Sozialdemokratie und Krieg: „Unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit“?

Erster Weltkrieg Manche nennen es „Verrat“, andere „Umlernen“, „Stimmungswandel“ oder – gebildeter – „Paradigmenwechsel“. Innerhalb weniger Tage verändert die SPD-Führung 1914 ihre Haltung zum Krieg. Eine Erinnerung aus aktuellem Anlass

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wilhelm II. verkündet den Kriegsausbruch am 31. Juli 1914
Wilhelm II. verkündet den Kriegsausbruch am 31. Juli 1914

Foto: Imago/UIG

Oktober 1916. Während er im Berliner Untersuchungsgefängnis auf den Antritt seiner vierjährigen Zuchthausstrafe wegen „Hochverrats“ wartete, schrieb Karl Liebknecht an seinen „Betrachtungen und Erinnerungen“. Darin berichtet er auch von jener denkwürdigen Fraktionssitzung der SPD vom 3. August 1914. Es ging um eine existentielle Frage: Soll die SPD – mit 110 von 397 Abgeordneten immerhin die weitaus stärkste Partei im Reichstag – die Kriegskredite bewilligen, also ein faktisches „Ja“ zum Großen Krieg erklären? Ausführlich gibt Liebknecht die Argumente Eduard Davids wieder, einem Repräsentanten des rechten Parteiflügels.

Er meinte der Augenblick gebiete, sich von überkommenen Vorstellungen loszusagen und umzulernen, die Sozialdemokratie würde in dieser Zeit noch in vielen Dingen umlernen müssen. Er beantragte im Namen der Mehrheit des Parteivorstandes die Bewilligung der Kredite....Der Volksstimmung dürfen und können wir uns nicht entgegenwerfen..., das „Ja“ wird aber die Stellung der Sozialdemokratie gewaltig stärken... eine starke demokratische Welle wird nach dem Kriege kommen.

Zum weiteren Verlauf der Debatte erfahren wir:

Die Mehrheit hörte mit Ungeduld und Unruhe die Vertreter der Minderheit an. Ein Schlussantrag machte der sehr erregten Debatte ein ziemlich frühes Ende. Nur 14 Genossen stimmten gegen die Kriegskredite, 78 stimmten dafür.

Dass Fraktionszwang beschlossen wurde, versteht sich. Eine Abstimmung nach einer nicht geraden „herrschaftsfreien“ Diskussion. Was war hier passiert? Wie konnten die Repräsentanten der größten Partei der Zweiten Internationale dafür sein, den Herrschenden ihres Landes die Finanzierung ihres Krieges zu gewähren? Hatte der Ko-Vorsitzende der SPD (und der Fraktion) Hugo Haase nicht vor knapp 2 Jahren auf dem Basler Friedenskongress unter dem Beifall der Delegierten verkündet:

Die Herrschenden sollen wissen, dass das internationale Proletariat aus tiefster Seele den Krieg verabscheut?

Hatte die Partei den Wahlkampf von 1912 nicht auch mit der Parole „Völkermord – der Segen des Militarismus“ geführt? Hatte der SPD-Vorstand nicht noch am 25. Juli 1914 einen Friedensaufruf veröffentlicht, der mit einem fett gedruckten „Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!“ endete? Wurden nicht eine knappe Woche zuvor„Protestversammlungen“ gegen den Krieg durchgeführt? Mit 750.000 Demonstranten. Stellte der „Vorwärts“ vom 30. Juli nicht die Frage:

Soll der Unsinn siegen? Wer hinter die Kulissen der Kriegsbegeisterung blickt, dem enthüllt sich die angebliche Kriegsbegeisterung häufig als absolute Kopflosigkeit, als wilde Verzweiflung.

„Der russische Zarismus – Feind aller Kultur“

Zum Verständnis dieses „Paradigmenwechsels“ (um einen späteren SPD-Kanzler zu zitieren) ist ein Perspektivenwechsel nötig. Für die deutsche Regierung war die Haltung der SPD kriegswichtig. Ohne die Sozialdemokraten war eine geschlossene Wehrbereitschaft der Bevölkerung (wie man heute wieder sagt) nicht erreichbar, weder an der „äußeren“ noch an der „inneren Front“. Der Reichskanzler Bethmann-Hollweg ist als vorsichtiger, ja zaudernder Kanzler in die Historiographie eingegangen. Seit seinem Amtsantritt (1909) verfolgte er vor allem zwei Ziele für einen eventuellen Krieg: die Neutralität Großbritanniens, notwendig durch die Mittellage Deutschlands (und dem Schlieffenplan) und die Gefolgschaft der Sozialdemokratie. Er fürchtete Antikriegs-Aktionen der Arbeiter. Taktisch brauchte er die SPD auch, um dem – in Preußendeutschland immensen – Druck der reaktionären Militärs, des Adels und der Schwerindustrie zu widerstehen. Dabei kam ihm die prinzipielle Gegnerschaft der SPD-Führung (nicht der linken Opposition in der SPD) gegenüber dem russichen Zar zugute, dessen Reich damals direkt an Deutschland grenzte. Bebel hatte 1907 in seiner „zweiten Flintenrede“ proklamiert:

