Später wird man es surreal nennen. Oder halluzinierend. Ein älterer etwas blasser Mann filmt sich per Handy beim Gang durch sein Haus und veröffentlicht dies auf Facebook. Ihr findet sicher, dass ich heute merkwürdig ausssehe, aber ich bin das Objekt einer Hausdurchsuchung. Das hier ist ein politischer Akt, eine politische Aggression. Im Hintergrund sieht man, wie die Polizisten in Zivil in ruhiger Routine „ganze Arbeit“ machen. Jemand schiebt den älteren Herrn etwas nach vorne. Der zuckt zusammen. Berühren Sie mich nicht, Monsieur. Sie haben nicht das Recht mich zu berühren. Und in Richtung Handy: Das ist der Staatsanwalt. Er wird laut. Meine Person ist geheiligt! Ich bin Parlamentarier! Er hängt sich die Schärpe des Abgeordneten um. Voilà. Jetzt bin ich Mélenchon mit der trikoloren Schärpe.
Wie bei Lula
Eine Stunde später weiß Mélenchon um das ganze Ausmaß der Perquisition: Über achtzig Polizisten, darunter auch Bewaffnete, durchsuchen seit 7 Uhr die Wohnungen bestimmter Mitarbeiter sowie die Lokale des Parti de gauche, der Ère du peuple und der France insoumise. Es geschieht dies im Rahmen einer „Enquête préliminaire“, die Hausdurchsuchungen auch ohne Beschluss eines Untersuchungsrichters erlaubt, wenn es um schwere Delikte wie Terrorismus, Drogenhandel, Waffenhandel geht, die Strafen über 5 Jahre erwarten lassen und von einem „Freiheitsrichter“ abgesegnet sein müssen (§ 76 Loi Perben II). Verpflichtend sind allerdings auch die schriftliche Zustimmung des Verdächtigen und ein Protokoll über die Konfiskationen. Auf beides scheint man hier großzügig verzichtet zu haben, ebenso auf die Anwesenheit eines Rechtsbeistands.
In kurzen Abständen postet Mélenchon seine Sicht der Ereignisse. Dabei geht er wiederholt auf die Anschuldigungen ein. Die Ermittlungen wegen Tricks bei der Assistentenbezahlung des damaligen Europa-Abgeordneten Mélenchon gingen auf eine Denunziation einer FN-Abgeordneten zurück, die dies selbst als Witz bezeichnet habe. Und die Ausgaben während der Wahlkampagne 2017 seien durch die Wahlkommission validiert. Im Gegensatz zu denen Macrons (über die auch ermittelt wird, bisher aber ohne Durchsuchungen) seien sie nicht offiziell als „irregulär“ eingestuft.
Deutlich wird: Mélenchon ist tief verletzt. Warum, so fragt er immer wieder, gibt es keine Durchsuchungen bei Macron und der République en marche? Wo ist die Gerechtigkeit? Was ist das für eine Republik? Und dann:
Irgendwann finden sie etwas gegen mich, um mich in den Knast zu stecken, so wie bei Lula und überall in der Welt. Das ist ihre neue Technik.
Doch dann siegen die „revolutionären Reflexe“, wie die Deputierte Danièle Obono später formuliert. Um 9Uhr46 wendet sich Mélenchon an die Genossen:
Ich fordere euch auf, euch vor dem Sitz der France insoumise zu versammeln... Ich fordere euch auf, hineinzugehen. Wir dürfen uns von dieser Bande nicht verjagen lassen... Okkupiert unseren Sitz! Widersteht! Verweigert den Gehorsam!
Eine Stunde später versuchen empörte Français insoumis, darunter Mélenchon und andere Abgeordnete, das Gebäude zu „stürmen“. Es wirkt nicht sehr revolutionär (wie auch?), eher wie der etwas ungeordnete Sturm bestimmter Gallier. Vor der Haupttür steht ein Zivilpolizist, der den Zutritt verweigert. Sie betreten ihre Räume durch eine Nebentür. Mélenchon schubst (ein wenig) den Staatsanwalt, der sich (übrigens widerrechtlich) weigert, den verantwortlichen Hausherrn Manuel Bompard einzulassen. Im Gerangel wirft ein Polizist einen Insoumis zu Boden. Der Abgeordnete Corbière, außer sich, schreit den Polizisten an. Der schnaubt zurück. Am Ende brechen die Beamten die Perquisistion ab, die Insoumis postieren sich vor dem Eingang und rufen mit gehobenem Arm „Résistance!“ Wieder gibt es kein Protokoll über die Konfiskation. Laut Bompard hat die Polizei fast alles Vorgefundene, Privates, aber auch Strategiepapiere, Flugblätter, Beratungsprotokolle, mitgenommen. Bei Mélenchon selbst fanden selbst die Urlaubsfotos keine polizeiliche Gnade. Bei einer anderen Durchsuchung sollen, so Médiapart später, 12000 Euro gefunden worden sein. Aufgrund der "Gewalt" wird es gegenseitige Anzeigen geben.
