Passionnant - die Badiou-Finkielkraut-Debatte

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Was tun in einem Land, in dem das Corps der ruhmbeladenen Intellektuellen nur auf Zerstörung aus ist? stöhnte Raymond Aron in der Neubearbeitung seines Opium des intellectuels. Fasciste fand er den culte de la violence pure und zielte damit - natürlich - auf seinen Antipoden Sartre, der damals medienwirksam die Cause du peuple an Renault-Arbeiter verteilte.

Das französische "Jahrhundert der Intellektuellen" (Michel Winock) erlebte - so erscheint es heute - einen letzten Höhepunkt. Viele der damaligen geistigen und realen Barrikadenkämpfer bereuten schnell ihr frevelndes maoistisches Tun und wurden - z. B. als "nouveaux philosophes" die größten Kritiker der Elche. Die "pensée tiède", das "lauwarme Denken", wie der Historiker Benedict Anderson spottete, durchzog von nun an die meisten französischen Kulturprodukte.

Zu den Protagonisten gehörte auch der in Deutschland weniger, in Frankreich aber auch auf Grund seiner Tätigkeit bei France Culture sehr bekannte Philosoph Alain Finkielkraut, der bis heute als konservativer Liberaler und scharfzüngiger Gegner der so genannten Progressisten und anderer Linken gilt, die er permanent für den Verfall der republikanischen Kultur verantwortlich macht. Alain Badiou zum Beispiel genießt die Ehre dieser Gegenerschaft. Erst in den letzten Jahren ins Licht der Öffentlichkeit geraten, gilt der emeritierte Professor für Philosophie der Elitehochschule Ecole Normale Supérieure für die einen als ein Heidegger der Postmoderne, für die anderen als eine Art "letzter Kommunist" (oder gar "Maoist").

Die (noch?) linksliberale Zeitschrift Le Nouvel Oberservateur brachte die beiden Alains im Dezember 2009 und im Februar 2010 zu Debatten zusammen, die in der französischen Öffentlichkeit einen enormen Nachklang hatten. Der zweite Disput ist nun als Buch nachlesbar (1) - mit dem wunderbar mehrdeutigen Titel "L'Explication". Es liegt selbst in kleinstädtischen Buchhandlungen aus. In unseren Landen wurde es kaum zur Kenntnis genommen. "Die Zeit" brachte eine sehr verkürzte Besprechung. Es sind 160 passionierende Seiten. Ich legte bei der Lektüre den Stift nicht aus der Hand.

Die beiden "Kämpfer" sind quasi Meister aller Klassen. Auf vier "Runden" ist der Kampf angesetzt. Die Streitobjekte sind: die nationale Identität, Judentum und Israel, Achtundsechzig und als Finale: die Kommunismusfrage. Als Leser (und Rezensent) bin ich dabei eine Art Punktrichter, was mir nicht leicht fällt. Ich gestehe, dass ich viele der kulturkritischen Aussagen Finkielkrauts nur bestätigen kann, aber seine politische Orientierung ablehne. Andererseits kann ich bei aller politischen Sympathie die naive Heideggerverehrung Badious nicht begreifen.

Aber zum Disput. Wie hälst du's mit der nationalen Identität in Frankreich? Es beginnt erwartungsgemäß. F. konstatiert und beklagt wortgewaltig in der Sprache der nouveaux philosophes eine hegemoniale "Frankophobie" bei "bestimmten Populationen": Die Franzosen , inlusive ihrer Eliten, werden heute zunehmend ihrer Sprache, ihrer Literatur, ihrer Geschichte und ihren Landschaften entfremdet. Ein französischer Sarrazin? B. reagiert entsprechend: Diese Argumentation ist reaktionär, ja petainistisches Erbe (Vaterland, Familie, Arbeit). B. reklamiert das revolutionäre Erbe für sich (1789, 1848, die Commune, die Résistance). Dafür stehen die von F. inkriminierten Kommunisten.

Die Claims scheinen abgesteckt. F. versucht nun die rechte Gerade: nur die Identité schütze vor "world-music" und "world-cuisine", eine schwache Gerade, wie ich finde. B. kontert denn auch mit souveräner Ironie. F. versuche, den Kapitalismus mit Nationalismus zu bekämpfen. Sie sind Gefangener Ihrer Kategorien. F. muss erst einmal durchatmen. Er greift zur Wafffe der Referenzen, zitiert Jonas: Wir brauchen eine Verantwortungsphilosophie. Den Vorwurf der kategorialen Verwirrung zurückgebend, wird er konkret: Das Minarettverbot erregt Sie, das Kreuzverbot an Schulen nicht! Für B. ist beides irrelevant. Mit Nietzsche ist Gott schon lange tot. Und geht dann zum Gegenangriff über:

- Sie (F.) würden ihn (den radikalen Islam) gerne imitieren und ihm eine quasi verzweifelte Verteidigung der "westlichen Zivilisation" entgegensetzen oder der "französischen Identität", die von den Barbaren bedroht werde...

