Mélenchon président

Virtual History Das erste halbe Jahr des Präsidenten Mélenchon, vom zweiten Wahlgang bis zum Antrittsbesuch der neuen Kanzlerin im Elyséepalast. Was geschehen wäre, wenn, ja wenn...

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Vorbemerkung. Wir schreiben den 11. November 2017. Frau Merkel besucht den französischen Präsidenten Mélenchon. Ein guter Anlass, das erste halbe Jahr der Präsidentschaft Revue passieren zu lassen.

Am besten traf es wohl Willem, der Karikaturist der Libération: Aus dem Fenster einer schicken Werbeagentur schaut ein frustrierter Macron auf die Straße hinunter, auf der Robespierre, Blanqui, Louise Michel, Blum, De Gaulle und Mélenchon Arm in Arm manifestieren. Über ihnen eine große Banderole: En marche. Hinter ihnen läuft Dany le Rouge: Wartet auf mich! Der Karikaturist der Humanité zeichnete eine zerknirschte Madame Merkel am Schreibtisch, den ein Foto Adenauers ziert. Sie beginnt gerade einen Brief: „Lieber Jean-Luc!“ Auf dem Boden lauter begonnene Briefe.

Es lag schon etwas „Volksfront“ in der Luft, an diesem 9. Mai 2017. Man fühlte sich belebt wie von einem Mistral, der den fauligen Föhn verjagt, hatte Manès Sperber damals, 1936, geschrieben. Ein Charles Maurras hingegen war sicher, dass die Linken das französische Volk „zur Schlachtbank führen“ wollten. Dass der Kandidat der France insoumise den zweiten Wahlgang gegen Marine le Pen bestehen würde, war nach seinem Abschneiden im ersten allerdings keine Sensation mehr. Der alte Mechanismus wandte sich gegen seine bisherigen Nutznießer: Wer gegen Le Pen antritt, hat halt schon gewonnen. Trotzdem kündigte diese noch in der Wahlnacht den wie stets begeisterten Anhängern mit: Frankreich hat eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg! Mélenchon selbst schien ungewöhnlich ernst: Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit machen und alles sofort erwarten. Meine Aufgabe als Präsidentenmonarch ist es, genau diese Monarchie abzuschaffen. Das französische Volk entscheidet, ob es mir gelingt. Mit Geduld und Augenmaß. Die Wirtschaftsverbände und die Medien wollten es ihm jedenfalls nicht leicht machen. „La France ou le Cuba?“ titelte der Figaro. Le Monde – wie immer „ausgewogen“ - fragte: „Et maintenant, M. Le Président?“ Und jetzt?

Die wirtschaftsnahe Les Echos gab die Antwort: „It's economy, monsieur“ und spekulierte über eine Herabsetzung Frankreichs durch die Rating-Agenturen. Frankreich ein „B“-Land? In den privaten Nachrichtensendern malten die Experten eine schwarze Zukunft: Kapitalflucht, Kreditverteuerung, Staatsbankrott, Massenarmut. Allerdings blieb der Kapitalmarkt in diesen Tagen relativ stabil. Man war ja vorbereitet. Einen gewissen Kapitalexport hatte es schon vorher gegeben, allerdings geringer als erwartet, und auch die Schlangen vor den Geldschaltern waren kürzer als in den Medien gezeigt. Das heißt nicht, dass die Franzosen keine Angst um ihre geringen Ersparnisse hatten.

Am 17. Mai 2017 wurde Mélenchon offiziell als Präsident eingeführt. Er wirkte sehr staatsmännisch. In seiner kurzen Rede stellte er sich – natürlich – als Präsident aller Franzosen vor, einer, der sich der großen Aufgabe der Vorbereitung einer neuen Republik, einer „Révolution citoyenne“, bewusst sei. Mit Blick auf die Wahlen zur Nationalversammlung betonte er die Rolle des Volkes als Souverän Frankreichs. Und in der Tat erhielt die France insoumise (die mit jungen, oft unbekannten Kandidaten angetreten war) im zweiten Wahlgang am 18. Juni mehr Sitze als erwartet, während der Parti socialiste starke Verluste erlitt. Zwar brachten beide eine knappe parlamentarische Mehrheit zusammen, doch tendierten die meisten Sozialisten zur Gruppe „En marche“ Macrons, der mit den Zentristen gut 20 Prozent der Sitze erreichte, nicht mehr als das alte zerstrittene bürgerliche Lager. Der Front national erlebte eine Wahlschlappe. Nur Marion Maréchal-Le Pen gelang ein – allerdings deutlicher – Sieg in den Alpes maritimes.