Das "wahre Gesicht"
In der Parlamentssitzung am Nachmittag kritisiert Mélenchon die Durchsuchungen als Inszenierung der Regierenden und ihrer Medien: „Das ist doch keine Justice (Justiz u. Gerechtigkeit) mehr!“ Wegen Überschreitung der Redezeit dreht ihm der Parlamentspräsident Ferrand (ehemaliger Sozialist, nun Macronist mit Überzeugung und Karriere (wegen angeblicher Begünstigung selber im Zwielicht) das Mikrofon ab und kreiert damit ein gespenstisches Bild: ein wild gestikulierender „stummer“ Mélenchon, die personifizierte Ohnmacht. Und der hat dann auch noch das (von den Medien gerne immer wieder eingespielte) Pech, dass die rechtsextremen Deputierten vom Rassemblement national ihm applaudieren, wie auch die Kommunisten, Teile der Sozialisten und der Republikaner (was jedoch kaum gezeigt wird). Dass es auch kalkulierten Applaus geben könnte, wird nicht thematisiert.
Das Glück ist Mélenchon an diesem Tage wirklich nicht hold. Unter den vor dem Parlament wartenden Journalisten ist auch die Fernsehreporterin Véronique Gauret, die zwar schon 30 Jahre Pariserin ist, aber immer noch mit schwerem toulouser Akzent spricht. Sie fragt – auch syntaktisch etwas etwas umständlich - nach Mélenchons Kommentaren zu den Fillon- und Le Pen-Affären. Der schaut sie sichtlich genervt an und imitiert ihren Akzent: Und was soll das heißen?, wendet sich dann ab und bittet um eine Frage auf Französisch. Auch wenn er sich später entschuldigt (Ich dachte, sie mache sich über mich lustig, weil ich Abgeordneter von Marseille bin), wird die „schreckliche“ Wahrheit offenbar. In den Medien wird eine Art Krankheit diagnostiziert: Mélenchon ist „glottophob“ (was natürlich auf andere Phobien hinweisen könnte), ein Kulturrassist und ein Sexist, sowieso. Ein Linguist wird kontaktiert, der dem Fernsehpublikum erklärt, welches Verachtungspotential in Mélenchons Reaktion steckt. Über das Instrumentalisierungspotential der strategischen Glottophilie spricht er nicht.
Kurzum: Ab dem 16. Oktober scheint das öffentliche Bild, das die France insoumise und vor allem ihr Chef abgeben, erbärmlich. Die Bewegung ist auf einmal nur noch unglaubwürdig und heuchlerisch. Sie greift immer wieder die großen Steuerhinterzieher und die vielen Geschenke an die Superreichen an, trickst aber selbst schamlos bei der Finanzierung ihres Wahlkampfs. Sie ist gewalttätig und greift sogar die nach den Terrorakten enorm aufgewerteten „Ordnungskräfte“ an. Die frühere ironische Distanz zu den „Flics“ scheint in Frankreich vergessen. Wer sich an der Polizei „vergreift“, begeht fast schon Republiksbeleidigung. Die France insoumise attackiert zudem mit brutaler Gewalt die unabhängige Justiz (Mélenchon „drückt den Staatsanwalt an die Tür“), die doch nur ihre Arbeit tut, auch wenn ein Staatsanwalt vom Justizministerium abhängt.Und auch hier sind all die kleinen und großen täglichen Ungerechtigkeiten der Klassenjustiz vergessen.
Mélenchon selbst erscheint als megaloman und paranoid. „Meine Person ist geheiligt“ - immer wieder wird der Ausruf zitiert, zumeist mit Kopfschütteln oder ironischem Lächeln. Dabei beruft sich der Chef der Insoumis in einer als extrem empfundenen Situation auf die Immunität des Abgeordneten, pathetisch zwar, aber verständlich, wenn man sich ein wenig mit der parlamentarischen Tradition auskennt, die in Frankreich mit dem „Wir weichen nur der Gewalt der Bajonette“ eines gewissen Mirabeau beginnt. Im Urteil der (ver)öffen(t)lichen Meinung kommen gravierende Defizite hinzu, wie Jähzorn, rassistische Glottophobie. Auf das Kerbholz kommen zudem Frauenfeindlichkeit und ein Revolutionarismus, der gerade von coolen jungen Leuten als old-school empfunden wird, besser: empfunden werden soll. Und haben nicht diejenigen doch recht, die vor dem rechten und linken Populismus warnen, ja, ihn gleichsetzen? Das Urteil vieler Journalisten, Blogger (auch bisher sympathisierender), Kommentatoren, der Sozialisten, der Grünen und wohl auch einiger Insoumis (wie die Medien betonen) ist also eindeutig: dieser Mann darf nicht Präsident werden. Er wäre ein unberechenbarer Despot.