Wenn es gegen den russischen Zarismus als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten geht, werde selbst ich als alter Knabe noch die Flinte auf den Buckel nehmen.

Zudem hatten die Sozialdemokraten noch immer nicht den kränkenden Vorwurf verkraftet, „vaterlandslose Gesellen“ zu sein. Über den „Reichsfeinden“ schwebte – ob real oder eingebildet, die Regierung spielte virtuos mit dieser Furcht – das Schwert des Organisationsverbots der Partei. Jede Kritik am Geld verschlingenden Wettrüsten, das die mehr als notwendigen Sozialreformen verhinderte, wurde so von der Kriegspartei locker ausgekontert (es gibt kaum etwas Lähmenderes als einen auftrumpfenden Bellizismus). Noch am 29. Juli forderte der Parteivorstand die Parteipresse zur „gebotenen Vorsicht“ auf, d.h. konkret, nicht zu weiteren Antikriegsdemonstrationen aufzurufen. Es gab schon erste Überlegungen für den Weg in die Illegalität.

Bebel hatte schon 1904 in seiner „Flintenrede“ eine Art Gegenposition gegen die permanenten Vorwürfe der Bellizisten aufzubauen versucht:

...wenn der Krieg ein Angriffskrieg werden sollte, ein Krieg, in dem es sich dann um die Existenz Deutschlands handelte, dann – ich gebe Ihnen mein Wort – sind wir bis zum letzten Mann und selbst die ältesten unter uns bereit, die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen, nicht Ihnen, sondern uns zu Liebe, selbst meinetwegen Ihnen zum Trotz. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten)

Andererseits hatte Bebel 1911 nach der 2. Marokkokrise auch klar gemacht, was Krieg bedeutet (und was alle wussten):

Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf dem bis 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen geeneinander als Feinde ins Feld ziehen, Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch...

Übrigens gab Bebel in derselben Rede einem Zwischenrufer („Mit jedem Krieg wird es besser!“) folgendes zurück:

Man weiß nicht mehr, wie man mit der Sozialdemokratie fertig werden soll. Da wäre ein auswärtiger Krieg ein ganz vortreffliches Ablenkungsmittel gewesen.

Man ist (heute sind wir natürlich wesentlich schlauer) versucht zu fragen: Wussten das wenigstens die Sozialdemokraten?

Der notorisch auf Militär getrimmte Gustav Noske (ja der!) hatte 1907 (nach einer blutigen antirevolutionären Repressionswelle im Zarenreich) im Reichstag erklärt:

Wir wünschen, dass Deutschland möglichst wehrhaft ist und sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht etwa von irgendeinem anderen Volk an die Wand gedrückt wird,

Luxemburg und Liebknecht kritisierten diese Worte scharf. Liebknecht warf Noske „Kriegervereinston“ vor. Aber es war nicht zu übersehen: Die SPD-Führung balancierte zwischen patriotischer Wehrhaftigkeit gegen Russland und antipreußischem Antimilitarismus (der Kolonienbefürworter und Militärfreund Noske – er selbst hatte nie „gedient“ – war eher eine Ausnahme) Aber zurück zur „Julikrise“.

Bethmann-Hollweg, ein guter Regisseur?

Bethmann bemühte sich folgerichtig um die Zustimmung der SPD-Fraktion, vor allem nach deren rigoroser Verwerfung des österreichischen Ultimatums an Serbien vom 23. Juli.(„verbrecherische und verantwortungslose Politik der österreichisch-ungarischen Kriegshetzer“). Er führte deswegen am 26. Juli ein längeres Gespräch mit den SPD-Führern Haase und Otto Braun. Es ging auch um das Verhalten der SPD im Falle eines Angriffs Russlands auf den Verbündeten Österreich. Haase erklärte jedoch, dies sei kein Bündnisfall für Deutschland. Aber war Haase noch repräsentativ für die Partei?