Am 18. Mai stellte der neue Präsident seine Regierung vor. Ministerpräsidentin wurde Mélenchons alte Mitstreiterin Danielle Simonnet, nicht, wie erwartet, Benoît Hamon. Wahrscheinlich sollte so ein Konflikt in der Europapolitik vermieden werden. Mit Ausnahme Arnaud Montebourgs als Industrieminister (und Verbindungsmann zum linken Flügel der Sozialisten) und des KP-Chefs Laurent als Sozialminister waren die neuen Minister eher unbekannt.

Das Programm „L'avenir en commun“ war weiterhin ein Bestseller. Würde es tatsächlich verwirklicht? Schon am 31. Mai berief Mélenchon einen „haut commissaire“ als Leiter eines 100 Milliarden Euro starken Investitionsprogramms. Er begründete dies mit ökologischer, sozialer und öffentlicher „Dringlichkeit“, die einen „choc de relance“, einen Wiederankurbelungsschock, erforderlich mache. Nicht nur die Opposition, der Unternehmerverband Medef und die Medien warnten eindringlich vor Inflation und Arbeitslosigkeit, auch aus Brüssel (und Berlin) kamen warnende Stimmen. Scheuble warnte die Maastrichtkriterien an. Der neue Wirtschaftsminister Jacques Généreux konterte, Wirtschaftspolitik sei eine Sache der Vernunft, nicht eines unsinnigen Dogmas.

Die Sitzung des Europäischen Rates in Brüssel am 22. und 23. Juni wurde also mit großer Spannung erwartet. Mélenchon führte zahlreiche Gespräche „im Geiste des gegenseitigen Respekts“, wie er sagte, auch mit Merkel. Längere Gespräche fanden aber nur mit den Vertretern der südeuropäischen Saaten statt. Der Präsident „offizialisierte“ Frankreichs Opposition gegen weitere Liberalisierungsmaßnahmen und forderte Neuverhandlungen mit dem Ziel einer Neugründung des europäischen Projekts. Für heftigen Widerspruch sorgte die Ankündigung, bisherige neoliberale europapolitische Beschlüsse zu ignorieren. Es sei unverantwortlich, Kommunen zuzumuten, durch europaweite Ausschreibungen eigene Kleinunternehmen zu ruinieren. Er endete mit den Worten: Bilden wir ein neues demokratisches Europa! Ersetzen wir die so genannte goldene Regel durch die allein menschliche, die grüne Regel. Das traditionelle Foto zeigte einen selbstbewussten Mélenchon zwischen einer ernst blickenden Kanzlerin und einem lächelnden griechischen Ministerpräsidenten. Beschlüsse wurden (noch) nicht gefasst.

Die Sommerpause trug zur allgemeinen Beruhigung bei. Für einige Tage medialer Aufregung sorgte die „soziale Amnestie“ von einsitzenden Gewerkschaftlern, Umweltaktivisten und korsischen Unabhängigkeitskämpfern durch den Präsidenten am Vorabend des 14. Juli. "Sind Terroristen darunter?", fragte nicht nur Le Figaro. Die übliche Militärparade selbst ging am Präsidenten des Friedens... vorbei. Die kurzen Ferien verbrachte er diesmal nicht in Lateinamerika, sondern in Griechenland. Einige Tage besuchte er auch das Saarland, symbolische Ferien bei seinen „Camarades Oscar et Sahra“, die sich im Glanze des Ruhmes des Präsidenten sonnten. Schließlich war auch in Deutschland Wahlkampf. Martin Schulz, den er einst als „Symbol der ständigen Allianz zwischen der Rechten und den Sozialdemokraten“ bezeichnet hatte, traf er nicht (an). Ansonsten ging es auch in diesem französischen Sommer um „le ciel, le soleil, l'amour et la mer“. Im Fernsehen wurde auffällig oft Spielfilme aus den Jahren 1936 und '37 gezeigt.

Alles änderte sich schlagartig mit der „Rentrée“ Anfang September. Die Volksbefragung ergab – wie erwartet - eine eindeutige Mehrheit für die Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung und machte damit den Weg in die Sechste Republik frei. Nach einer komplizierten streng demokratischen Auswahlmethode (einer Mischung von Wahl und Losverfahren) zu Beginn des Monats Dezember installierte sich die Konstituante am 2. Januar 2018. Sie sollte in größtmöglicher Transparenz bis spätestens Januar 2020 arbeiten. Die traditionellen Medien blieben bezüglich des Referendums ungewöhnlich wortkarg, im Unterschied zu den ungemein lebhaften Diskussionen in den sozialen Medien.