Macrons Punkt
Die Folgen sind absehbar. Seit Dienstag bemühen sich die Insoumis inklusive Mélenchon um Schadensbgrenzung, bitten um Verständnis für ihren Zorn. Der mittlerweile medienerprobte junge Politstar Adrien Quatennens verausgabt sich in den Primetime-Sendungen, die manchmal zu einem regelrechten Kreuzverhör werden. Alexis Corbière, einst Sprecher der France insoumise, jetzt Abgeordneter, weist immer wieder auf die Validierung der Wahlkampfkosten hin, deren geringe Höhe im Vergleich zu denen der anderen Kandidaten. Alle Argumente, die Offensichtlichkeit des Zweierlei-Maßes (bisher keine Durchsuchungen bei der République en marche, weichere Perquisitionen in den Fällen Fillon und Le Pen, von der Benallas ganz zu schweigen), die offensichtlichen Ungesetzlichkeiten, sie alle werden einfach ignoriert und stante pede „entkräftet“ durch neue Enthüllungen, die, obwohl oft banal, als Sensation verkauft werden. Der Journalist und Schrifsteller Vincent Léonard spricht diesbezüglich vom „Archipel der Schokoladenstreusel-Entdecker“. Am 19. Oktober enthüllt Médiapart, aufgrund der Durchsuchungsunterlagen (!), dass die Wahlkampfmanagerin der FI, der überhöhte Rechnungen vorgeworfen werden, „im Morgengrauen“ (!) bei Mélenchon angefunden worden sei und stellt die rhetorische Frage nach individueller Bereicherung Mélenchons und dessen angeblicher „Lebensgefährtin“. Die beiden wären damit ein „couple infernal“. Der von Dämonen getriebene alte Politiker und die Hexe. Selbst wenn all dieses zu entkräften wäre, semper aliquid haeret. Schließlich wissen wir alle, dass kein Rauch ohne Feuer ist. Aus welcher Richtung der Rauch kommt, interessiert schon weniger. Andere Analytiker fragen sich und das Publikum, warum Mélenchon sich selbst „grillt“? Will er etwa einer Kandidatur des populären Insoumis François Ruffin den Weg bereiten? Mélenchon ist alles zuzutrauen, auch politischer Masochismus.
Aber was bedeutet die Affäre mittel- und langfristig? Der Macronie scheint wieder einmal Fortuna auf ihrer Seite zu stehen, vielleicht musste sie diesmal noch nicht einmal korrigierend eingreifen. Des Präsidenten Umfragewerte sind im Keller, wichtige Minister haben ihn verlassen, die berühmte Tröpfchentheorie, nach der Kapitalwachstum die Wirtschaft ankurbele hat zum xten Mal den Praxistest nicht bestanden, die Bevölkerung ist äußerst unzufrieden, selbst die braven Rentner demonstrieren. Nicht nur die France insoumise sprach von der Agonie des Macronismus. Die Umbildung der Regierung ist von der Angst geprägt. Man will ganz sicher gehen. Der neue Innenminister ist der Treueste aller Treuen, gilt allerdings nicht als Idealbesetzung, vorsichtig formuliert. Andere Ernennungen sichern die Gefolgschaft der Zentristen (Modem) und der PS-Überläufer. Pikant ist sicherlich die Ernennung einer ehemaligen Danone-Direktorin zur Umwelt-Staatssekretärin (Der Lebensmittelkonzern Danone mit seinen berühmten Plastiktöpfen ist alles andere als ein Umweltschützer). Die Rede an die Nation Macrons am Abend der Perquisitionen (auf die er nicht einging, die Rede war allerdings auch aufgezeichnet worden) zeigte, dass auch seine Schauspielerfähigkeiten nachlassen. Zudem wirkte die Eurowahl-Strategie eines angeblichen Entscheidungskampfes zwischen „Progressisten“ (also Macronisten, Sozialdemokraten, Liberale, Konservative) und „Populisten“ (also Nationalisten, Faschisten, Linke) aufgesetzt und durchsichtig. Aber dann hatte die Glücksgöttin ein Einsehen. Und die Medien die Aufmerksamkeit, die höhere Werbeeinnahmen verspricht, die garantiert nicht „überhöht“ sind.
