Politische Philosophie en Méditerranée

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Seine Bücher sind schmal, seine öffentlichen Auftritte selten. In Deutschland ist er kaum bekannt. Er selbst zieht als "Mensch vom Mittelmeer", wie er sagt, die Sonne - der Dichter Prévert spricht vom camarade Soleil - "der monatelangen Schreibarbeit im Tête-à-Tête mit dem Computer vor". Und doch gehört er zu den einflußreichen politischen Philosophen der Linken. Verstehen wir uns richtig, nicht des Parti socialiste oder des marginalen Parti communiste, sondern der "wahren Linken", der Gauche de la Gauche.

Jean-Claude Michéa ist der Sohn eines seinerzeit bekannten Sportjournalisten der kommunistischen Humanité, der allem Stalinismus zum Trotz eine Fibre anarchisante hatte, wie sein Sohn nicht ohne Stolz erzählt. Dieser Vater scheint ihm die Weigerung zu arrivieren vererbt zu haben. Michéa ist kein Homo academicus mit all den von Bourdieu beschriebenen materiellen und symbolischen Privilegien. Er ist "nur" ein Lehrer für Philosophie, dies allerdings in der schönen Mittelmeerstadt Monpellier.

Vor diesem Hintergrund versteht man seine Bodenhaftung, seine obstinate Weigerung der Massenverachtung. Er erwähnt sein "instinktives Misstrauen den Bourgeois-Bohêmes gegenüber" (La double Pensée), vor der Rendite durch marktkonformes Schreiben. Sein Hauptbegriff, der Schlüssel zu seinen sehr dichten und gedankenreichen Texten, ist die von Orwell übernommene Common Decency. Darunter versteht er das Prinzip einer Gesellschaft, in der jeder "ehrenhaft" (honnêtement) von einer Tätigkeit leben kann, die einen humanen Sinn hat. Michéa zitiert zustimmend den Rousseau des Contrat social: "Kein Bürger soll so reich sein, dass er einen anderen kaufen kann, und keiner so arm, dass er sich verkaufen muss". Common Decency bedeutet "Wohlwollen, gegenseitige Hilfe und Generosität", traditionelle Werte (des Volkes) gewiss, doch notwendige Voraussetzung des sozialistischen Projekts, moralische Aussagen, in der Tat, doch diametral dem entgegengesetzt, was Michéa die "Ideologien des Guten" nennt. Das heißt: Common Decency und willkürliche "metaphysische" Konstruktionen, seien sie mit einer Kirche oder einer Partei verbunden, sind unvereinbar. Die Wurzeln dieser Basistugenden (Tugenden der Basis) liegen nach Michéa Tausende von Jahren zurück. Er bezieht sich auf die Mauss'sche Analyse der Geschenkgesellschaften. Pathetisch gesprochen gehören sie zum Erbe der Menschheit. Ich möchte ergänzen: das kollektive Gedächtnis der französischen Linken ist voller Beispiele der Common Decency - man denke nur an die Résistance.

Konservativ denkt er also, altbacken und überholt, der Jean-Claude Michéa: so schreiben seine Gegner in kämpferischer Absicht - und merken nicht (oder tun so, als ob), dass sie zugleich recht und unrecht haben. Michéa ist ein progressiver Konservativer, ein konservativer Revolutionär à la francaise. Es gilt Verhältnisse zu schaffen, die eine Moral der Solidarität erst (wieder) möglich machen. Und damit positioniert er sich im Kampf der Ideologien: gegen den restaurativen Konservativismus eines Joseph de Maistre (eines Carl Schmitt sowieso), vor allem aber gegen den (Neo)Liberalismus und die sogenannten Libertären.

Dem seit der zweiten Präsidentschaft Mitterands in Frankreich hoffnungslos hegemonialen Liberalismus, "der zwischen dem Zynismus eines Mandeville, dem lächelnden Skeptizismus eines Hume oder der Melancholie eines Constant oszillieren kann" (L'Empire du Moindre Mal) weist er in akribischen Analysen eine unhistorische Anthropologie nach. Ein funktionierendes liberales System ist antihuman. Es braucht die egoistische Monade, die Unreifheit der Individuen, das Bedürfnis, den anderen zu unterdrücken - die berühmt-berüchtigten "private vices".

Bei der Implementierung dieser antihumanen "Tugenden" traten und treten die libertär-liberalen Achtundsechziger auf den Plan. Michéa stellt einen Daniel Cohn-Bendit in eine Reihe mit Milton Friedman und Jacques Delors. Nicht nur das moderne Marketing, nicht nur die Kulturindustrie finden ihre basale Rhetorik im Mai 68 (zumindest in Frankreich). Michéa untersucht vor allem die Pädagogik. Gerade die libertären Achtundsechziger - und mit diesen Aussagen ist Michéa in Frankreich nicht mehr allein - haben die Grundlagen der Ecole du Capitalisme total geschaffen. Er zitiert und analysiert zahlreiche Beispiele für die diesbezügliche Kollusion von Liberalen und den libertären gardes rouges du capitalismes (Enseignement de l'ignorance). Eine Komplizenschaft, die jeder im Bildungs(un)wesen Tätige auch in unseren blühenden Landen leidvoll ertfahren kann. Ich erinnere an all die heute nur noch dreitagebärtigen und ergrauten Altachtundsechziger, die in leitenden Schulfunktionen mit pädagogistischer Argumentation locker und willig die "Ratschläge" der Bertelsmänner umsetzen. Wehr sich weigert, bekommt es mit "la police de la pensée pédagogique (Michéa) und deren allmächtigen Missi dominici zu tun.

Das große Problem ist also die Bewahrung der Common Decency. Was tun? Michéa weiß aus historischer Erfahrung und Skepsis, dass "von oben" keine revolutionäre Veränderung mehr ausgehen darf. Zu oft wurde Macht monopolisiert. Aus diesem Grund schlägt er die Rotation aller Führungsfunktionen vor. Er bezieht sich hierbei auf eine ältere situationistische Broschüre mit dem schönen Titel: Der Militantismus als höchstes Stadium der Entfremdung. Interessant - wenn auch hoffnungslos - finde ich die Idee der silence médiatique (La double Pensée). Wer glaubt, die Medien benutzen zu können - und sei die Botschaft eine noch so hehre -, wird von diesen bis zur Unkenntnlichkeit vereinnahmt. Bleibt die Erkenntnis der eigenen Implikation im Modus des kapitalstischen Lebens, der permanente Versuch, die Fraternité aufrechtzuerhalten. Ziemlich allgemein, diese Vorschläge. Doch haben wir andere?

Natürlich zucken wir in Deuschland zusammen, wenn wir einen linken Philosophen von den einfachen Tugenden des Volkes sprechen hören. Doch vergessen wir nicht: hier schreibt ein Mensch des Mittelmeeres. "Il y a un bel été qui ne craint pas l'automne", singt Moustaki. Hier gibt es einen schönen Sommer - ohne Furcht vor dem Herbst. Kämpfen wir für einen schönen Mai - un peu comme Dieu en France, non?

Literatur:
Jean-Claude Michéa, L'Enseignement de l'ignorance (1999), L'impasse Adam Smith (2002), L'Empire du Moindre Mal (2007), La double Pensée (2008)

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