- Oh nein, nein!

- Aber ja, aber ja! Weichen Sie den Konsequenzen Ihres identitären Redens nicht aus!

Klasse! Wenn ich dieses Funkeln mit den Sätzen unserer mümmelnden Herren im "Philosophischen Quartett" vergleiche. Von der Sarrazin-"Debatte" ganz zu schweigen.

F. sieht weiterhin seine Stärke im langen Zitieren. 1944/45 wollten Albert Camus und René Char die Versöhnung (in insidiöses Argument: Char war mit Heidegger befreundet), Sartre (den Badiou verehrt) wollte hingegen die Résistance verewigen. Und dann die Volte: diese Radikalität schade gerade den Jugendlichen in den Banlieues. B. verweist - für mich erstaunlich - auf die soziale Realität. Sie sprechen von unbedeutenden Problemen. Worauf nun F. seinerseits B. seine Kategorien vorhält. Sein Kommunimus sei utopisch, Kitsch, Wiederholung eines totalitären Experiments. Quelle caricature! repliziert B. Machen Sie sich nicht ignoranter als Sie sind!

Die Protagonisten nehmen sich eine kleine, menschliche Pause:

F.: Ich sehe, wie diese Welt eine Nicht-Welt wird. Das zieht mir das Herz zusammen.

B.: Bei Ihnen ist die donnée subjective fondamentale eine Form von Melancholie.Sie berührt mich, weil ich sie in gewisser Weise teile. Ich liebe Frankreich, mein Land. Um dann fortzufahren: Aber bei Ihnen wird die Melancholie aggressiv,sie träumt von Segregation, Verboten und Gleichförmigkeit.

Gong. Ich notiere. F. agiert nicht so souverän wie erwartet. B. scheint ihm auf der kategorialen Ebene überlegen. Auf der historischen und sozialen ist zumindest Gleichstand. Der Geist des Schwarzbuchs des Kommunismus prallt an B. ab. Dieser argumentiert nicht immer dialektisch, aber F. hat diesen wohl schächeren Punkt nicht erkannt. Vielleicht in der nächsten Runde.

Vor drei Jahren ist Badiou wegen angeblichem Antisemitismus "koordiniert angegriffen" (Zizek) worden - auch von Finkielkraut, dessen nahe Verwandte nach Ausschwitz deportiert wurden. Das nächste Thema ist also brisant. Die Akteure haben kaum vernarbte Verletzungen. F. beginnt strategisch mit einem Umweg. Nein, der scharfe Israelkritiker Badiou sei kein Antisemit, aber er ziehe eine falsche, gefährliche Konklusion aus dem Holocaust. Aus dem "Plus jamais ca!" (Nie wieder das!) mache er ein Nie wieder eine emphatische Legitimation kommunitärer Identifikation: Sie verstehen dieses DAS anders, Alain Badiou. Die Zionisten sind somit für Sie die Verewiger Hitlers. Eine Analogie, die sich B. verbittet. Er stehe aber zu seinem Verdikt. Das identitäre DAS beziehe sich auch auf die Pogrome, die Massenmorde an den Arbeitern 1848 und 1871, Kambodscha und Ruanda. Er bedauert, dass Israel Opfer seiner eigenen Identitätspolitik werde und zitiert etwas unhistorisch F's. Lieblingsreferenz Hannah Arendt mit ihrem Postulat eines binationalen Staates Israel.

F. hält stand und greift jetzt an. B. benutze - ohne Antisemit zu sein - ein antisemitisches Klischee: der Jude, der einfach nur Jude sein wolle, statt ein universeller Mensch, wie B. es wolle. Ein Argument, das in der Tat variantenreich auftritt. Ich denke an die Redefigur: "Gerade die Juden, nach all' dem Schrecken, sollten doch..." Und B. hat sichtlich Schwierigkeiten. Er argumentiert auf der allgemeinen Ebene. Gerade als Kommunist sei er für das Verschwinden des Staates, wie viele - gerade jüdische - Intellektuelle vor dem zweiten Weltkrieg auch. Genau diesen Universalismus haben die Nazis mit ihrem Begriff "jüdischer Bolschewismus" vernichten wollen. Wie kann man in dieser Perspektive das Partikulare des jüdischen Staates als Fortschritt bezeichnen, und nicht als Verlust für die Menschheit? fragt er rhetorisch. Ist das wirklich ein Gegenargument? frage ich mich. F. entgegnet trocken, dass B. das Demokratieproblem ausspare. Und - auf den Konflikt Hamas und el Fatah bezogen: Demokratie und Staatsnation gehören zusammen. B. muss eine "demokratische Karenz" bei den Palästinensern konzedieren, diese finde sich aber bei der israelischen Rechten gespiegelt. Apodiktisch verkündet er, eine vernünftige Lösung (für Frieden und Fortschritt) sei der binationale Staat. Je multinationaler die Staaten, desto besser. Ein politisches Genie hätte Arafat in seine Regierung berufen. Eine Steilvorlage für F. Man debattiert nicht in die Luft. Es komme auf die Prämissen an, gemeinsame Sprache, eine generationell vermittelte Lebensweise. Die Menschen sind nicht interchangeables. Ein universelles Regime ist eine Tyrannis, argumentiert er, Elemente aus der ersten Runde aufnehmend und seinerseits Arendt zitierend.