Für die linke Opposition sieht es weniger gut aus. Der Parti socialiste ist noch zwergiger als die SPD, die Hamon-Gruppe dümpelt vor sich hin, die Ecolos träumen vergeblich von deutschen Ergebnissen, und nun muss auch die France insoumise um ihre mit großem Einsatz gewonnene Position kämpfen. Dabei war es ihr Ziel, die Europawahlen zu einem Referendum über den Macronismus zu machen. Nun ist der erhoffte „Bewegungskrieg“ endgültig durch den „Stellungskrieg“ abgelöst. Die „linke Front“ steht unter ständigem Dauerbeschuss der schrecklichen Medienwaffe. Die France insoumise verpulvert ihre Kraft, indem sie ständig den bürgerlichen Medien ihre Kontra-Wahrheiten entgegenhalten muss, doch dies ist ein Hase-und-Igel-Spiel. Irgendwann werden die Hunde losgehetzt. Wie will sie. dermaßen bedrängt, ihre Akzeptanz als echte Alternative zum praktizierten Neoliberalismus zumindest bewahren? Die Bilder des Sturms auf den Parteisitz, die „gekachelten“ Sätze Mélenchons („Ich bin die Republik“) sind jederzeit abrufbar und machen die Kritik an Jupiter-Macron weniger glaubwürdig. Das Ihr-seid-wie-alle anderen-Politiker“ wird noch stärker lähmen als bisher. Und was, wenn auch nur ein Teil der Anschuldigungen wahr wäre?
Macron hat wieder einen Punkt gewonnen, wie Mélenchon einst sagte. Völlig übersehen wird dabei das Siegerlächeln der Le Pens.
Und die „Lendemains qui chantent“? Ach ja, sagen wir einmal, sie sind vertagt.
Kommentare 17
Danke! Sehr informativ, sehr beängstigend.
PS: "Macron hat wieder einen Punkt gewonnen, wie Mélenchon einst sagte. Völlig übersehen wird dabei das Siegerlächeln der Le Pens." Macronisten als Steigbügelhalter...
Neben und in der Vierten Gewalt treten nun auch alle politischen Süppchenkocher auf. Heute forderte z.B. Valéry Pecresse, Parti des Républicains und Präsidentin des Regionalrats Ile de France mit höheren Ambitionen, "exemplarische Strafen" für Mélenchon. Sonst könnten sich ja jugendliche Gewalttäter auf dieses Vorbild berufen und die Staatsautorität in Frage stellen.
"Macron als Steigbügelhalter..."
Das Verrückte dabei ist, dass Macron ohne die Gegnerin Le Pen nicht Präsident geworden wäre. Gegen einen "normalen" bürgerlichen Gegenkandidaten, etwa Fillon, hätte er keine Chance gehabt. Aber der war kalt gestellt, auch durch Haussuchungen. Nun könnte der mögliche, aber nicht zwangsläufige Niedergang der France insoumise den erneuten Aufstieg des Rassemblement national bedeuten (ziemlich unerwartet nach einer offensichtlichen Schwächeperiode). Die neoliberale Praxis des Macronismus würde dies begünstigen. 2022 wird die nächste rechtsextreme Kandidatin aber nicht unbedingt Marine heißen.
'Die neoliberale Praxis des Macronismus würde dies begünstigen'
Und zwischendurch fordert Macron mit Verve - und dem Gesicht eines unschuldig eifrigen Messdieners - mehr Demokratie in der EU gegen 'autoritäre Demokratie'. 'Autoritäre Demokratie', was für eine Pervertierung und Schönrederei ungarischer und polnischer Verhältnisse....
... und ungerechtfertigter Hausdurchsuchungsbefehle. Leider kann man nicht mehr sagen, "was für ein erbärmliches Looserverhalten". Die Untersuchung der Wahlkampfstrategie Trumps zeigt ja, dass diese Kampagnen amittles Kumulationseffekten Neuer und Alter Medien gezielt sind und aufgehen. Sad!
Und so geschieht, was geschehen musste:
Mélenchon beschimpft (verallgemeinernd, aber nicht ganz zu Unrecht) die Journalisten ("des abrutis", also "Verblödete") und fordert die Insoumis auf, sie zu nerven ("pourrir"). Der Programmdirektor des öffentlichen Senders France Info, Vincent Giret (einst Journalist bei Le Monde, Unterstützer der Wahl Macrons 1917, heute also avanciert) sieht darin einen "Aufruf zum Hass und zur Gewalt" und lanciert den Hashtag "Je suis un abruti", der als Bekenntnis zwar unfreiwillig komisch wirkt, aber von vielen in der Überzeugung, die Freiheit zu verteidigen, promotet wird. Aude Lancelin vom alternativen Le Média verweist ihrerseits auf eine gewisse Hypocrisie der Hashtagger hin: die großen Medien sind fast vollständig in der Hand der Milliardäre und die Kollusion von Medien und Staatsapparat offensichtlich (wenn man denn sehen will).