Die Nationalversammlung beschloss gleich zu Beginn ihrer Sitzungsperiode Anfang September ein „Rahmengesetz für die energetische Transition“. Die Sitzung verlief – wie zu erwarten – tumultartig. Selbst Abgeordnete der France insoumise zeigten sich unsicher, vor allem, als sie erfuhren, der Minister für Energie habe die sofortige Schließung des maroden AKWs Fessenheim angeordnet. Die Fernsehsender zeigten einen versteinert wirkenden Industrieminister (und Gegner des sofortigen Ausstiegs) Montebourg. Mélenchon reiste persönlich ins Elsass und diskutierte (heftig) vor den zahlreichen Kameras mit den demonstrierenden Beschäftigten. Keiner müsse um seinen Arbeitsplatz fürchten. Montebourg grummelte, fügte sich aber, als Demokrat, wie er sagte. Damit war die knappe Parlamentsmehrheit zunächst gerettet. Die politische und die mediale Opposition malten Untergangsszenarien. Es ging wieder einmal um den nationalen Industriestandort, um Stromausfall, um die berühmte Wettbewerbsfähigkeit. Militante Rechtsextreme demonstrierten in Straßburg und in Mulhouse für atomare Autarkie. Bei Ausschreitungen und „Volksverräter“-Rufen schritt die Polizei ein. Relativ milde, wie Augenzeugen berichteten. Im Süden hetzten rechtsextreme junge Männer Muslime durch die Straßen. Auch hier ging die Polizei nicht mit der üblichen Härte vor.

Der September 2017 war der Monat der Antrittsbesuche des neuen Präsidenten. Überraschend flog er zunächst nach London. Dass er als nächstes Putin besuchte, wurde vor allem von den konservativen Blättern als „neue alte Entente“ bezeichnet – und besonders im wahlkämpfenden Berlin kritisiert. Dabei verlief das Gespräch mit Putin und dem Duma-Vorsitzenden alles andere als harmonisch. Auf der Moskauer Pressekonferenz betonte Mélenchon zwar die Friedenssehnsucht aller Völker, bestand aber auch auf der Garantie ihrer Souveränität. Wir Franzosen wissen wahrlich, was Besatzung bedeutet. Auf dem Rückflug machte er dann doch Halt in Berlin, um die Linke im Wahlkampf zu unterstützen. In den linken Medien wurde diskutiert, warum es in deutschen Landen weit und breit keinen Mélenchon gab. Ein Blogger im Freitag z.B. meinte, die Deutschen könnten halt nur rechten Populismus.

Der September wurde der erwartete „heißeste“ Monat des Jahres. Die Inflation war leicht gestiegen. Gerade die Grundnahrungsmittel und das Benzin wurden teurer. Die Arbeitslosigkeit war noch immer auf dem üblichen hohen Stand. Beschäftigte der Stromkonzerne, von Renault und PSA, aber auch Rüstungs- und Werftarbeiter demonstrierten für ihre Arbeitsplätze. Die Le Pens (Tante und Nichte) versuchten an den Demos teilzunehmen, wurden aber mit (sanfter) Gewalt, die sie später brutal nannten, daran gehindert. Schlägereien gab es zwischen CGT-Mitgliedern. Die Polizei griff nicht ein, auch nicht, als der große von den Agrarkonzernen dominierte Bauernverband die Champs-Elysées mit Mist bedecken ließ. Das „Mélenchon-Démission!“ hallte tausendfach durch die Straßen. „Mit dem Anfang kam das Ende“, titelte der Figaro und fand „die Wut unserer Bauern“ verständlich. Immer wieder wurde Deutschland als Hort der (wirtschaftlichen) Vernunft gepriesen, vor allem nach der Wiederwahl Merkels Ende September.

Die Parlamentssitzungen ähnelten (fast) denen der großen Revolutionen. Die Debatten passionierten die Nation. Die großen Medien sprachen von Streitsucht, einem Symptom der französischen Krankheit, die France soumise von Demokratie. Unübersehbar war, dass sich eine neue parlamentarische Kultur entwickelte. Nicht immer wurde nach Fraktionen entschieden. Die Gesetze über die Wahl der Präsidenten von France Télévisions et Radio France, über Grenzen der Medienkonzentration, den obligatorischen Staatsbürgerdienst mit Mindestgehalt, über die Entprivatisierung der Autobahnen zum Beispiel wurden teilweise auch mit Stimmen aus der Opposition durchgesetzt. Regelrechte Sternstunden wurden die Debatten über die „grüne Regel“ (angenommen), über die Prinzipien der Besteuerung (angenommen) und über den sofortigen Austritt aus der NATO (auch mit einigen Stimmen der Linken) abgelehnt.

Obwohl die Inflation im Herbst weiter leicht zunahm (was die Infosender mit den Kurven des Schreckens dokumentierten), wurde die Stimmung der Bevölkerung nicht schlechter. Die Zustimmungswerte Mélenchons blieben stabil bei 45 Prozent. Bei den Frauen und den jungen Leuten waren sie noch höher. Die arbeitspolitischen Maßnahmen zeigten erste Wirkungen. Es war also kein geschwächter Präsident, der am 11. November Frau Merkel im Elyséepalast emfing...

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