Morgendämmerung

Commune 1871 Vor 150 Jahren wurde Paris für 72 Tage „Ville-Libre“ – ein Anlass zum Nachdenken über die „Jetztzeit“ im Vergangenen

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Die Kanone bei der Hand: Die 72 Tage der Commune begannen am Morgen des 18. März 1871. In der Retrospektive erscheint die Revolte unausweichlich
Die Kanone bei der Hand: Die 72 Tage der Commune begannen am Morgen des 18. März 1871. In der Retrospektive erscheint die Revolte unausweichlich

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Vor-Gedenken

Es wird viel gedacht werden, im Kirschblütenmonat des Jahres 2021. Vor 200 Jahren, am 5. Mai 1821, erlöste der Herr den Napoléon Bonaparte auf Sankt Helena, und 50 Jahre später, in der letzten Woche des Mai 1871, ließ Adolphe Thiers, Chef der Exekutivgewalt, das Gespenst des Kommunismus mit einem Blutbad vernichten. Der „Empereur“ und die „Communeux“ die die Stirn hatten, in einem spektakulären Cancel-Act den Adler vom Säulenschaft zu stoßen – gegensätzlicher können die zu Ehrenden nicht sein. Angesichts der komplizierten Situation hat der Präsident, eigentlich ein Meister in der Vermarktung der „politique mémorielle“ lange gezaudert. Er mag ja eher die „großen Männer“, aber Napoléon ist als Frauenfeind und Wiederhersteller der Sklaverei ziemlich „out of time“. Und die Commune? Muss man die Gespenster wieder wecken? Waren die historischen „Communeux“ nicht die Sans-Culottes oder – noch schlimmer – die Gelbwesten des 19. Jahrhunderts? Andererseits weiß das Team Macron: Gerade die leicht tremolierende Evokation der (sowieso gescheiterten) Hoffnung der „kleinen Leute“ die erhöht die Sympathiewerte. Und die braucht der Wahlkämpfer Macron, sogar dringend.

Sicher ist bisher, dass der Präsident des Kaisers gedenken wird, „einer Hauptfigur unserer Geschichte“ (so Regierungssprecher Attal). Sicher ist ebenfalls, dass Macron im Mai eine Rede über „Geschichte und Komplexität“ halten wird. Auch schön. Und die Commune? Man wird sehen. Die Bürgermeisterin von Paris und wahrscheinliche Präsidentschaftskandidatin der sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, kommt um die Commune qua Amt nicht herum. Sie selbst befürwortet allerdings die Erhöhung der zum Zwecke der Buße der Revoluzzer errichteten Kirche Sacré-Coeur zum "Monument historique " zu erheben. Die Events werden von einer kommunistischen Beigeordneten organisiert. Die Stadt Paris wird eine Ausstellung, Stadtführungen und Vorlesungen organisieren, zum (bewusst dröhnend ausfallenden) Missfallen der rechten Opposition, die – wie weiland die „Versailler“ 1871 – in der Pose des Anklägers auf die Gewalttaten und Brandschatzungen der Communarden hinweist. Auch promi- und eminente Historiker haben schon ihren Richterstuhl eingenommen. Die öffentliche Debatte über Geschichte und Politik, über Instrumentalisierung, Wissenschaft und Parteilichkeit ist also eröffnet. Sie könnte spannend werden.

Die „Communeux“ des „irgendwie linken“ Freitag dürfen da nicht fehlen. Ich möchte zunächst mit einer kleinen Ereignisgeschichte der ersten 10 Tage Commune beginnen. Andere Texte, zu unterschiedlichen Aspekten, sollen folgen, auch in Reaktion auf die französische Debatte. Die Commune ist zwar Vergangenheit, aber eine „mit Jetztzeit geladene“ (Benjamin).

Erster Teil. „Der Triumph der Poesie“ (Jules Vallès)

Je sais le soir, L'aube exaltée ainsi qu'un peuple de colombes, Et j'ai vu quelquefois ce que l'homme a cru voir!

(Den Abend kenne ich, doch auch das Morgendämmern, hochfliegend wie ein Taubenvolk. Und manchmal sah ich, was der Mensch zu sehen glaubte).