Aber vielleicht entsteht aus diesem Anlass eine wirkliche Diskussion über den Journalismus in Macronien. Dann hätte die ganze Chose sogar eine kathartische Wirkung. Man darf ja wohl hoffen.
Ja, Hoffnung ist wahrscheinlich die einzige Option )-:
Der Begriff "abrutis" ist aber schon unglücklich gewählt. Wäre nicht "courtisans" treffender?
Wenn ich boshaft wäre, würde ich die Performancies von Onfray und Mélenchon vergleichen und sicher ein paar Gemeinsamkeiten finden. Austeilen können sie beide, wobei Onfray wohl manchmal in die Rolle des Medien-Hofnarrs rückt. Neulich hat er zwei offene Briefe an "seinen König" Macron gepostet, sehr gut formuliert, sehr gut gesprochen, voller Ironie, aber auch voller Anspielungen, die einige Medien sofort als homophob, ja rassistisch interpretierten. Das gab einen kleinen Sturm in den medialen Glasstudios - und Onfray die Möglichkeit, sein neues Buch (Büchlein) zu promoten.
"Mélenchon est instrumentalisé par Macron pour les élections européennes. Il faut que ce soit son meilleur ennemi et les deux y ont intérêt" ( "Mélenchon lässt sich von Macron für die Europawahlen instrumentalisieren. Er muss sein bester Feind sein, und das ist in beider Interesse."). Für Onfray wäre also Mélenchon seinerseits eine Art politischer Vogelscheuche, die Macron, wie es seine Strategie ist, aufbaut, um so als "progressiver" Drachentöter besser die bösen Populisten rechts und links bekämpfen zu können. Einige Kommentatoren in den Medien meinen ebenfalls, die Kritik an der Kriminalisierung der France insoumise mit der Nützlichkeit Mélenchons widerlegen zu können. Ich selber glaube, dass diese Interpretation die gegenwärtige Schwäche der République en marche und ihres Monarchen übersieht. Macronien ins ziemlich plötzlich ins Wackeln gekommen. Das wäre eine (kleine) Chance für die France insoumise. Vielleicht daher die Durchsuchungsaktionen, die ungewöhnlich und disproportional sind. Mélenchon hat diese Chance wohl etwas "versemmelt", die Zukunft wird uns schlauer machen.
Zum Grundsätzlichen. Onfray bezeichnet sich theoretisch als Anarchist in der Tradition Bakunins. Ob das nur Attitude ist, vermag ich nicht zu beurteilen, will ich auch nicht. Wir alle sind in diese geldheckende Welt verstrickt und machen in ihr mit, um zu leben. Ich erinnere mich an eine Diskussion Badiou-Onfray, von "Marianne" organisiert, in der Onfray immer wieder auf die anarchistischen Ideale zurückkam, aber absolut keine Praxis für die gegenwärtige Welt aufzeigen konnte. Und es ist für Philosophen vom Schlage Badious ein Leichtes, auf bestimmte Basisgemeinsamkeiten von Anarchismus und Liberalismus hinzuweisen. Mélenchon ist wie viele ältere Marxisten (ich vereinfache etwas) in der Mathiez/Soboul-Tradition ein Anhänger Robespierres und dessen Republikanismus. Für viele bedeutet dies Zentralismus und rücksichtsloses Durchpeitschen der Gesetze (Tugend und Terror). Überhaupt lässt die Erwähnung des Namens schon an die Guillotine denken. In den letzten Jahren haben einige Historiker versucht, Robespierre nicht zu verherrlichen, aber doch einige Aspektes eines blutigen Images zurechtzurücken. Ich wollte schon immer mal einen Beitrag dazu schreiben. Vielleicht komme ich irgendwann dazu.
Grüße nach Frankreich.
Danke. Gerne gelesen. Sozialdemokratie in ganz Europa im Sinkflug, könnte man meinen. Oder geht es um etwas Anderes?
