Radikal rechts-links

Ideologie Zur zweifelhaften Wiederentdeckung des preußischen Nationalbolschewisten Ernst Niekisch
Ausgabe 20/2016

Der Nationalbolschewismus ist wieder ein Thema. „Im Sinne von Ernst Niekisch“, sagt der russische Philosoph Alexander Dugin, sei er „ein faszinierendes Vorhaben“. Es erlaube, „Marx aus einer positiven Sicht von rechts“ zu verstehen. Der skurrile Philosophenstar, in den 1990er Jahren war er Mitglied der Nationalbolschewistischen Partei, ist nicht der Einzige, der den Spuren von Ernst Niekisch folgt. Auch in Deutschland gilt Niekisch einer eingeschworenen Gemeinde als Mann des Widerstands aus Prinzip, als Linker von echter „preußischer“ Haltung. Wer war dieser „rot-braune“ Revolutionär, für den selbst das Braunhemd „fremdartig“ war?

Am 23. Mai 1889 im preußischen Schlesien geboren, wächst Ernst Niekisch im katholisch-konservativen Soziotop einer bayerischen Kleinstadt auf. Abitur und Studium sind dem Handwerkersohn verwehrt. Als Auswege bleiben das Lehrerseminar – und Nietzsche. Ein Leben lang wird ihm das Bayerische als Inbegriff des „Romanischen“ verhasst sein. Mit Nietzsche gilt für ihn: Mein Ausgangspunkt ist der preußische Soldat.

Der nationale Sozialist

Ein Augenleiden verhindert Niekischs Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg. Ab 1917 arbeitet er wieder als Lehrer und tritt der SPD bei. Unter dem Eindruck des Diktatfriedens von Brest-Litowsk schreibt Niekisch eine erste politische Schrift, Licht aus dem Osten. Im November 1918 gründet er den Augsburger Soldatenrat. „Ich fühle sie herankriechen, unheimlich und furchtbar, aber unabwendbar: die Revolution.“ Niekisch ist ein guter Redner, und er wird Vorsitzender des Münchner Zentralrats. In dieser Rolle agiert er ambivalent. Die Proklamation der Bayerischen Räterepublik trägt seine Unterschrift, doch zögert er nicht, die geflohene Regierung zu kontaktieren: „Ich halte es für meine Pflicht, alles zu tun, um den Bürger-, Bruder-, Proletarierkrieg zu vermeiden.“ Er schlägt vor, die Regierung solle mit dem Proletariat verhandeln. Diese zieht jedoch den Einsatz der Freikorps vor.

Niekisch wird zu zweijähriger Festungshaft verurteilt. Seinem Mitgefangenen Erich Mühsam verdanken wir eine bezeichnende Anekdote. Angesichts der Überbelegung weigern sich Häftlinge, ohne Verstärkung weiterhin die Reinigungsarbeit zu machen. Niekisch jedoch, der eigentliche Macher der Räterevolution, gewählter Landtagsabgeordneter, greift persönlich zum Besen, um streikenden Arbeitern in den Rücken zu fallen. Offener Streikbruch, urteilt Mühsam. Oder doch „nur“ eine Frage preußischer Ordnungsliebe? Jedenfalls meidet Mühsam fortan den Kontakt.

In den turbulenten frühen 20er Jahren entwickelt sich Niekisch zum nationalen Sozialisten. Der USPD-Abgeordnete betreibt die Wiedervereinigung mit der SPD. 1922 zieht es den Antibayern nach Preußen. Er rückt nach rechts. Als Gewerkschaftsfunktionär in Berlin propagiert er einen „Sozialismus der Pflichten“ und einen „Nationalismus der Arbeiter“. Der „paneuropäische“ Vertrag von Locarno ist für ihn die „Selbstabdankung eines Volkes“. 1926 verlässt Niekisch die SPD.

Sein neues Projekt ist die Monatszeitschrift Widerstand – in kleiner Auflage, aber mit prominenten Autoren, Ernst Jünger zum Beispiel. Zudem ist der „Widerstands-Kreis“ im national-revolutionären Feld gut vernetzt – von den Strasser-Brüdern bis zu den Nationalkommunisten. Es gibt Schnittmengen mit Linksaußen, auch ein Ernst Thälmann redet von „imperialistischen Sklavenverträgen“, „Zinsknechtschaft“ und „hündischer Erfüllungspolitik“.

Niekischs Widerstandsideologie mag heute befremden, hier schreibt ein Antidemokrat, der „unbedingte“ Parteinahme fordert. Das Denken kreist um die „Entscheidung“, ein Schlüsselbegriff dieser Jahre. Der Klassenkampf wird zum Völkerkampf bürgerlicher und proletarischer Nationen transformiert. Wahrer Antikapitalismus ist „permanenter Aufstand“ gegen die „westlich-romanische“ Zivilisation, die Deutschland zwecks Ausbeutung besetzt halte. Widerstand ist Krieg gegen die „Ideen von 1789 und den Liberalismus.“ Kompromisse sind „westlich-romanisch“. „Hier geht es um Leben und Sterben“, schreibt Niekisch 1929 und druckt im Widerstand eine ganze Seite aus Kleists Germania. Nur eine Allianz der jungen „proletarischen Nationen“ Russland und Deutschland könne den Westen in die Knie zwingen. Der Bolschewismus ist „die grundsätzliche Verneinung der westlichen Werte“. Niekisch schwebt ein deutsch-russisches Imperium vor. 1932, nach einer Reise in die UdSSR (und nach der Lektüre von Jüngers Arbeiter) lobt er die Planwirtschaft: Jeder Betrieb eine militärische Einheit; den Arbeitsplatz zu verlassen ist wie Fahnenflucht. Der Geist von Potsdam west im proletarischen Staat Sowjetunion.

Von den zahlreichen Schriften Niekischs ist Hitler, ein deutsches Verhängnis (1932) die bekannteste (ein Teil wird vom Hindenburg-Ausschuss zu Wahlkampfzwecken aufgekauft). Es ist eine Abrechnung mit dem kleinbürgerlichen Nationalsozialismus, eine Kritik des Faschismus von rechts. Der Demagoge Hitler sei nur eine weitere Erscheinungsform des „Demokratismus“. Früher ertönte aus der Kraft seiner Stimme noch der Urlaut der gepeinigten und geschändeten deutschen Kreatur. Nun sei der faschistische Nationalsozialismus keine Auflehnung gegen Versailles, sondern der Schatten, den die romanische Übermacht über den deutschen Protest wirft. Hitler agiere als „der Gendarm des Abendlandes gegen den Bolschewismus“. A. Paul Weber steuert zu dieser Abrechnung seine stärksten Bilder bei: den Cello spielenden Tod und den Zug der Lemminge ins NS-Grab.

Private Widerstandszirkel

Der Widerstand erscheint immerhin bis Dezember 1934. Niekisch schreibt 1933 taktischer, gibt vor, „hoffnungsvolle“ Ansätze zu erkennen. Er begrüßt die Zerschlagung der Gewerkschaften und fordert, den „Arbeitsdienst“ zur „Kriegsfront“ gegen den Westen auszuweiten. Bis 1935 kann er noch veröffentlichen. Dann bleiben nur noch private Widerstandszirkel. Am 22. März 1937 kommt die Gestapo, wie immer am frühen Morgen. 1939 wird Niekisch wegen Hochverrats zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Im Frühjahr 1945 befreit die Rote Armee einen schwerkranken, aber ungebrochenen Mann. Noch im Sommer tritt er der KPD bei, der Partei, die einst für ihn „fremdes Gewächs auf deutschem Boden“ gewesen ist.

Seine Karriere in der DDR beginnt. Für den SED-Vereinigungsparteitag konzipiert er die Rede Otto Grotewohls (SPD). Niekisch wird Mitglied des Volksrats, der Nationalen Front, später der Volkskammer, zudem Professor an der Humboldt-Universität. Den Westen bekämpft er weiterhin, in marxistischer Diktion, aber auch mit Anleihen an seine Weimarer Rhetorik. Amerika ist ihm nun der Hort des „Komfortismus“. 1950 schreibt ihm Ernst Jünger: „Sie sind vom Widerstand zur Entscheidung übergegangen. Für mich ist die Lage des Widerstandes unverändert geblieben ... So muss ich mich mit den Unannehmlichkeiten einer isolierten Position abfinden.“

Niekisch erfährt schon bald die Folgen seiner „Entscheidung“. Er gerät langsam ins politische Abseits. Er eckt an, setzt sich für Jünger ein, der Kulturfunktionär Girnus wirft ihm „groteske Verzerrungen der geschichtlichen Wirklichkeit“ vor (was nicht ganz falsch ist). Nach dem 17. Juni 1953 bricht er endgültig mit der DDR. Er muss sich für die „klerikofaschistische“ BRD entscheiden. Bitter beklagt er sich in einem Brief an Adolf Grimme, man habe nur die Wahl, Amerikaner oder Russe zu sein.

Die radikale rechts-linke Vergangenheit hängt Niekisch an. Sein Antrag auf Wiedergutmachung für die erlittene Haft wird von den Westberliner Behörden abgelehnt. Anhänger eines totalitären Systems könnten nicht als Opfer eines anderen totalitären Systems entschädigt werden. Ein zermürbender, von den Behörden unerbittlich geführter Kampf beginnt. Erst 1966 kommt ein außergerichtlicher Vergleich zustande. Am 23. Mai 1967, an seinem Geburtstag, stirbt Niekisch in der „isolierten Position“ des Widerstands in Berlin-Wilmersdorf. Bis zum Ende ist er seinen „Archetypen“ treu geblieben: geopolitische Russlandorientierung, Revolution, preußischer Geist, Widerstandshaltung.

Dies sind auch die Voraussetzungen für sein anhaltendes Nachwirken. Niekischs Aura bietet reichlich Identifikationspotenzial. „Widerstand“ und „Revolution“ werden zu Schlüsselbegriffen. Es gibt in der Geschichte der BRD Konjunkturen bestimmter Niekisch-Topoi. Indikatoren sind die Forderung nach einem Friedensvertrag, die Rede vom besetzten Vasallenstaat, die obsessive Kritik am imperialistischen Westen, eine unkritische Parteinahme für Russland. Und auch heute greifen die Formateure einer „rechten intellektuellen Metapolitik“ (Samuel Salzborn) bewusst auf die Ideologeme der Weimarer Nationalrevolutionäre zurück. Nicht nur ein Alexander Dugin.

Weiterführende Lektüre

Die Dissertation Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken von Ernst Niekisch Birgit Rätsch-Langejürgen Bouvier 1997, 392 S., ab 15 €

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