Mr. Malthus würde ja gerne, aber ...

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Es ist nicht zu übersehen. Die Naturalisierung des Sozialen ist wieder soziabel. Invarianten sind angesagt, angebliche "Naturgesetze" werden mit dem Gestus des Wissenden re-formuliert und gauß0id bewiesen. Und auch Mr. Malthus ist zurück. Das heißt, so richtig weg war er nie.

Malthus, das war dieser belesene Sohn eines radikal-aufklärerischen Gentleman, dem 1766, wenige Wochen nach der Geburt des Thomas Robert Malthus, sogar Rousseau einen Besuch abgestattet hatte. Und dieses Mitglied der Generation "Sons of Enlightenment" veröffentlichte 1798 in kleiner Auflage An Essay On The Principle Of Population As It Affects The Future Improvement Of Society With Remarks On The Speculations Of Mr. Godwin, Mr. Condorcet, And Other Writers. Ein nicht gerade spannender Titel, doch war das Büchlein schnell vergriffen. In kurzer Zeit erschienen nicht weniger als 20 Gegenschriften. Malthus hatte ein heißes Eisen angepackt.

Die Furien waren nämlich losgelassen und "wälzten wachsend ohne Widerstand/ durch die volkbelebten Gassen ihren ungeheuren Brand", wie ein deutscher Dichter schrieb (der andere). Da war die Jakobinerphase der Französischen Revolution, für Malthus der flammende Komet am politischen Horizont. Und in England selbst "blieb das Elend indes nicht müßig. Es wuchs befremdend an" (Bloch). Der Pauperismus der unteren Klassen ließ sich nicht verdrängen, und wenn doch, kehrte er als Phantasma zurück. Die Regierungen reagierten. Die Habeas-Corpus-Akte wurde 1794 aufgehoben, die Gewerkschaften verboten. Und ein gutes Jahrzehnt später begannen diese Maschinen-Stürmereien der Ludditen. Praktischerweise wurde die Population der Aufrührer durch die Hinrichtung ihrer Anführer reduziert. Mit einem Wort: Der Theoriebedarf der Herrschenden stieg.

Malthus schreibt problemorientiert gegen die damaligen "Gutmenschen", gegen die optimistische Variante der Aufklärung. Er setzt sich mit dem Theorem der Perfektibilität des Menschen auseinander - vor allem des Menschen der lower classes, versteht sich. Seine diskursive Pose ist die des nüchternen, realitätsgesättigten Richters, der den Streit zwischen den Verfechtern der Perfektibilität und den Verfechtern der bestehenden Ordnung nach der Sache der Wahrheit und der Wissenschaft beurteilt. Um dann fortzufahren: Ich wünschte mir sehnlichst einen dermaßen beglückenden Fortschritt. Zu meinem Leidwesen sehe ich aber unüberwindliche Hindernisse. So reden gewöhnlich Sechzigjährige oder Mitglieder der "Generation pragmatisch". Malthus war bei Erscheinen seines "diskursiven Ereignisses" gerade dreißig Jahre alt.

Im Fortgang verfährt er syllogistisch. Folgende "Gesetze" sind evident:

1. Die Nahrung ist für die Existenz des Menschen notwendig.

2. Die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern ist notwendig.

Wer kann dies bestreiten? Doch auf die Konsequenzen kommt es an. Malthus stellt nämlich fest: Die Fortpflanzung des Menschen ist nicht tot zu kriegen und verläuft mäuse-analog ohne Hindernisse geometrisch. Andererseits wachsen die Nahrungsmittel "nur" in arithmetischer Reihe. Dieses "Gesetz" bedeutete bei den Tieren letztendlich Vertilgung des Samens, bei den Menschen hingegen Elend und Laster, es sei denn, die beiden naturgesetzlichen "Kräfte" werden im Gleichgewicht gehalten.

Deswegen sind alle auf Vervollkommnung und Geichheit orientierenden Autoren wie Godwin in einem schrecklichen Irrtum befangen. In einer Gesellschaft der Gleichheit habe der Mensch nämlich nichts zu fürchten. bestimmte Fragen, wie z.B. die Verschlechterung der beruflichen Position, die Härte der Arbeit, die Sorgen um eine vielköpfige Familie, die Abhängigkeit von einer kärglichen Spende, stellen sich nicht in einer egalitären Society, wie sie Godwin vorschwebe. Ergo - folgert Malthus messerscharf - hemmt die Vernunft des Menschen Trieb zur Vermehrung nicht. Mit den oben beschriebenen Konsequenzen. Es springt in die Augen. Der Mensch ist bei Malthus der männliche Mensch. Und dieser ist von obsessiver Sexualität. Vor allem der männliche Pauper und seine hemmungslosen Gespielinnen.

Dabei betont Malthus immer wieder, wie gerne er ein guter Mensch wäre. Aber: ohne Hemmnisse kein Gleichgewicht, wie man bei seinem Hauptreferenzautor, einem gewissen Dr. Smith nachlesen könne. Das Resultat des Wohlfahrtstaates: Die Armen müssen zwangsläufig noch ärmer werden, und viele werden in äußerste Not geraten. Weiter wird der Arbeitslohn angesichts des steigenden Angebots an Kräften fallen - und der Lebensmittelpreis steigen. Und die Arbeitszeit muss erhöht werden. Sowieso.

Dass bisher noch keine Bevölkerungsexplosion stattgefunden habe - Malthus besitzt erste "steile-growth-Kurven", deren "suggestive Dispositive von Anfang an auch die Vorstellung von limits of growth provozieren" (Jürgen Link) - , liege an weiteren Naturgesetzen. Da ist einmal das Wirken der preventive checks: spätes Heiraten (selbst in der obersten Schicht, wie er vermerkt) und gesellschaftliche Schranken. Und da sind die positive checks, nachwirkende Hindernisse, z.B. das Elend in den unteren Klassen, wodurch die Kinder nicht genug ernährt werden können. Wie intelligent die Natur doch ist! Und wie sympathisch neutral die Begriffe der entstehenden Bevölkerungswissenschaft daherkommen!

Aber Mr. Malthus ist Geistlicher, wie Marx zu bemerken nicht müde wird, Mitglied gar der staatstragenden Church of England. Als Gottesmann will er nicht, dass die Kinder der Armen sterben, dass sie kleiner und krummer als die Eaton-Absolventen durch die entstehende Industriewelt gehen. Hat er nicht neulich erst einen pflügenden Landarbeiter gesehen? Ganz dünne Waden hatte der! Den valideren Realitätscheck mittels Berliner Taxifahrer kannte er noch nicht. Aber was ist zu tun?

Malthus ist konservativ, aber auch liberal. Es gilt, Anreize zu schaffen, Anreize durch die Not, wohl gemerkt. Die Poor Laws sind zwar bestgemeint, aber populationspolitisch katastrophal. Malthus verlangt vehement - neben der totalen Freizügigkeit der Arbeit auf dem Lande und der Aufhebung der Korporationen - die völlige Abschaffung der Gemeindeunterstützung. Nur durch Voraussicht der Schwierigkeiten einer Familiengründung und aus Furcht vor abhängiger Armut wird die Bevölkerung an der Vermehrung gehindert. Falls diese Anreize wider wissenschaftliche Erwartung nicht wirken, könnten für die äußersten Elendsfälle Bezirksarmenhäuser eingerichtet werden - mit karger Kost und Arbeitszwang. Wie gesagt: er wäre so gerne optimistisch, aber ...

Staatliche oder kommunale Armenunterstüzung (man zahlte ab dem vierten Kind 1 Shilling pro Woche) reproduziere ärgere Not. Malthus kritisiert hier sogar seinen Gewährsmann Dr. Smith und dessen Forderung Kartoffeln zur bevorzugten Gemüsekost des einfachen Volkes zu machen, was binnen kurzer Frist Bevölkerungswachstum zur Folge haben müsse. Wie hätte Malthus wohl auf die irische Kartoffelkatastrophe 1846/47, die er nicht mehr erlebte, reagiert?

Let's go natural: Die Hungersnot scheint das letzte und entsetzlichste Mittel der Natur. Dies zu verneinen, sei der große Fehler der Optimisten à la Condorcet und Godwin. Wir mögen unsere Augen vor dem Buch der Natur verschließen ... Die wildesten und unwahrscheinlichsten Annahmen können dann mit ebensoviel Sicherheit aufgestellt werden, wie die richtigen und durchdachten Theorien... Der Mensch kann nicht inmitten von Überfluss leben (nur einige, möchte man ergänzen). Alle können nicht gleichen Anteil an den Gaben der Natur haben. Punctum. Zu Malthus Naturauffassung gehören konstitutiv das engherzige Prinzip der Selbstsucht und das mächtige Prinzip der Selbsterhaltung. Natürlich sind auch die beiden Grundsteine der Gesellschaft: das Eigentum und das Institut der Ehe. Und diese wiederum begründen - natürlich - die Ungleichheit der Lebensbedingungen. So ist sie, die große Lotterie des Lebens. Noch Fragen?

Das Prinzip der Population nötigt uns angesichts dieser ewigen Harmonie demütige Ehrerbietung vor der höchsten Weisheit auf. Wir sollten nicht von Gott auf die Natur schließen, sondern von der Natur auf Gott. Wenn wir im Buch der Natur richtig lesen, erkennen wir: Das Übel gibt es in der Welt, nicht um Verzweiflung hervorzubringen, sondern Tätigkeit! Sisyphos ist ein glücklicher Mensch.

Nicht alle fanden Malthus so richtig überzeugend. Ein Shelley dichtete gar:

"Rise like lions after slumber

In invanquishable number

Shake your chains to earth like dew

Which in sleep had fallen on you

Ye are many, they are few

(The Mask of Anarchy)

Aber Shelley war ein realitätsfremder unwissenschaftlicher Intellektueller. Im Unterschied zu der Kommission, die die Regierung in den frühen dreißiger Jahren zwecks Vorbereitung eines neuen Poor Law einsetzte. Unter den Kommissaren fanden sich zahlreiche Malthusianer, und in ihren Berichten häufen sich Aussagen wie diese: Norfolk. A woman in a neighbouring parish had 5 illegitimate children, for which she was allowed 10s per week, an 6s for herself. She is now in the receipt of 18s, per week, the produce of successful bastardy adventures. Schrecklich, dieses Missbrauchen der Poor Laws!

Was ihr den Geist der Zeiten nennt...! (Goethe). Zur gleichen Zeit schrieb ein prominenter Franzose einen Mémoire sur le paupérisme:

Ich bin zutiefst überzeugt, dass jedes regelmäßige, permanente, administrative Unterstützungssystem mehr Elend bei den Armen erzeugen wird. Und wenn der Bedürftige von dem dann (!) verarmten Reichen nichts mehr holen kann, wird er es leichter finden, ihm plötzlich all sein Gut weg zu nehmen, als um Hilfe zu bitten.

Der große demokratische Aristokrat Tocqueville outet sich als Malthusianer plus. Wie reflektiert wirkt dagegen Louis-Napoléon Bonaparte (ja, der spätere Kaiser), der 1844 ein berühmtes Zitat abwandelnd schrieb:

Die Industrie ist wie Saturn, sie frisst ihre Kinder und lebt nur von ihrem Tod.

Gut, dass er sich irrte - oder?


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