Langsam entdecken auch die bürgerlichen Medien in Deutschland das Thema. Jürg Altwegg, sehr konservativer Kulturkorrespondent der FAZ und Frankreichkenner, zeigt auch hier Kennerschaft. Unter der ... erwartbaren Überschrift "Die Republik bin ich!" stellt er dar, was für ein fieser Mensch dieser Mélenchon ist. Er "schrie", "bedrohte", "fluchte", "schwadronierte", "bezichtigte" etc. etc. Natürlich wussten Altwegg zufolge die Journalisten seit Wochen, dass M. und Sophie Chikirou ein Paar waren, nur die Polizisten nicht. Und darum geschah folgendes (Altwegg scheint "embedded" dabei gewesen zu sein): "Die Polizisten staunten nicht schlecht, als ihnen bei der Durchsuchung in Mélenchons Wohnung ... Sophie Chikirou die Tür öffnete." Der Rest sei der Phantasie der FAZ-Leser überlassen.
»Irgendwann finden sie etwas gegen mich, um mich in den Knast zu stecken, so wie bei Lula und überall in der Welt. Das ist ihre neue Technik.«
Weltweit gewinnt man den Eindruck, dass das Modell der bürgerlichen Demokratie in Auflösung begriffen ist. Wahlen werden mit allen Mitteln »passend« gemacht – notfalls auch, indem man einen potenziell erfolgreichen Aspiranten, siehe Lula, in den Knast steckt. Und notfalls auch, wenn der faschistische Putsch (siehe Bolsonaro, ebenfalls Brasilien) die daraus folgende Konsequenz ist.
In den USA scheinen die systemischen Mitteln gerade noch so mit Ach und Krach zu halten: FBI und andere Polizeibehörden tun (noch) ihren Job – obwohl die Nero-Figur, die sich dort als Präsident hat installieren lassen, Verständnis für die attentatenden Nazi-Terroristen twittert, welche versucht haben, die Opposition gegen ihn in die Luft zu pusten.
Eine Linke, die einen Rückzugs-Staat als Refugium im Rücken hat oder (ergänzend oder alternativ) auch nur in der Nähe der Position wäre, die bonapartistischen bis rechtsautoritären Putschversuche mit dem Stellen der Machtfrage zu konterkarrieren, ist weit und breit nicht in Sicht. Gegen das faschistische US-Bündnis aus Mob und Gußeisen-Kapital wäre eigentlich ein Generalstreik fällig. Der gleichfalls irrlichternde Neo-Napoleon aus dem Champs Elisée wird von sogenannten Linken auch noch als große Hoffnungsfigur gefeiert.
Eigentlich eine Situation, wo man sich politisch nur noch den Revolver an die Schläfe halten kann. Es ist vorbei; der Faschismus hat gesiegt. Und diesmal weltweit.
"...der Rechtspopulismus ist, in Frankreich und anderswo, nur Steigbügelhalter und im Grunde willkommen weil ungefährlich oder gar nützlich für die herkömmlichen Käuflinge und Strippenzieher."
Der Soziologe Ugo Palheta nennt das "Pseudo-Antifaschismus für Abende nach der Wahl". Der funktionierte auch im Mai 2017 wieder hervorragend. Der Front/Rassemblement national ist eine Art "Front fonctionnel" zur Erhaltung bürgerlicher Herrschaft gewesen. Doch mittlerweile wird er trotz seiner Schwächephase zur realen Gefahr, die weit über die Vogelscheuchenfunktion hinausgehen könnte. Macrons autoritäre neoliberale Praxis (gerne auch mit Verordnungen) produziert ein ideales Terrain für eine faschistische Bewegung. Die schwächelt momentan, doch eine neue Führerin (Marion Maréchal) mit leicht veränderter Ideologie: Elitenbetonung, reaktionärer Katholizismus, Nationalismus, weniger verbaler Antikapitalismus, kündigt sich an. Bei zunehmender Krise würde der RN - wie klassische faschistische Bewegungen - zur schlagkräftigen Massenpartei (die lokale u. regionale Verankerung jedenfalls nimmt zu) in einem angeblichen Bürgerkrieg (gegen die Migranten und gegen die Linke). Die diversen linken Gruppen und Gewerkschaften werden weiter geschwächt, vor allem hegemonial. so dass - im Gegensatz etwa zu 1934/36 - einer faschistischen Gefahr kein materieller Widerstand entgegengesetzt werden kann. Das zerrüttete Wahlsystem könnte sein Übriges dazu beitragen.
Darum ist das Geschehen um die Hausdurchsuchungen so dramatisch. Es zeigt: Die Trennung von Exekutive, Legislative und Justiz wird mit System aufgeweicht. Die maßlose, zum Teil illegale Anwendung eines reaktionären Gesetzes (Loi Perben II) mit dem Resultat der Kriminalisierung der stärksten linken Opposition (die sich allerdings nicht gerade geschickt verhielt) wird zum Präzedenzfall. In Umfragen fällt Mélenchon innerhalb einer Woche unter das Popularitätsniveau Macrons, das wahrlich schon unterirdisch ist. Widerstand wird kriminell. Gerade hat der Senat einem Gesetz zugestimmt, dass essentielle Demonstrationsrechte aufhebt (wegen von der Polizei zu interpretierbarer "Gewaltintention"). Die bürgerlichen Medien merken in ihrem Jagdeifer auf das Paar Mélenchon-Chirikou nicht einmal, dass das Recht auch bei ihnen gebrochen werden könnte und irgendwann auch gebrochen wird. Vichy ist völlig vergessen.