Ein Realismuspunkt für F., den B. bezeichnenderweise (?) auch nur sehr "floue" generalisierend kontert: es gehe um die Erweiterung des Selbst (Même) und nicht um die Schließung der Alterität. F. reagiert gelassen: Steigen wir wieder auf die Erde herab. Für B. seien nur Nicht-Juden "gute Juden". B. : Mit dieser Logik legitimiere F. Hamas und Hisbollah. Er fragt zurück, wer denn 1940 die "Eh" Frankreichs gerettet habe, die Nationalisten oder die Universalisten.

Erst dann kommt es zur Diskussion des Antisemitismus. Eine Mitautorin Badious hatte die Israelis als "neue Arier" bezeichnet. B. nutzt die Gelegenheit, diese Aussage zu kontextualisieren. Das Wort "Jude" sei für die Autorin zum "signifiant-maître" für westliche Arroganz, vor allem der USA, geworden, zum Schaden der Juden, deren historisches Opfer zur Legitimierung neuer Völkermorde instrumentalisiert werde. Die Autorin spreche deswegen nicht von denJuden, sondern von einem "ensemble non-tolérable de singularités". Ich gestehe meine Schwierigkeiten mit dieser Herleitung. Liegt es nur am Jargon? F. insistiert denn auch: Einen Juden als Arier zu bezeichnen - unter dem Vorwand der Solidarität - ist schrecklicher, als einen Juden einen schmutzigen Juden zu nennen. Die Narbe bricht auf - auch bei B.: Und als Antisemit beschimpft zu werden? F.: Unerträglich, man soll den Begriff mit äußersten Skrupeln verwenden.

Und so treten am Ende wieder Gemeinsamkeiten auf. Univeralismus, definiert B. heißt, dass die neue Wahrheit die sich in ihr korpierenden Partikularitäten vereint, ohne sie zu vernichten. F.: En ce sens, j'accepte, um als Handlungsmaxime festzulegen: Israel gegen seine Feinde verteidigen und trotzdem luzide die politische Einbahnstraße kritisieren, in die sich Israel aus eigener Schuld manövriert hat.

Kein knalliges Ende dieser Runde. Viele Fragen bleiben offen. F. hat für mich aufgeholt. B. ging mir etwas zu leger über die Widersprüche hinweg, die Keulen blieben in der Ecke. Ein fairer Kampf.

Persönlich habe ich mich auf die Runde drei gefreut. "Achtundsechzig" ist in Frankreich noch stärker als in Deutschland die Chiffre, an der sich die Geister scheiden. Kaum ein Intellektueller, der nicht damit kokettiert, ein Achtundsechziger gewesen, dann aber aus politischer Klugheit pragmatisch geworden zu sein. Die Frage lautet also: Wie positionieren sich die beiden zum "Heritage de 68"?

Konservative Eröffnung durch F.: Überall der Geist der 68er, überall der Kampf gegen die Autorität, selbst die Vermittlung von Bildung wird als Unterdrückung bekämpft. Er nennt als Beispiel das Wort "Frontale Pädagogik". Überall die Egalisierung durch Demokratisierung. Die Wahrheit ist nicht demokratisch. Er weiß wohl, dass B. ihm hier zustimmt. Auch für ihn ist Achtundsechzig nur eine Beschleunigung von schon angelegten Prozessen, eine Art Spielwiese für Bürgersöhnchen (Clouscard, Michéa), doch dann setzt er einen überraschenden Angriff an: Ihre Position, Alain Finkielkraut, ist widersprüchlich. Sie sind nicht radikal genug. Sie kritisieren nicht die ist der kapitalistischen Oligarchie unterworfen. Sie zerstört Wahrheiten und produziert Ungleichheiten. F. scheint überrascht, rettet sich mit langen Zitaten (Tocqueville, Constant), aber B. beleibt unerschütterlich: Warum betrachten Sie die repräsentative Demokratie als große Errungenschaft, wenn Sie ständig ihre Kehrseiten diagnostizieren? Und er zählt à la Finkielkraut die Symptome auf: Niedergang des Denkens, Werteverfall, Gleichgültigkeit, Nichtunterscheidbarkeit von Kultur und Vergnügen etc. etc., mit einem Wort: Symptome der Warengesellschaft. Sie wollen die alte Welt in der neuen behalten! Und das können Sie nicht! Ihre Melancholie übersetzt Ihren Widerspruch! F. wird zum romantischen Poseur stilisiert.