Am 28. Juli forcierte die österreichisch-ungarische Regierung die Situation. Sie erklärte Serbien den Krieg. Schon einen Tag später wurde Belgrad mit Kanonen beschossen, die erste militärische Operation des Weltkriegs. Damit schien der berühmte „Casus foederis“ gegeben: Frankreich-England-Russland auf der einen, die „Mittelmächte“ (Deutschland-Österreich-Ungarn und Italien) auf der anderen Seite. In dem Fall, das wussten alle Entscheider, gäbe es den „großen Kladderatsch“. Der russische Außenminister Sasanow brach erwartungsgemäß die Verhandlungen mit dem österreichischen Botschafter ab.

Aber noch immer gab es keinen reinen Automatismus in Richtung Krieg. Der britische Außenminister Edward Grey unternahm vor den Kriegserklärungen nicht wenige Vermittlungsversuche, machte aber dem deutschen Botschafter in London am 29. Juli klar, dass,

würden Deutschland und Frankreich hineingezogen, die Lage sofort eine andere sei, und die britische Regierung sich unter Umständen zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen.

Bethmann – aufs Äußerste besorgt – schickte Telegramme an den deutschen Botschafter in Wien, die anders klangen als die bisherige bedingungslose Unterstützung:

Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltenbrand hinziehen zu lassen.

Die Österreicher beharrten auf ihrem Standpunkt. In einem weiteren Telegramm verwies Bethmann auf ein anderes Argument:

Wenn Wien ...jedes Einlenken, insbesondere den letzten Greyschen Vorschlag ablehnt, ist es kaum mehr möglich, Russland die Schuld in der aufbrechenden europäischen Konfiguration zuzuschieben... (Wien beweise,) dass es unbedingt einen Krieg will, in den wir hineingezogen sind, während Russland schuldfrei bleibt. Das ergibt für uns der eigenen Nation gegenüber eine ganz unhaltbare Situation.

Und dies wollte er unbedingt vermeiden. Am selben Tag erhielt Bethmann-Hollweg einen wohl (dringend erwarteten) Brief des SPD-Abgeordneten Albert Südekum:

Eurer Exzellenz mache ich hierdurch Mitteilung über den Verlauf meiner Unterredung mit den Mitgliedern des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei nach unserem heutigen Gespräch und gebe dieser mit der vollkommenen Offenheit, die ich der Sache und Eurer Exzellenz persönlich schulde... Ich erhielt die Bestätigung meiner Bemerkung, dass – gerade aus dem Wunsch heraus, dem Frieden zu dienen – keine wie immer geartete Aktion (General- oder partieller Streik. Sabotage und dergleichen) geplant oder auch nur zu befürchten sei...Indem ich hoffe, der Sache und Euer Exzellenz einen bescheidenen Dienst geleistet zu haben, bin ich in aufrichtiger Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster Dr. A. Südekum.

Der „bescheidene Dienst“ Südekums musste den Kanzler tatsächlich etwas beruhigen. Von Aktionen der Arbeiter ging also keine „Gefahr“ aus: keine Streiks gegen den Krieg, wie die Internationale es forderte. Auf die SPD-Führung schien die Regierung sich verlassen zu können. Das zweite Problem war jedoch kaum lösbar. Und hier bestimmte das Militär: Der Schlieffenplan (1905:) sah vor, zunächst Frankreich zu besiegen, um dann alle Kräfte gegen Russland zu orientieren. Das setzte jedoch den Durchmarsch durch das neutrale Belgien voraus, was den Kreigseintritt Großbritanniens auslösen würde.

Noch am Abend des 29. Juli ließ Bethmann der britischen Regierung durch ihren Botschafter Goschen folgendes übermitteln:

Die kaiserliche Regierung sei bereit, der britischen Regierung – ihre Neutralität vorausgesetzt – jede Zusicherung zu geben, dass Deutschland im Falle eines siegreichen Krieges keinen Gebietserwerb auf Kosten Frankreichs anstrebe. Auf meine Frage erwiderte Seine Exzellenz, er vermöge gleiche Zusicherung bezüglich Kolonien nicht geben.

Das war schon starker Tobak. Zudem, so der Kanzler, werde die „belgische Integrität“ beim Durchmarsch Deutschlands „geachtet“. Beides war für diplomatische Gebräuche etwas zu deutlich. Grey telegraphierte denn auch an Goschen:

Vom materiellen Standpunkt aus ist solch ein Vorschlag unannehmbar.

Was Grey nicht wusste: zu diesem Zeitpunkt war für den deutschen Gesandten in Brüssel ein verschlossener Kuvert unterwegs, zu öffnen nach besonderer Anweisung. Er enthielt nichts weniger als die Aufforderung an Belgien, die deutsche Armee ohne jeden Widerstand durchmarschieren zu lassen. Sie waren schon immer gründlich, diese Preußen.