Am Ende könnten sie einem Mélenchon sogar nachtrauern, zumindest die, die noch im tiefen Innern vergraben Professionalität besitzen.
Melanchon scheint unabhängig einiger Fettnäpfchen, auf einer „europäischen“ Abschussliste zu stehen:
Das Europa des Krieges
"Zu dem Konflikt mit Italien und dem Streit um die Gestaltung des britischen EU-Austritts [4] kommen steigende Spannungen mit einer wachsenden Zahl weiterer Länder hinzu. So sind zuletzt etwa in Frankreich Proteste gegen die Dominanz Berlins in der EU lauter geworden. In einer Rede vor der Nationalversammlung hat am Montag der Gründer von La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon, nicht nur gegen die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik Stellung bezogen, da sie Frankreichs Sozialmodell zerstört.[5] Er hat darüber hinaus die von Berlin forcierte Militarisierung der EU [6] kritisiert: Man habe eigentlich "Europa für den Frieden" aufbauen wollen; nun zeige sich aber, dass auf Betreiben der Bundesrepublik "ein Europa des Krieges im Aufbau ist". Bereits Ende September hatte Mélenchon in einem Zeitungsbeitrag gegen deutsche Pläne protestiert, über eine Teilhabe an den französischen Nuklearwaffen de facto zur Atommacht zu werden. Darüber hinaus hatte er - zum wiederholten Male - auf die Dominanz deutschen Personals an entscheidenden Positionen in den Gremien und den Bürokratien der EU hingewiesen.[7] Letzten Endes beruhe die deutsche Vormacht in der EU auf der erdrückenden Wirtschaftsmacht des Landes, die es der Regierung in Berlin erlaube, gebieterisch aufzutreten.[8] Mélenchon, der bei der Präsidentenwahl 2017 den Einzug in die Stichwahl mit 19,6 Prozent nur knapp verfehlte, ruft inzwischen dazu auf, Frankreich, weil Besserung nicht in Sicht sei, umgehend "aus allen europäischen Verträgen herauszuführen".[9]"
Am 19. September wird Mélenchon und 5 weiteren Insoumis der Prozess gemacht. Ihre Verteidigung scheint gut vorbereitet. Mélenchon stellt sich in die Reihe prominenter "Lawfare"-Opfer wie Lula, den er noch Anfang September im Gefängnis besuchte. Er wird die (wahrscheinlich) eher symbolische Strafe zu wenden suchen, indem er das autoritäre Abgleiten der Macronie bloßstellt, ein schwieriges Unterfangen: die Medien stellen ihn weiterhin als unberechenbaren Wüstling hin.
Wie weit übrigens deren Einfluss geht, lässt sich am berühmten "La République c'est moi!" nachvollziehen. Selbst für Linke hat M. sich mit diesem scheinbar maßlosen Satz disqualifiziert. Der Journalist Steffen Vogel, auch Freitagsautor, schreibt in den "Blättern" dieses Monats:
"Mélenchon etwa machte im vergangenen Oktober Negativschlagzeilen, als er vor laufenden Kameras einen Polizisten anbrüllte, der die LFI-Parteizentrale, wegen eines Veruntreuungsverdachts durchsuchte. "La République c'est moi" donnerte M. dem Beamten aus nächster Näge selbstherrlich entgegen. In den Umfragen ging es danach prompt bergab."
Der in meinem Text verlinkte Videoausschnitt zeigt in der Tat einen unbeherrschten M. Allerdings ist er arg geschnitten (und verfälscht damit das reale Geschehen) . Mittlerweile ist das komplette Video publik. Es zeigt neben langen Reden über Republikanismus, Wutausbrüchen und Verzweiflung (was angesichts der Dimension der Perquisition verständlich ist) nicht wenige Versöhnungsversuche. Die einzige reale Gewalt ging von einem Polizisten aus. Das Video erlaubt auch eine nicht geringe Korrektur der Urteile Vogels (die nur ein Exempel von vielen darstellen):
Ein verzweifelter Mélenchon "donnerte" dem Polizisten (der übrigens nicht die Parteizentrale "durchsuchte", sondern den Zugang bewachte, damit die Insoumis nicht durch die eigene Tür gehen konnten. Ansonsten schwieg er die Politiker tapfer an) ins Gesicht:
"Wer hat Ihnen diesen Befehl gegeben? Ich bin Parlamentarier. Sie sind die republikanische Polizei. Die Republik bin ich! Ich bin ein Parlamentarier. Schämen Sie sich nicht für das, was Sie tun?"