Arthur Rimbaud 1871

Die 72 Tage der Commune begannen am Morgen des 18. März 1871. In der Retrospektive erscheint die Revolte unausweichlich. Zwar war am 4. September vom Pariser Rathaus aus die Republik ausgerufen worden. Doch vor allem in den Arbeitervierteln machte sich Desillusion und Zorn breit. Die Preußen unterzogen die Stadt einer harten Blockade und nahmen am 5. Januar 1871 die Beschießung von Paris auf. Einen Tag später fand sich an den Pariser Mauern die „Affiche rouge“ (mitverfasst von dem Schriftsteller Jules Vallès). Veranlasst hatte es das sehr aktive „Komitee der 20 Bezirke“, in dem sich die Vertreter einer „République sociale“ aller Couleurs zusammen fanden:

An das Volk von Paris.

Wir sind 500.000 Kämpfer und 200.000 Preußen erwürgen uns! Wer ist dafür verantwortlich, wenn nicht die Regierung? Sie wollten nur verhandeln, statt Kanonen zu schmieden und und Waffen zu fabrizieren. Sie haben die „Levée en masse“ verhindert. Sie haben die Bonapartisten auf ihren Posten gelassen, aber die Republikaner ins Gefängnis geworfen...

Der Text endete mit „Place au Peuple! Place à la Commune!“.

Die Veröffentlichung des demütigenden Präliminarfriedens mit dem neuen Deutschen Reich am 29. Januar schien den Verrat der Regierung zu beweisen. Die hastig durchgeführten Wahlen zur Nationalversammlung des 8. Februar – Bismarck wollte unbedingt die Ratifizierung des Vertrages durch ein Parlament – zeigten eine politisch gespaltene Nation. Paris wählte republikanisch (u.a. Victor Hugo, Gambetta, Garibaldi), das Land jedoch mehrheitlich konservativ. Von den 645 Abgeordneten der neuen Nationalversammlung waren 400 Monarchisten, deren Fraktionen sich allerdings neutralisierten. Und die Provokationen hörten nicht auf: Ab dem 27. Februar besetzten 30.000 preußische Soldaten für einige Tage Teile von Paris. Am 1. März paradierte die preußische Armee gar auf den Champs-Elysées. Am 10. März nahm die Nationalversammlung ihren Sitz ausgerechnet in Versailles, dem emblematischen Ort reaktionären Hautgoûts. Sie verfügte die Einstellung der (geringen) Soldzahlungen an die Nationalgardisten. Diese hatten sich mittlerweile zu einer „Fédération républicaine“ zusammengeschlossen und ein „Comité central“ gewählt, das mehrheitlich aus Sozialisten bestand (im damaligen – sehr weiten – Sinn). Es verfügte über ein Arsenal strategisch platzierter Kanonen. Geradezu obsessiv versuchte die Regierung, diese zu requirieren, scheiterte jedoch an der Wachsamkeit der Nationalgarde. Für Adolphe Thiers, den Chef der Exekutivgewalt (er war gleichzeitig Präsident, Ministerpräsident, Abgeordneter), war die Angelegenheit eindeutig. Zumindest schrieb er später:

Die Garde nationale existierte nur noch als feindliche Armee.

Als großer Revolutionshistoriker schien er – in den Worten von Karl Marx – zu wissen: „Paris in Waffen, das ist die Revolution in Waffen“. Jedenfalls traf er eine Entscheidung, die Victor Hugo in seinem Tagebuch so kommentierte:

Er hat den Funken aufs Pulverfass geworfen. Thiers, das ist der gründlich geplante Leichtsinn.

Für den 17. März ließ Thiers ein Plakat an die Pariser Mauern kleben, adressiert an die „Bewohner von Paris“. „In böser Absicht“, so der Exekutivchef, hätten bestimmte Männer Kanonen aufgestellt, die im Ernstfall „eure Häuser, eure Kinder und euch selbst zerstören würden.“ Nun aber müsse die Regierung „in eurem Interesse“, versteht sich, handeln:

Mögen sich die guten Citoyens von den schlechten trennen.

