barrès habe eine Abordnung von Kriegsversehrten empfangen, die ihm eine Protestnote überreichten. Deren Kernsatz lautete:

Wie kann man es wagen, mit den Boches parlamentieren zu wollen, mit denen, die unsere Frauen und unsere Kinder ermorden, mit denen, die den Verwundeten den Rest geben?… Gehe man doch in die erste Linie und frage nach, was unsere Kameraden darüber denken!

Nota bene, sie sprachen von Sozialisten, die Wege zum Frieden suchen.

Der rechtsnationalistische „Intransigeant“ argumentierte über Ecken. Am 7. Juni berichtet der Journalist von einer Begegnung mit dem „Charcutier“ (Metzger), angeblich ein Ex-Sozialist, eher aber eine Kunstfigur, die als Stimme des Volkes dient. Der sieht auf einem Bistrotisch eine Zeitung mit dem Titel „Stockholm“ und reagiert:

Ah, diese Schweine!“ rief er. Ich hatte verstanden. Der Vater wollte nicht, dass sein Unteroffizier für nichts gestorben sei. Er wollte nicht, dass man mit denen, die seinen Sohn getötet hatten, verhandelt, diskutiert, paktiert, fraternisiert...

Über die „Mutinerie“ wurde noch nicht einmal laut geschwiegen. Die Zensur duldete gerade einmal Forderungen nach besserer Behandlung der "Poilus". Barrès schrieb am 15. Juni (die „Mutineries“ breiteten sich gerade aus):

Der Poilu wird so lange wie nötig durchhalten, wenn man ihm die Anstrengungen erleichtert.

Aber selbst ihm strichen die Zensoren 5 Zeilen. Die sozialistische „Humanité“, die am 10. Juni von der „Pflicht“ schrieb, in diesem Moment „unsere“ Soldaten besonders gut zu behandeln, wurde mit der Streichung von 25 Zeilen bestraft.

Am 12. September 1917 verließen die Sozialisten die Regierung und bereiteten damit der „Union sacrée“ ihr Ende. Der PS trat zwar noch für die „Union nationale“ bei der Landesverteidigung ein und kündigte ein Votum für die Kriegskredite an. Doch die „Minoritären“ in der Partei wurden immer stärker. Der neue Ministerpräsident Painlevé wurde durch eine heterogene Mehrheit der Rechten und der Linken gestürzt. In der Krise ernannte Poincaré Georges Clémenceau zum Regierungschef, einst ein Unterstützer der Commune, Freund von Jaurès, ein wichtiger Dreyfusard, der sich dann aber als Minister als unerbittlicher Streikunterdrücker ausgezeichnet hatte. Im Weltkrieg war er selbstverständlich Bellizist. 1917 machte er als Senator und Journalist die Pazifisten in der Arbeiterbewegung für die „Désordres“ und die „Crises“ in der Armee verantwortlich. Dem Innenminister warf er vor, nicht schon 1914 das „Carnet B“ angewendet zu haben. Jetzt sollte Clemenceau zum Retter der Exekutive werden. Seine Regierungsrede vom 22. November war mit Sätzen wie dem folgenden gespickt:

Wir haben nur eine einzige Aufgabe: bei unserem Soldaten zu sein, mit ihm zu leben, zu leiden, zu kämpfen. Allem abzuschwören, was nicht zum Vaterland gehört. Die Stunde ist gekommen, nur noch Franzose zu sein, mit dem Stolz uns zu sagen, dass dies reicht (Lebhafter Applaus)...

Schluss mit den pazifistischen Kampagnen, mit den deutschen Machenschaften, weder Verrat noch Halb-Verrat: der Krieg!

Und die Konstruktion des „Inneren Feindes“ gelang. Die „Defaitisten“ und „Collaborateure“ wurden – wie die „Zimmerwaldiens“ mit den „Boches“ assoziiert. Eine Jagd auf wirkliche und vermeintliche Spione begann (im Oktober 1917 war Mata Hari exekutiert worden). Romain Rolland wurde zum „Vater des intellektuellen Defaitismus“ erklärt. Er sei verantwortlich für „das Virus des Defaitismus“, so die Schriftstellerin Isabelle Debran 1918).

Aber ausgerechnet der Tiger profitierte vom Glück des Moments. Clé,menceau avancierte unter Beihilfe der Presse zum "Vater des Sieges". Die Streikbewegung vom Frühjahr 1918 löste er nach dem Prinzip von harter Repression und Entgegenkommen. Die letzte große Offensive der Deutschen blieb im Juni 1918 stecken. Die amerikanische materielle und personale Hilfe tat ihre Wirkung. Am 11. November unterzeichnete Erzberger den Waffenstillstand. Am 12. November schrieb Barrès seinen ersten Kommentar nach dem Krieg:

Frankreichs Ruhm.

Grüßen wir den FRIEDEN, voller Ruhm, errungen durch unsere Kämpfer. Ewige Dankbarkeit für unsere Führer und unsere Soldaten!

Zeit für die Bilanz des „Großen Krieges“: 8 bis 10 Millionen militärische Opfer, 10 Millionen zivile Opfer, 30 bis 40 Millionen Verletzte und der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Der Krieg war die "Urkatastrophe", der andere folgen sollten - bis heute.

Suzanne Citron, Le Mythe National. Paris 2017

Antoine Compagnon (Ed.), La Grande Guerre des écrivains, Paris 2014

André Loez, 14-18. Le refus de la guerre. Paris 2014

André Loez/Nicolas Offenstadt, La Grande Guerre. Paris 2014

Wolfgang Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Berlin 1994

Michel Winock, Le siècle des intellectuels, Paris 1997

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