Nach der Ablehnung der serbischen Antwort auf das Ultimatum und der Kriegserklärung Österreichs an Serbien am 28. Juli mit folgender Teilmobilmachung wurde auch die russische Mobilmachung angeordnet. In Paris stieß das unnachgiebige Vorgehen Österreich-Ungarns auf großes Unverständnis. Die französische Regierung hatte zwar das Bündnis mit Russland bekräftigt, wollte aber einen Krieg vermeiden. Bienvenu-Martin, der stellvertretende Außenminister telegraphierte seinem Gesandten in London:

Die Mächte und insbesondere Russland, Frankreich und England haben durch ihre dringenden Ratschläge Belgrad zum Nachgeben bestimmt. Sie haben also ihre Aufgabe erfüllt; jetzt ist es an Deutschland, das allein in der Lage ist, … Ratschläge an Österreich zu geben...

Bienvenu-Martin sollte einen Tag später im Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Paris den wohl klügsten Satz der Julikrise prägen:

Das beste Mittel zur Vermeidung eines allgemeinen Krieges ist die Verhinderung eines lokalen.

Am 30. Juli wuchs der Druck der Militärs auf Bethmann. Ihre Kriegsstrategie verlangte schnelles Vorgehen, vor allem im Westen. Der preußische Kriegsminister von Falkenhayn bestand auf der Verkündung des „Zustands drohender Kriegsgefahr“. Der Generalstabschef Helmuth von Moltke drängte seinerseits in einem Memorandum an Bethmann auf die deutsche Mobilmachung (inklusive der Besetzung Luxemburgs und Lüttichs). Doch Bethmann (die Kanzlerbürde!) zögerte. Ihm ging es weiterhin um die Neutralität Englands und um das „taktische Eventualziel in der Julikrise“ (Imanuel Geiss), Russlands Generalmobilmachung als Auslöser des „Großen Krieges“, das despotische Zarenreich als einzigen Aggressor erscheinen.

Am selben Tag teilte Sasanow dem deutschen Botschafter seine „Friedensformel“ mit: Wenn Österreich-Ungarn anerkennt, dass der Streifall mit Serbien von europäischem Interesse ist und aus dem Ultimatum an Serbien die Angriffe auf die serbischen Souveränitätsrechte entfernt, stellt Russland alle militärischen Vorbereitungen ein. Der Befehl der Generalmobilmachung sei allerdings nicht mehr rückgängig zu machen. Daran sei die österreichische Mobilmachung schuld.

Am Vormittag des 31. Juli erhielt Bethmann die lange erwartete Nachricht seines Petersburger Botschafters: Russland hatte umfangreich teilmobilisiert. Moltke verlangte immer eindringlicher die Mobilisierung. Erst am Abend brachten die Militärs Bethmann dazu, die endgültige Entscheidung für den nächsten Tag gegen Mittag festzulegen. Buchstäblich 5 Minuten vor 12 erreichte die versammelten Entscheider die Nachricht: Petersburg hat die allgemeine Mobilisierung befohlen. So wie Österreich an eben diesem Tage – übrigens in Unkenntnis der russischen Mobilmachung. Noch am Abend gingen von Berlin aus ultimative Anfragen an Petersburg und Paris. Die Kriegserklärungen wurden entworfen.

Ebenfalls am Vormittag desselben Tages fand eine gemeinsame Sitzung von Partei- und Fraktionsvorstand der SPD statt. Es wurde deutlich, dass die Mehrheit die Kriegskredite verweigern wollte. Die Nachricht von der Generalmobilisierung Russlands veränderte jedoch die Haltung der Abgeordneten radikal – kriegsradikal.

Am 1. August befahlen Deutschland und Frankreich ihre Generalmobilmachungen. Am Abend wurde Russland die Kriegserklärung übergeben. Am 2. August erging an den deutschen Gesandten in Brüssel die oben erwähnte Aufforderung inklusive Ultimatum (von Moltke auf 12 Stunden gekürzt) an Belgien zu übergeben. Die belgische Regierung lehnte am 3. August ab. Einen Tag später begann der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien, Er wurde durch Falschnachrichten legitimiert. Keine Falschmeldungen waren die Greuel deutscher Soldaten in Belgien. Alles lief nach (Schlieffen-)Plan. Am 3. August erklärte man Frankreich den Krieg

Der "herkömmliche Krakeel ist vorüber"