Wieder einmal wurde also die alte reaktionäre Dichotomie der guten und schlechten Bürger aufgefahren. Wer konnte sie noch ernst nehmen? Abends erging der Befehl an 5 Militärkolonnen, die Kanonen mit Gewalt zu requirieren und alle verdächtigen Rädelsführer festzunehmen. Am frühen Morgen des 18. März riss das Knarren von Kanonenrädern auf dem Pflaster die Pariser aus dem Schlaf. „Paris s'éveille“. In Montmartre stellten sich die Bewohner den Soldaten entgegen, darunter viele Frauen, Wäscherinnen, Näherinnen, Reinigungsfrauen. Der General Lecomte gab den Feuerbefehl. Vorschrift ist Vorschrift. Doch die Soldaten weigerten sich, hielten den Gewehrschaft in die Luft. Sie fraternisierten mit den Nationalgardisten. Und am Ende nahmen sie ihren General fest. Ein ähnliches Schicksal erlitt der General Thomas, der sich seine Epauletten bei der blutigen Unterdrückung des Juniaufstandes 1848 verdient hatte. Er wurde eher zufällig verhaftet. Zu allem Überdruss wurden beide Generäle am Nachmittag von einer aufgebrachten Menge heraus erschossen. Die Schussverletzungen stammten wohl aus einem "Chassepot", dem Gewehr der regulären Soldaten. Nach dem Ende der Commune ließ die Regierung es sich nicht nehmen, eine Fotomontage dieses „unerhörten Verbrechens“ als echt zu verkaufen: vor einer Mauer stehen die beiden tapferen Generäle und sehen den schussbereiten Nationalgarden ins Auge. Fakes sind wahrlich nicht neu. Besser als den beiden, wenn auch weniger ehrenvoll, erging es übrigens dem General Susbielle auf der Place Pigalle. Er verlor, seinem Ross die Sporen gebend, auf der Flucht sein Képi samt Eichenblattdekor.

Auf dem selben Platz ereignete sich am Mittag Emblematisches. Bei ihrem Vormarsch trafen die föderierten Nationalgardisten auf einen Leichenzug, angeführt von einem weißhaarigen Mann. Plötzliches Schweigen. Victor Hugo beerdigte seinen Sohn Charles. Eine Ehrengarde bildete sich um den Leichenzug, die Gewehre zu Boden gesenkt. Hugo verarbeitete diese Szene im Gedichtzyklus „L'année terrible“:

Le peuple a l'arme au bras; le peuple est triste; il pense;

Et ses grands bataillons font la haie en silence.

(Das Volk hält die Waffe im Arm; traurig ist das Volk; es gedenkt;

Und seine großen Bataillone, schweigend bilden sie das Ehrenspalier)

Zu dieser Zeit beherrschten die Nationalgarden schon die Hauptstadt (ohne es zu wissen). Am Nachmittag gab Thiers seinen Truppen den Rückzugsbefehl. Selbst die strategischen Kasernen am Boulevard Haussmann ließ er räumen. Angesichts der Fraternisierungen scheint den so intelligenten Exekutivchef eine Art Panik ergriffen zu haben. Von einer Reitereskorte geschützt, brachte ihn ein Wagen nach Versailles. Der zum Widerstand gegen die „Canaille“ entschlossene Bürgermeister von Paris, Jules Ferry, „Ferry-Hungersnot“ genannt, musste ebenfalls die Flucht antreten, durch den beherzten Sprung aus einem Kirchenfenster. Noch am Abend hatte er telegraphiert: „Die Barrikaden sind nicht seriös“. Eine Stunde vor Mitternacht besetzten die Föderierten das Rathaus. Es herrschte eine Art Stupor. Dem Comité central der Nationalgarde war die Macht in der Hauptstadt .…zugefallen. Es war kaum Blut geflossen (allerdings Generalsblut). Aus Widerstand war eine Erhebung geworden. Kaum jemand war (sich) bewusst, dass die Erhebung in eine kommunale Revolution münden würde.

Am Morgen des folgenden Tages, einem Sonntag, wehte die rote Fahne auf dem Rathaus. Um 8:30 Uhr trat das „Comité central“ zusammen. Der Vorschlag der Blanquisten, nach Versailles zu marschieren und die Nationalversammlung aufzulösen, wurde abgelehnt (was Marx später als „entscheidenden Fehler“ bezeichnen sollte, denn Versailles sei damals „völlig hülflos“ gewesen). Vielmehr setzte sich Edouard Moreau durch. Seine Argumente:

Wir müssen so schnell wie möglich die Situation regulieren und Paris sagen, was wir wollen, nämlich in kürzester Frist Wahlen durchführen, die öffentlichen Dienste wahrnehmen und die Stadt vor einer Überraschung schützen... Wir haben nur ein einziges Mandat: die Rechte von Paris sichern. Wenn die Provinz wie wir denkt, möge sie uns folgen.

Ein erstens „Dekret“ verfügte die Aufhebung des Belagerungszustandes und der Militärgerichte sowie die Amnestie der politischen Gefangenen. Am Abend des 19. März empfing das Comité Pariser Abgeordnete, darunter Georges Clemenceau, und Distriktbürgermeister. Eine dramatische Szene entwickelte sich.

Clemenceau: Wir können uns nicht gegen Frankreich erheben. Die Regierung war mit der Entfesselung des Zornes von Paris im Unrecht, aber Paris muss die Nationalversammlung anerkennen. Das Comité muss sich zurückziehen und das Rathaus den Bürgermeistern und Deputierten überlassen. Nur sie können von der Nationalversammlung die Anerkennung der Rechte von Paris erlangen.

Diverse Stimmen: Aber die Nationalversammlung hat uns attackiert! Die Nationalgarde hat nur auf eine Aggression geantwortet. Das Comité hat die Macht nicht erkämpft, es hat sie erhalten....

Clemenceau: Was verlangt ihr von der Nationalversammlung?

Eudes (Blanquist): Dass sie verschwindet!

Ein Mitglied des Comité: Das Comité central hat ein reguläres, ein imperatives Mandat erhalten... Das Mandat der Nationalversammlung ist beendet.... Die Revolution ist gemacht, aber wir sind keine Usurpatoren. Wollt ihr uns helfen?

Jean-Baptiste Millière (Sozialist, Abgeordneter) Passt auf, wenn ihr diese Fahne entfaltet, wird die Regierung ganz Frankreich auf Paris hetzen, und ich sehe schon einige fatale Tage im Juni. Die Stunde der sozialen Revolution hat noch nicht geschlagen. Entweder man verzichtet oder man geht unter und reißt beim Fallen alle Proletarier mit.

Clemenceau: Aber was wollt ihr denn?

Eugène Varlin (Internationalist): Wir wollen einen Stadtrat... Wir wollen kommunale Rechte für Paris, die Aufhebung der Polizeipräfektur, das Recht der Nationalgarde, die Offiziere zu wählen... und wir verlangen, dass sich die Armee auf zwanzig Meilen von Paris zurückzieht... Seid ihr so stark, dies der Nationalversammlung zu übermitteln?

Trotz der Pressionen der stets insurrektionellen Blanquisten blieb das Comité bei seinem legalistischen Kurs. Es bestimmte Delegierte, die in den Ministerien die öffentlichen Dienste sichern sollten. Schließlich hatten viele Beamte Paris verlassen. Die Banque de France wurde nicht gestürmt. Die Tresore blieben unangetastet. Stattdessen begnügte man sich mit kleineren Auszahlungen für den Sold der Nationalgarde und einem Darlehen der Bank Rothschild. Der Wahltermin wurde zunächst auf den 22. März festgesetzt, dann auf den 23. und schließlich auf den 26. verschoben. Aber der Optimismus dominierte. Jules Vallès schrieb in seinem Journal „Le Cri du Peuple“ (22. März):

( in Großbuchstaben) PARIS-VILLE-LIBRE. Kein Blut mehr! Die Gewehre schweigen. Wir wählen die Bürgermeister und die Magistrate. Und dann an die Arbeit! An die Arbeit! Die Glocke ruft zur Arbeit und nicht mehr zum Kampf.

In Versailles bemühten sich Clemenceau und Vallières um Vermittlung. Doch der Außenminister Jules Favre sorgte schnell für Klarheit:

Ist dies etwa kein Bürgerkrieg, offen, waghalsig, begleitet von feigem Mord und von Plünderungen? Wissen wir etwa nicht, dass die Requisitionen anfangen, das privates Eigentum vergewaltigt werden wird... Aber die Aufrührer sollen wissen, dass die Nationalversammlung zwar in Versailles ist, aber stets an die Rückkehr nach Paris denkt, um den Aufruhr zu bekämpfen, entschieden zu bekämpfen.

Erste Demonstrationen der „Partei der Ordnung“ zeigten, dass es auch eine bürgerliche Opposition „intra muros“ gab. Auf der Platz Vendôme löste die Nationalgarde einen Zug von mehreren hundert „ehrbaren Bürgern“ auf. Es gab 12 Tote und Verletzte, für Vauilles ein erneutes Argument für den kriminellen Charakter der Aufständischen. In den bourgeoisen Vierteln wurden die nicht föderierten Nationalgarden mobilisiert, auch um den befürchteten großen Marsch nach Versailles zu verhindern.

Die von der Exekutivregierung geförderte Dichotomie konservative Provinz – radikales Paris entsprach der Realität nicht ganz. In diesem Jahrhundert der Beschleunigung waren Nachrichten kaum aufzuhalten. In einigen Großstädten formierten sich schnell Communes, so in Lyon (22. März), Toulouse, Marseille (23.), Saint-Etienne und Narbonne (24.). Sie schickte Delegationen nach Paris. Am 23. März entschied sich zudem die Internationale Arbeiter Assoziation zur Unterstützung der Commune. Und diese reagierte resoluter auf die Versailler Intransigenz:

In Anbetracht dessen, dass die Situation schnelle Maßnahmen erfordert...:

Die Militärgewalt von Paris wird den Delegierten Brunel, Eudes, Duval übertragen. Sie haben den Titel eines Generals und handeln in Abstimmung, in Erwartung des Generals Garibaldi, der Generalchef sein wird.

Der Wahltag war der erste Frühlingssonntag, für viele Pariser ein Tag der Hoffnung – auf Frieden, Gerechtigkeit, Arbeit, Einigkeit, das (kleine) Recht auf Glück. Noch am 25. März hatte das Comité eine interessante Wahlempfehlung gegeben:

Citoyens, beachtet, dass die euch am besten folgen, die sind, die ihr aus euren Reihen wählt, die euer Leben und dieselben Leiden teilen. Hütet euch vor den Ehrgeizigen und den Parvenus. Die einen wie die anderen befragen nur ihr eigenes Interesse und halten sich schließlich für unersetzbar. Hütet euch ebenfalls vor den Schönrednern. Sie sind handlungsunfähig. Sie opfern alles einer schönen Rede, einem oratorischen Effekt oder einem geistreichen Wort. Hütet euch auch vor denen, die das Vermögen zu sehr begünstigt hat. Viel zu selten kommt es vor, dass der Vermögende den Arbeiter als seinen Bruder betrachtet. Sucht Männer mit ehrlicher Überzeugung, Männer aus dem Volk, entschieden, aktiv, ehrbaren Sinns. Das wahre Verdienst ist bescheiden.

Die Versailler Nationalversammlung warnte ihrerseits in einem „Manifest“:

Wenn wir an euren Mut appellieren und eure energische Unterstützung fordern, sind wir, eure Repräsentanten, uns einig. Wir alle fordern euch, beschwören euch, euch eng an eure Nationalversammlung zu halten, eurem Werk, eurem Abbild, eurem Geist, eurem einzigen Wohl.

Die Wahl verlief ruhig, geordnet, ohne irgendeinen Zwischenfall. 48 Prozent der 485.000 Wahlberechtigtengaben ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung erreichte in den Arbeitervierteln des Pariser Nordostens bis zu 76 Prozent und war in den bourgeoisen Bezirken im Westen entsprechend schwach. Von den 85 Mitgliedern des „Conseil de la Commune“ waren nur 19 „moderate Republikaner“ (die bald auf ihr Mandat verzichteten). Die große Mehrheit verteilte sich auf (ich folge hier Henri Lefebvre) Blanquisten (u.a. Duval, Eudes, Rigault), Mitglieder der Internationale (Varlin, Malon, Fränkel, Langevin), Radikale (Lefèvre, Meillet), unabhängige Revolutionäre (Flourens, Pyat, Vallès, Delescluze, Clément, Brunel). 33 von ihnen waren Arbeiter, 5 selbständige Handwerker, 14 Angestellte, 12 Mitglieder der „Professions libérales“ und ebenfalls 12 Journalisten. Die meisten Mitglieder des Rates waren zwischen 30 und 50 Jahre alt. Fast alle hatten eine „Oppositionsgeschichte“ (1848, Kaiserreich). Sicherlich waren sehr viele vom Proudhonschen Anarchismus geprägt (auch von dessen Misogynie), aber sie alle konnten auch in anderen Kapellen beten. Sektenzwang war ihnen fremd. Rote und schwarze Fahnen koexistierten.

Am 28. März versammelten sich die Bataillone der Nationalgarden vor dem Rathaus. Lieder der Großen Revolution wurden angestimmt. Die große Kanone der Commune von 1792 böllerte. Auf einer Empore erschienen die Mitglieder des Comité central und des neuen Rates. Ein Vertreter des Comité verkündete die Commune, "im Namen des Volkes". Einen Tag später entschied der Commune-Rat, dass fortan alle Dekrete mit „La Commune de Paris“ unterschrieben werden.

Am 30. März 1871 veröffentlichte „Le Cri du Peuple“, die Zeitung des Schriftstellers und neuen Commune-Rats Jules Vallès, einen Kommentar zur Zeremonie des 28. März. Er endete mit diesen Worten:

Auf die Poesie des Triumphes muss die Prosa der Arbeit folgen.

Die Mühen der Ebenen in Zeiten des Bürgerkrieges.

Jean A. Chérasse, Les 72 Immortelles. Paris 2018 (éditions du croquant?

Quentin Deluermoz, Commune(s). 1870-1871. Paris 2020 (Seuil)

Jacques Rougerie, Paris libre 1871. Paris 1971 (Edition Seuil)

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