In der veröffentlichten Meinung und - wie wir sehen - auch in der linken bleibt das von Vogel als "selbstherrlich" diagnostizierte "Ich bin die Republik" übrig. Der "prompte" Absturz in den Umfragen ist für Vogel schlüssig. Wäre es hier nicht spannender, nach der Macht von Medien zu fragen, für die es kein Problem ist, dass für "präliminare Untersuchungen" der staatsanwältlichen (also regierungsabhängigen) Justiz bei der politischen Opposition eine Hundertschaft von z.T. bewaffneten Polizisten eingesetzt wird? Dass kein Rechtsbeistand bei den Haussuchungen anwesend ist. Und sollte man - auch aus historischen Gründen - nicht wieder einmal die besorgte Frage nach der Unverletzlichkeit der Wohnung stellen? Auch diese ist "sacré", wie in gewisser Weise die Person eines Parlamentariers. Auch wenn er Mélenchon heißt.
Es wird eine spannende Woche.
>>Wäre es hier nicht spannender, nach der Macht von Medien zu fragen,…<<
Ja, auf jeden Fall. Allerdings treibt mich auch die Frage um, warum immer noch so Viele die zielgerichtet verstümmelten Darstellungen für Information halten.
Der zweitägige Prozess endete vorläufig am 20. Sept. Die Staatsanwaltschaft forderte für M. 3 Monate Gefängnis auf Bewährung plus Geldstrafe und für die anderen Angeklagten nur Geldstrafen. Das Damoklesschwert der Nichtwählbarkeit scheint abgenommen zu sein. Das Urteil erfolgt in einigen Wochen.
Das Internetmedium "Là-bas si jy suis" hat den Prozessverlauf zum Teil wörtlich wiedergegeben. Manches ist atemberaubend, vor allem die Plädoyers der Nebenkläger, darunter der - diesmal vom Staat bezahlte - Staranwalt Eric Dupond-Moretti, und der Staatsanwälte. Zur Illustration einige Auszüge (so wörtlich wie möglich übersetzt):
Staatsanwältin:
"Sie können nicht die Legalität mit Füßen treten. Niemand ist über den Gesetzen, und manche müssen sogar beispielhaft wirken. Wie sollte man sonst noch an den Vertrag mit (?) der Justiz glauben? Die Erklärungen der Angeklagten sind unverständlich."
"Die "Insoumis" hatten nicht das Recht, über die Legalität oder Legimität der Perquisitionen zu urteilen, und noch weniger über ihre Moralität (!). Sie mussten sich fügen ("se soumettre" heißt eigentlich "sich unterwerfen", die Prokuratorin erlaubt sich hier ein Wortspiel), Punkt. Das ist alles.Und dann können sie, wenn sie es als notwendig beurteilen, Einspruch erheben."
Welch Geist in manchen Staatsanwaltsbüros zu schweben scheint, bewies der zweite Staatsanwalt:
"Ich sehe noch manche auf den Angeklagtenbänken lächeln. Aber seien Sie sich sicher: Ihre Gesichtszüge haben bis zum Ende die Zeit, sich wieder zu straffen."
"Man (!) hätte heute den ganzen Saal mit Angeklagten füllen können (!), aber was wäre der Nutzen ("à quoi bon")? Manche der anwesenden Unterstützer könnten die Bank wechseln."
Reaktion im Saal: "Was soll das heißen"?
Antwort Staatsanwalt: "Ich bin nicht da, um Sätze zu erklären, die Ihnen zu komplex vorkommen." Er wendet sich an den Internetadministrator Mélenchons: "Der junge Mann in einem weißen Hemd sollte sehr schweigsam sein."
Noch eine Perle:
"Die Anklagen sind glasklar. In einem solchen Maße, dass es keine Anklagen mehr sind, sondern Feststellungen."
Zum Dessert noch der finale Satz des Starsanwalts Dupond-Moretti:
"Wir sind hier nicht in Venezuela."
Da hat er zweifelsohne recht. Zumal er- bewusst - einen Satz benutzt, den die Justizministerin einst in der Nationalversammlung in Richtung Mélenchon gerufen hat. Es wird Madame Belloubet freuen, in Zeiten, in denen sie öffentlich zugeben muss, bei ihrer letzten Steuererklärung 3 Immobilien vergessen zu haben. Keine Anklage, nur eine Feststellung.