Am selben Tag präsentierte Bethmann-Hollweg den Vorsitzenden der Reichstagsfraktionen seine Regierungserklärung vom 4. August. Philipp Scheidemann war mit seinem Ko-Vorsitzenden Haase anwesend (am Tage zuvor hatte sich der Fraktionsvorstand mit 4:2 für die Kriegskredite ausgesprochen). Man verstand sich. Scheidemann berichtete später:

Gegen ½1 Uhr kam der Kanzler. Er sah sehr zermürbt aus. Er drückte jedem die Hand; ich hatte das Gefühl, dass er mir die Hand auffällig fest und lange drückte, und als er dann sagte: »Guten Morgen, Herr Scheidemann!« da war es mir, als hätte er mir zu verstehen geben wollen: Du, jetzt ist unser herkömmlicher Krakeel vorläufig hoffentlich vorüber!

Am Vormittag desselben Tages sprach der Kaiser im Berliner Schloss vor bürgerlichen und konservativen Abgeordneten. Er benutzte die von Bethmann-Hollweg vorformulierten Worte:

Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche. Zum Zeichen dessen, daß sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschiede, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.

Sie gelobten.

Am Nachmittag wurde im Reichstag über die Kriegskredite in Höhe von 5 Milliarden Reichsmark abgestimmt. Viele Abgeordnete waren in Uniform erschienen. Sie alle hatten von der Regierung eine „Vorläufige Denkschrift und Aktenstücke zum Kriegsausbruch“ erhalten. Die „Debatte“ dauerte gerade einmal eine Stunde. Bethmann-Hollweg trug seine Rede vor:

Wir wollten in friedlicher Arbeit weiterleben, und wie ein unausgesprochenes Gelübde ging es vom Kaiser bis zum jüngsten Soldaten: Nur zur Verteidigung einer gerechten Sache soll unser Schwert aus der Scheide fliegen. Der Tag, da wir es ziehen müssen, ist erschienen – gegen unseren Willen, gegen unser redliches Bemühen. Russland hat die Brandfackel an das Haus gelegt...

Ausgerechnet der Kriegskreditegegner Hugo Haase redete als Fraktionsvorsitzender der SPD (in Abwesenheit von Friedrich Ebert):

Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft, und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen in allen Ländern, namentlich im innigen Einverständnis mit den französischen Brüdern für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen. Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel (Protokoll: Lebhafte Zustimmung der bürgerlichen Parteien).

Haase sprach auch über die kommenden Opfer, die die Soldaten und auch ihre Angehörigen zu bringen hätten, um dann fortzufahren:

Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blut der Besten des eigenen Volkes befleckt hat viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwenden, die Kultur und die Sicherheit unseres eigenen Landes sicher zu stellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.

Alle Abgeordneten erhoben sich und applaudierten, d.h., fast alle: die Konservativen blieben sitzen. Noblesse oblige.

Zu dem Zeitpunkt waren die deutschen Truppen schon in Belgien einmarschiert. Auch England hatte nun den Krieg erklärt. Alle standen nun „vor der ehernen Tatsache des Krieges“. Während die deutschen Sozialisten im „reaktionären Zarenreich“ den Aggressor sahen, war der Feind der französischen Sozialisten der „preußische Militarismus“. C'est la guerre.

Mit der Bewilligung der Kriegskredite und der Abtretung der wichtiger legislativer Kompetenzen verabschiedete sich zunächst auch der Parlamentarismus. Der Kaiser fungierte als Oberster Kriegsherr. Die Exekutive ging an die Militärbefehlshaber. Die gesamte Zivilverwaltung wurde unter militärische Aufsicht gestellt, die Versammlungsfreiheit eingeschränkt und die Presse zensiert. Verstöße gegen den „Belagerungszustand“ wurden von Kriegsgerichten geahndet. Es war Krieg.

Und die Internationale? Welche Internationale?

Christopher Clark, Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914. London 2012

Fritz Fischer, Juli 1914: Wir sind nicht hineingeschlittert. Reinbek 1983

Imanuel Geiss, Juli 1914. München 1980 (dtv-dokumente)

Klaus Gietinger/Winfried Wolf, Der Seelentröster. Wie Christioher Clark die Deutschen von der Schuld am 1. Weltkrieg erlöst. Stuttgart 2017

Wolfgang Kruse (Hrsg.), Eine Welt vonm Feinden. Der Große Krieg 1914-1918. Frankfurt 1997

André Loez/Nicolas Offenstadt, La Grande Guerre. Paris 2014

Heiner Karuscheit, Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg. Hamburg 2014

Wolfram Wette, Ernstfall Frieden. Bremen 2017

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden