Musen-Dialektik

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These: Ihr müsst sparen!

"Ach nee!" höre ich mich rufen. "Das kann doch nicht wahr sein!" ist es aber. Energisch drücke ich auf den Klingelknopf. Die Tür erbarmt sich nicht und bleibt geschlossen. Da bin ich also zehn Kilometer gefahren, von Ampel zu Ampel, in zunehmender Depression angesichts verfallender Mietskasernen und ärmlich gekleideten Menschen davor, durch baumlose Straßenschluchten, vorbei an "Kick", "Lidl", "Aldi" und wieder von vorn, um endlich das renommierte "Historische Zentrum" dieser Großstadt am Rande des Ruhrgebiets zu erreichen. Und dann so etwas. Am Freitag Nachmittag!

Tagelang habe ich mich auf die Ausstellung "Jugend im Nationalsozialismus" vorgefreut. Ich weiß, wie sorgfältig die Ortshistoriker vorzugehen pflegen, wie sie Wissenschaft und Didaktik vereinen können. Und dann dies: Tür zu! Ich suche nach einem Schild mit den Öffnungszeiten. Existiert nicht. Also gehe ich durch eine menschenleere Passage (ach, Benjamin!) und finde dann doch noch ein Schild: "Hummerwochen!" Ich lese auf der Karte: "Homard sur un lit de crème de chou-fleur au sablé de sésame". Ein Hummerrestaurant in dieser Gegend? Wer is(s)t denn hier?

In einem kleinen Blumengeschäft "um die Ecke" finde ich tatsächlich Menschen, die ich fragen kann. "Das Stadtmuseum hat doch freitags und montags zu. Wissen Sie das nicht?" Nein, ich weiß das nicht! "Wir müssen doch sparen. Personal ist teuer - und die Kassen sind leer." - "Bekanntlich leer," murmele ich verstört. - "Bitte!" - "Danke, tschüss!"

Dass DIE Kassen leer sind, weiß ich schon. Auch dass die Väter dieser Stadt - gut beraten von einer Großbank - Derivatgeschäfte betrieben und zig Millionen in den Sand gesetzt haben, ist mir bekannt. Jetzt weiß ich aber endlich, wo gespart wird: an der Bildung, der historischen zumal. Die Stadt fährt so etwas wie "lean culture". "Jugend im Nationalsozialismus" - da schleust man zur Schulzeit Klassen durch die Ausstellung. Aber außerhalb der Schulzeit in ruhiger Anschauung und Reflexion die Ausstellung verarbeiten zu wollen - das kostet doch nur Personal! Sie können ja den Katalog kaufen - zu den Öffnungszeiten.

Die Stadt hatte übrigens bis vor kurzem einen so genannten Sparkommissar. Ironischerweise einen bekannten Historiker, den es in die Politik verschlagen hat. Spezialgebiet: Korruption im Nationalsozialismus. Hegel spricht irgendwo von der "unendlichen Willkür des Notwendigen".

Antithese: Wir dürfen klotzen!

Out of the ghetto, into the ghetto! Der Nachmittag soll nicht verloren sein. Ich entscheide mich, das neue Doppelmuseum zu besuchen, das erst vor einigen Wochen von meinem Landesvater eröffnet wurde. Ich gehe zu Fuß durch die "Zone", weiche dabei größeren Flecken obskurer Herkunft und den Ständern mit billigen Klamotten aus. Und dann stehe ich endlich vor dem neuen Musentempel der Stadt: ein außen und innen renovierter Jugendstilbau und daran "geschmiegt" ein großer dunkelgrauer Betonklotz mit riesigen Fenstern. Die Drehtür führt mich ins Tempelinnere. Man sieht sofort und voller Respekt: hier wurde nicht gekleckert.

Ich erwerbe für 6 Euro ein Ticket und höre plötzlich einen sonnengebräunten adretten jungen Mann im Dreiteiler (!) sagen: "Die Tasche bitte in den Spind!" - "Sind die Bilder denn so klein?" versuche ich etwas genervt einen Scherz. - "Nein, aber sie könnten Schaden nehmen." Ich füge mich in mein Schicksal.

Das Doppelmuseum ist in der Tat beeindruckend. Vor allem das Jugendstilgebäude. Zwar sieht man immer wieder durch die Fenster auf diese verfallenden Mietskasernen, doch im Jugendstil kommt das Licht ja auch von oben. Und die Wände sind hoch. Einer der beiden großen Maler der Stadt ist hier mit seinem gesamten Oeuvre vertreten. Er galt den Nazis als "entarteter Künstler". Umso mehr muss ein Bild aus dem Jahr 1923 verwirren, das den Titel "Der Jude" trägt und einen Mann mit allen entsprechenden Stereotypen zeigt. Es hängt unschuldig zwischen den Landschafts- und Blumenbildern und wird von den wenigen Besuchern ignoriert. Diese wiederum sind so well-dressed wie der junge Mann an der Kasse. Man unterhält sich angeregt im Flüsterton. Man ist halt unter sich. Mir fallen die zahlreichen uniformierten Museumsangestellten auf. An Personal wird hier offensichtlich nicht gespart.

Beim Verlassen des Gebäudes wird mein Blick noch einmal auf die Liste der Sponsoren gerichtet, darunter natürlich bestimmte Geldinstitute und lokale Großunternehmen. Über deren Zwangsarbeiter vor über 65 Jahren hat ein Wissenschaftler des Historischen Zentrums Interessantes veröffentlicht. Aber das ist ja heute geschlossen - wegen leerer Kassen.

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