Ein etwas angeschlagener F. versucht den Gegenangriff. Sie wollen aus der Vergangenheit eine tabula rasa machen (Anspielung auf die Internationale). Und spricht plötzlich vom Internet als Egalitätsmaschine: Die Trennung von wahr und falsch ist abgeschafft. Internet c'est 68 à perpétuité! Ein schöner Spruch, aber ziemlich unstimmig. Und zudem Badiou nur bestätigt. Der beharrt denn auch weiter auf der Inhaltsfrage, um dann die vielen, die ihn (noch) nicht gelesen haben, zu überraschen: Die platonische Kritik an der Demokratie ist weitgehend berechtigt. Wumm! Da kämpft man ein Leben lang fürs "Demokratie wagen!" und dann so etwas! Doch B. ergänzt: Er postuliert eine "polyvalence générale" eines jeden Menschen - une société où tout le monde est philosophe. Da kann sich F. - vorerst - nur geschlagen geben. Je suis entièrement d'accord. Gong.

Für mich war das die kürzeste, aber spannendste Runde. Mit einem eindeutigen Sieger. F. kann sich nur in seiner Tristesse über die Temps perdu einrichten - wie gewissen deutsche Philosophen seinerzeit auch. Er ist in der Tat alternativlos, auch wenn der Blues auf hohem Niveau partielle Glücksgefühle verschaffen mag. Aber wie steht es um die "Option" Badious? Wo ist das Positive, Herr Badiou?

Die Rotgretchenfrage: Wie hälst du's mit dem Kommunsimus, der für B. bekanntlich den einzigen Aus-Weg darstellt. F. hat sich anscheinend erholt und formuliert einen Winnersatz: Wenn (wie im Kommunismus) alles Politik ist, gehört alles der Polizei. Die Badiousche "Idee" des Kommunismus könne nicht von den Verbrechen des Kommunismus gelöst werden. Ich höre den Applaus im mitlesenden Publikum. Es hat sein Schwarzbuch gelesen. B. weicht diesem Coup geschickt aus. Natürlich habe F. Recht, aber er argumentiere wie jemand, der die spanische Inquisition als Quintessenz des Christentums bezeichne. Um aus der Profitlogik herauszukommen, sei es eben nicht notwendig, dass die Individuen total im Kollektiv aufgehen. Der Kommunismus wird sich langsam entwickeln, in Kontinuität, aber auch in Brüchen. Es komme natürlich darauf an, diese Entwicklung eben nicht totalitär, sondern als multiplicité zu gestalten. F. erkennt sofort den Sozialtechnologen: Ihre große Alternative zerstört die alte Welt und ist unerbittlich. Wir müssen von der Vergangenheit lernen, was der Mensch ist. Da ist es wieder, das kantische "krumme Holz". Dies gerade nicht, returniert B. Es kann und wird darum keine creatio ex nihilo geben. Und was ist mit den großen und kleinen Dramen der individuellen Menschen, fragt F. zurück. Was mit den Differenzen, die nicht ins Schema passen? Er zitiert Camus und Montesqieu. ich denke an Adorno. B. antwortet mit einer "Ontologie de la totalité" und als französischer Revolutionär mit dem Verweis auf die Fraternité mit den anders Denkenden. Um am Ende zu konstatieren, dass sein Frankreich, der Charme de la France, tot sei, dass er aber hoffe, dass das französische Erbe der Spiritualität und der politischen Tradition in der Menschheit "aufgehe". Dem stimmt der Melancholiker F. zu, und B. gesteht, dass ein großer Teil seines politischen und philosophischen Kampfes eben gegen diese seine eigene Melancholie gerichtet sei. Ende.

Die Protagonisten sind müde. Es waren die erwarteten Argumente. Ich finde bei beiden Wahres.

Dass der Kommunismus aber auch immer erst im Zustand der Erschöpfung auf die Tagesordnung kommen muss! Und die Eulen flattern und flattern.

1) Alain Badiou/Alain Finkielkraut, L'Explication, Paris 2010 (lignes)




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