Marquis de Morès und seine Freunde

Protofaschismus Der erste "nationale Sozialist" Frankreichs ist heute nahezu vergessen. Dabei nimmt er Elemente faschistischer und nationalpopulistischer Ideologie vorweg.

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Adel verpflichtet

Antoine-Amadée-Marie-Vincent Manca-Amat de Vallabrosa, Marquis de Morès. Der "Träger" eines solchen Namens muss bürgerliche Zeit- und Raumvorstellungen sprengen. Schon die lange Geschichte seiner Familie könnte von Stendhal ersonnen sein. Des Marquis' Vorfahren gehören zum sardinischen Kleinadel. Die Söhne werden in der Regel Militärs oder Geistliche, einer bringt es gar zum Erzbischof. Die Töchter sind bestmöglich zu verheiraten. 1775 erwirbt Don Antonio Manca-Amat für die Bagatelle von 70000 Pfund vom savoyischen König Viktor Amadeus III. das Recht des Herzogstitels. Und dennoch gerät die Familie wegen politischer Unzuverlässigkeit in Ungnade. Die Güter werden konfisziert. Der Herzog muss nach Frankreich emigrieren und kämpft von dort für die Restitution des Besitzes - erfolgreich. Sein Sohn, Richard (Ricardo) schlägt die obligate Offizierslaufbahn ein. 1858 erwirbt er von einem reichen Engländer einen Palast in Cannes und führt dort Hof. Im zweiten Kaiserreich ist - dank Eisenbahn - die französische Mittelmeerküste endgültig zum Treffpunkt der alten und neuen Aristokratie, der Schönen und Reichen geworden. Der britischen Aristokratie, auf der Flucht vor dem Massentourismus der englischen Seebäder, folgen die Großbürger. Auch reiche Amerikaner flanieren auf der "Promenade des Anglais".

In Cannes wird am 15. Juni 1858 der zukünftige Marquis de Morès geboren. Selbstverständlich ist ihm die Offizierslaufbahn vorgegeben, mit den Stationen Militärsschule Saint-Cyr (wo einer seiner Mitschüler der spätere Maréchal Pétain ist) und Kavallerieschule Saumur. Auch in der jungen Republik bilden die jungen Offiziere ihren unvergleichlichen Habitus aus. Das „Kapital“ eines Aristokraten ist Führungsstärke und Charakter. Im Commerce mit Seinesgleichen erwirbt der junge Offizier „Kenntnisse über Zigaretten, französischen Kognac, auch den souveränen Umgang mit Pferden“, wie der Historiker Stephan Malinowski über die Sozialisation des jungen Adels spöttelt. Marcel Proust hat diesen Habitus und seine „manières glacées“ meisterhaft am Beispiel des Marquis de Saint-Loup analysiert. Aber auch den „Praxistest“ besteht der junge Leutnant de Morès „glänzend“, so der Sprachgebrauch, bei einer militärischen Expedition gegen Rebellen in Algerien. Dort "bewährt" er sich auch bei seinem ersten Duell. Es sollen nicht wenige folgen.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6e/Medora1.jpgHélas: In der Blütezeit des Kapitals braucht der hohe Adel leider die Aristokratie des Geldes. 1881 verlässt der Marquis die Armee und heiratet die schöne Medora von Hoffmann, eine intelligente und polyglotte Frau, die zudem den Vorteil hat, die Tochter eines reichen New Yorker Bankiers zu sein. Aber auch die Nachteile sind keine geringen: die Abhängigkeit von der Finanzbourgeoisie, die soziale Reduktion des Hochgeborenen auf die Existenz eines dekorativen Elements in der Firmenpräsentation. Auf jeden Fall ist die Hochzeit in Cannes ein Großevent, das selbst der Prince of Wales mit seiner Anwesenheit schmückt.

Noch im selben Jahr siedelt das Paar nach New York über. Morès „arbeitet“ in Hoffmanns Bank. Es zeigt sich jedoch schnell, dass der junge Aristokrat nicht mit der Rolle des repräsentativen Schwiegersohns zufrieden ist. Der Besuch seines Cousins Fitz-James nach dessen Jagdexpedition in die Badlands zeigt ihm die buchstäblich abenteuerlichen Gewinnmöglichkeiten des Wilden Westen auf.

Unternehmer

Was folgt, ist ein Szenario à la Sergio Leone. Es geht um Massen von Rindfleisch. Die Eisenbahn ist das Medium zwischen der Fleischproduktion im Westen und der Distribution im industrialisierten Nordosten. Chicago entwickelt sich zum größten Getreide- und Fleischmarkt. Morès lässt in den Badlands (North-Dakota) ein riesiges Schlachthaus bauen. Das Fleisch soll in Kühlwaggons unter Umgehung der Großschlachter und Grossisten in Chicago an Einzelhändler geliefert werden. Mit Bankern gründet er die Northern Refrigerator Car C, mit einem Kapital von 200000 $.

Und Morès baut sein Château: eine Sommeresidenz mit 26 Zimmern und exklusivem Interieur. Es gehört heute zu den Tourismusattraktionen der kleinen Stadt Medora, Symbol des „entrepreneurial spirit“ des „French aristocrat“. Flügel, Leuchter, Porzellan, Kristall. Die Familie lebt comme il faut. Bei den Empfängen sind die Gäste erstaunt über die zahlreichen Bediensteten. Medora brilliert als perfekte Gastgeberin. Der Marquis inszeniert sich als Westernheld, präsentiert seine Reit- und Schießkünste, eckt aber in dieser Gesellschaft der Gleichen mit seinem ostentativen Aristokratismus an. Auch seine „Leute“ haben Probleme mit des Herrn Marquis' Befehlston.

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Gravierender sind aber die ökonomischen Probleme. Es fällt ihm schwer sich auf dem schon aufgeteilten Rindermarkt zu positionieren. Das Schlachthaus ist nie ausgelastet. Alle weiteren Pläne (Postkutschenlinie, Eisenbahn, Lachszüchterei, Seifenfabrik) zerschlagen sich. Der Schwiegervater schickt warnende Signale. Morès reagiert mit einer Kapitalerweiterung auf 1 Million $. Und er macht sich Feinde, weil er gegen das Westernprinzip des „open range“ verstößt. 1884/85 finden überall „Stacheldrahtkriege“ statt. Die (letzten) Büffeljäger zerschneiden Morès' „Teufelsseile“, die Rinderbarone bekämpfen seine Schafszuchten. Morès tötet gar einen Gegner, wird aber erwartungsgemäß frei gesprochen. It's not against the Law.

1884 holt er professionelle Schlachter aus Chicago, aber auch sie kommen „nur“ auf 80 Stück Vieh pro Tag. Das Fleisch findet kaum Abnehmer, angeblich wegen schlechter Qualität. Morès versucht das Chicago-Kartell zu umgehen und direkt nach New York zu liefern, wo er „Schlachtkooperativen“ eröffnet, doch auch hier hat er gegen die etablierten Großmetzgereien keine ökonomische Chance. Schon jetzt beginnt er die Schuld nicht der ökonomischen Situation und seiner eigenen Inkompetenz, sondern den „jüdischen Finanziers“ zuzuschreiben. Schließlich kehrt Morès nach Frankreich zurück. Ein finanziell ruinierter Mann, auch wenn sein amerikanischer Nachbar, kein Geringerer als Theodore Roosevelt, in der Bismarck Tribune vom 11. Oktober 1887 seine Reputation verteidigt:

Not broke. The Marquis is not broke. Neither in purse nor in family ties. He has lost money, but is far from banckruptcy or insolvence... The Marquis himself has a fixed income, from sources inherited. The father of the Marquis is a Frenche Duke respected throughout his country and able to save his son through any little difficulties like the Refrigerator Car Company failure.

Die prominente Freund geht so weit, den Wert des Pelzmantels der Frau Marquise zu erwähnen (18000 Dollars) sowie den herzöglichen Besitz der finest villa on the shore of the Mediterranean shore.

Auf väterlichen Rat unternimmt der Rastlose zwei Reisen nach Asien, jagt zusammen mit dem Prinz von Orléans Tiger in Indien. Und er entwickelt erneut den Plan einer Eisenbahnlinie, diesmal von der chinesischen Grenze zum Golf von Tonkin., 1888 wird er jedoch vom neuen Innenminister der Republik, der schon als vormaliger Generalgouverneur Indochinas diesen Plänen kritisch gegenüberstand, zurückberufen. Es ist die Zeit der Boulanger-Krise. Der Marquis sympathisiert mit dem „Général Revanche“, dem von vielen Linken und Rechten ersehnten Führer gegen die Republik.

Politik

Nach seiner Rückkehr wird Morès, wie der amerikanische Historiker Robert Byrnes formulierte, zum „ersten nationalen Sozialisten“. Erweckt wird er durch die Lektüre eines Bestsellers, Edouard Drumonts zweibändigem Werk „La France juive“:

Der Semit ist merkantil, gierig, intrigant, gerissen; der Arier ist leidenschaftlich, heroisch, ritterlich, ohne Eigeninteresse, frank und vertrauensselig bis zur Naivität.

http://www.encyclopedie.bseditions.fr/image/article/vignette/EU1900FRANCEPOLI003.jpgDie Rezeptionsbereitschaft für solche Aussagen ist groß: viele traditionelle Katholiken sehen sich von Freimaurern, Protestanten und vor allem Juden verfolgt. Zum „Beleg“ verweisen sie auf angebliche Intrigen Rothschilds bei dem Zusammenbruch der katholischen Bank Union générale. Auf der anderen Seite (der Barrikade) sehen nicht wenige Anarchisten und Sozialisten traditionell im „Youpin“ die Verkörperung des Kapitalisten. Die „Revue socialiste“ bespricht Drumonts Werk durchaus positiv. Selbst ein Jaurès, der antisemitische Vorurteile stets von sich weist, unterliegt eine Zeit lang dem „Effet Drumont“. Antisemiten und die politische Linke treffen sich in ihrer fundamentalen Ablehnung der bourgeoisen Republik.

Der Marquis de Morès entwickelt nun die Idee einer Fusion von Nationalismus und Sozialismus im antisemitischen Geist. Und er schreitet zur Aktion, schließlich, so Morès, ist es nur die Tat, die dem Leben Wert gibt. Er verbindet sich mit Drumont in der „Ligue antisémite“, arbeitet an dessen Massenblatt „La Libre Parole“ mit, und gründet 1891 seine „Troupe à choc“: „Morès et ses amis“, bestehend aus antisemitischen Anarchisten, Teilen der Bohème, vor allem aber aus Schlachtern der seit dem zweiten Empire zentralen Schlachthäuser von La Villette. Der Marquis erscheint täglich im blauen Hemd und mit breitem Hut in der „Cité du sang“, der Blutstadt. Und als ehemaliger Rinderbaron weiß der Dreiunddreißigjährige, wie man Schlachter beeindruckt: mit demonstrativer Männlichkeit, physischer Stärke, (antijüdischen) Witzen und Fluchen. Begleitet wird er von seinem „Leutnant“, dem dubiosen Jules Guérin. Der Journalist Raphael Vian schreibt noch 1899 über Morès:

Wir tranken seine vibrierenden Worte. Er war ein Teufel von einem Mann, frank und frei, loyal, leidenschaftlich. Wenn einer recht hatte, dann er.

Morès stellt sich selbst als Opfer dar, behauptet, die http://3.bp.blogspot.com/-8Jw-ceH9iS8/Uqd_Oaj3G6I/AAAAAAAAAds/JZ5IUGdvgFc/s1600/Cite-du-sang-Gil.jpgjüdischen Bankiers hätten in den USA seine guten Absichten, das Volk mit gutem preiswerten Fleisch zu ernähren, sabotiert. Die Schlachter und Metzger in La Villette nehmen diese Parolen nur zu ernst. Sie fühlen sich seit der letzten Einwanderungswelle jüdischer Schlachter aus Deutschland und Polen bedroht. Mit Verachtung sehen sie täglich die ihrer Meinung nach unmännliche Tötung durch Schächten. Sie ironisieren die jüdischen Esstabus. Den Marquis nennen sie laut Polizeibericht den „König der Hallen“. Gerade seine Mitarbeit an Drumonts Zeitung „La Libre Parole“ erhöht seine Glaubwürdigkeit.

Morès uniformiert seine „Freunde“: rotes Cowboyhemd, Sombrero. Er lässt sie bei der Hochzeit einer Rothschildtochter randalieren, streut Gerüchte. So sollen in Verdun (schon vor dem ersten Weltkrieg Symbol nationaler Verteidigungskunst) zwei jüdische Lieferanten die Armee mit dem Fleisch kranker Rinder beliefert haben. Suggeriert wird, dass die Juden im Solde des deutschen Erzfeindes Frankreichs Wehrkraft schwächen. Ein Gericht weist diese Klage zurück. Die Vorwürfe bleiben aber bestehen, wirken weiter. Morès organisiert große „Meetings“, in denen nichts dem Zufall überlassen bleibt: bezahlte Schlachter für den Schutz und die Randale, auch für die Claque ist gesorgt. Beim letzten Meeting finden sich über 3000 Zuhörer ein. Auf die „Hoch Morès! Hoch Drumont! Nieder mit den Juden!“-Rufe versucht ein bekannter Anarchist, das Wort zu ergreifen. Es entstehen Tumulte. Die Veranstaltung endet in einer Saalschlacht, die Morès Popularität noch vergrößert...

Die Atmosphäre ist in diesem Jahr 1892 buchstäblich explosiv. Der anarchistische „Dynamiteur“ Ravachol wird im Juli hingerichtet. Vor seiner Exekution singt er das alte Revolutionslied:

Si tu veux être heureux/Nom de Dieu/Pends ton propriétaire, Coup' les curés an deux/Nom de Dieu.

Die Empfehlung also, zum eigenen Glück den Ausbeuter zu hängen und die Geistlichen zu zweiteilen. Ravachol wird zum Helden, zum Märtyrer. Die Bürger haben Angst, die Politiker sind nervös. Morès veröffentlicht die Broschüre „Rothschild, Ravachol & Cie“:

Meine Absicht ist nicht die Insinuation, Ravachol sei der Verbündete oder der Agent Rothschilds. Aber die Resultate ihres Handelns sind dieselben, wenn auch weniger verheerend im Fall Ravachols. Der eine lässt nämlich die Nationen oder die Häuser, in die sie sich einführen, explodieren. Studieren wir den Ursprung von Rothschild... Die Rothschilds kommen auf Karren in Frankreich zu Beginn des Jahrhunderts an, aus dem Ausland und bereichern sich durch Waterloo, denn immer wenn das Blut Frankreichs verströmt wird, sind sie die Nutznießer.

Und auch der Marquis festigt seinen Ruf als Kämpfer für eine „gerechte“ Sache. Kalkuliert umarmt er öffentlich die Ex-Communarde und Anarchistin Louise Michel. Er wirft den Sozialisten vor, den „wahren“ Sozialismus an die Deutschen und die Engländer verkauft zu haben. Gleichzeitig fordert er, der Louis Blanc und Proudhon auf den Lippen führt, den Respekt vor Religion, Vaterland, Familie und Eigentum. Laut träumt er von einer Allianz mit den Arabern gegen England und die jüdischen Finanziers.

Im Mai 1892 erscheint in La Libre Parole der Artikel „Les Juifs dans l'Armée“ mit folgenden die Anti-Dreyfus-Ideologie vorwegnehmenden Kernsätzen:

In der Armee gibt es bei der enormen Mehrheit eine instinktive Abneigung gegen die Söhne Israels. Man erkennt in diesen den Wucherer, der den Ruin des verschuldeten Offiziers vollendet, den Lieferanten, der auf den Magen des Soldaten spekuliert, den Spion, der ohne Schamgefühl die Geheimnisse der nationalen Verteidigung verkauft.

http://p6.storage.canalblog.com/64/78/420656/91108028.jpg Es kommt zum Duell zwischen einem der wenigen jüdischen Offiziere und Drumont, zu weiteren Invektiven, weiteren Zweikämpfen. Am 23. Juni 1892 tötet Morès den jüdischen Hauptmann Mayer in einem Duell, angeblich mit einem präparierten Säbel. Im folgenden kurzen Prozess bekennt sich der Marquis zu zu seinem Judenhass. Er wird freigesprochen. Die vor dem Gericht wartende Menge begrüßt ihn frenetisch.

Morès begeht jedoch den Fehler, den eminenten Politiker Georges Clemenceau als englischen Spion zu bezeichnen. Der schickt ihm nicht seine Sekundanten, um ihn zu fordern, wie er es mit dem Nationalisten Paul Déroulède getan hat, sondern weist nach, dass der antisemitische Marquis ausgerechnet von dem in den Panamaskandal verwickelten jüdischen Bankier Cornélius Hertz Geld geliehen habe. Der Panamaskandal ist seit dem November 1892 das große 'Thema von „La Libre Parole“. Ende der Freundschaft mit Drumont. Ende einer politischen Karriere.

Märtyrer

Morès geht Ende 1893 nach Algerien, bildet den „parti http://pmcdn.priceminister.com/photo/crimes-n-17-l-assassinat-du-marquis-de-mores-de-collectif-922771878_ML.jpgantisémite algérien“. Trotz Warnungen unternimmt er 1896 eine Saharaexpedition, um die Touareg gegen die Engländer aufzuhetzen. Dabei wird er ermordet. In den zeitgenössischen Darstellungen erscheint er fast wie der mythische Held Roland, stundenlang den Säbel in der Hand gegen die Heiden kämpfend, bis ihn der verräterische Dolch ereilt. Ein Märtyrer der Rechten ist geboren.

Der Marquis de Morès ist beispielhaft für den Protofaschismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eine schillernde Persönlichkeit, Abenteurer und Aristokrat, ein Mann der Oberklasse, der charismatisch auf die „classes dangereuses“ wirkt. Irgendwie ist er ein „prinzipieller Lumpenproletarier“ mit dem „Vorzug vor dem schuftigen Bourgeois, dass er den Kampf gemein führen konnte“ (Marx über Napoléon III.).

Er und seine „Freunde“ gehören zu dieser neuen parallel zur Arbeiterbewegung entstehenden Rechten, die weiterhin die grundlegenden Ideologeme der ordnungsfanatischen Bourgeois vertritt (Familie, Vaterland, Eigentum, Religion), aber auch Schlüsselwörter der Arbeiterbewegung und des Anarchismus aufnimmt. Die dabei entstehenden (Klassen-)Widersprüche werden durch den Antisemitismus „aufgehoben“. Für einen einen nationalistischen Ideologen wie Maurice Barrès ist der Antisemitismus die „volkstümliche Formel“ par excellence. Der Jude symbolisiert die „Anti-Nation“, das „Negative“, das „Böse“, das „Kosmopolitische“. Der Kampf gegen ihn ist auch der Kampf gegen den unbegrenzten Liberalismus. Morés schreibt:

Man muss das Proletariat aufheben, man muss diesen Leuten etwas zu verteidigen geben, etwas zu erobern.

Er kann dabei an das xenophobe Potentialauch der französischen Proletarier anknüpfen. 1893 kommt es in Südfrankreich zu blutigen Schlachten mit italienischen Arbeitsmigranten, denjenigen, die, wie in der Massenpresse zu lesen ist, kommen, um das Brot der Franzosen zu essen.

Bei der Beerdigung Morès' legt der mit dem Toten versöhnte Drumont noch einmal die Feinde fest:

Er hat gegen das Judentum gekämpft, weil er wollte, dass die Kinder dieses Vaterlands nicht dazu verdammt sein sollten, mit ihrer Arbeit eine Handvoll Ausbeuter und Parasiten zu ernähren.

Im Jahr seines Todes erreicht die Dreyfus-Affäre eine neue Qualität. Der ehemalige Stellvertreter Morès', Guérin, gründet die Antisemitische Liga neu. Er führt militärische Führungsstrukturen ein. Jedes Mitglied bekommt eine Mitgliedsnummer. Eine Manufaktur produziert „Antisemitenstöcke“ (aus Eiche mit Eisenspitze), speziell für die Liga. Guérin ist unermüdlich im Automobil unterwegs, um sich als Vollstrecker Morès darzustellen. In Frankreich „beschränkt“ sich die Bewegung auf Demonstrationen, Schglägereien und Plündern jüdischer Geschäfte. In Algerien heizt sie regelrechte Pogrome an. Der Sieg der Dreyfusards setzt dem Spuk ein vorläufiges Ende. Die Protofaschisten versuchen verzweifelt den Staatsstreich, und die staatliche Repression zeigt Wirksamkeit: Guérin wird zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, der Nationalist Déroulède verbannt.

Heute ist der Marquis fast vergessen. Manchmal erinnern der Front national und die Identitären an ihn. In ihrem Gepäck ist er allemal.

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