Auf dem Zahnfleisch

Rezension Die Zahnbehandlung war unangenehm, schlimmer noch das Warten im Behandlungsstuhl. So ist es halt. Aber was soll diese Rechnung? So viel für diese Arbeit? Man sollte noch ganz andere Fragen stellen. Systemfragen. Ein gutes Buch hilft dabei

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Zähne – ein Spiegel der Gesellschaft
Zähne – ein Spiegel der Gesellschaft

Foto: Peter Macdiarmid/Getty Images

Das Betrachten eines sehr alten künstlichen Gebisses ist eine eigentümliche Erfahrung. Unsere Neugier mischt sich mit Schauder. Schließlich lastet auf dem Gebiss die ganze Geschichte unserer Art: die kreatürliche Verwandtschaft von Mensch und (Raub-)Tier, das Agieren der Zähne beim Ergreifen und Einverleiben der Beute, ihre ungeheure Reiß- und Zermalmungskraft, unsere körperliche und psychische Verwundbarkeit (nicht nur in der letzten Lebensphase)... und unsere Intelligenz.

Und immer repräsentieren die Zähne die „Eingeweide der Macht“ (Elias Canetti.). Im Washington-Museum von Mount Vernon kann man die dritten (?) Zähne des ersten Präsidenten bewundern. Sie zeigen eine weitere Dimension der Chose: Washington trug 9 Zähne seiner Sklaven im Mund. Als Philantrop hatte er seine Zwangsarbeiter sogar finanziell „entschädigt“. Die „soziale Ordnung ist halt nichts anderes als die Ordnung der Körper“, schrieb einst Bourdieu.

In zahlreichen Redensarten geht es um die Zähne. Jeder von uns hat „Zahngeschichten“ zu erzählen (ich freue mich auf das baldige Eintreffen des Worts „Dentalnarrative“). Und die berichten nicht nur von Schmerzen, von unserer Angst und heldenhafter, weil vergeblicher Resilienz, sondern indizieren auch stets unsere Position im sozialen Geschehen. Der Journalist Olivier Cyran hat dazu ein ungemein anregendes Buch gemacht. An den Zähnen, so schreibt er,

treffen Emaille und Zucker zusammen, der Mund und der Schlagstock, die Intimität und der Blick der Anderen, der Schmerz und seine Linderung, der Konsument und die Industrie der weißen Zähne... Der Zahn ist das Objekt eines ständigen und chaotischen Kräfteverhältnisses.

Dass die dentale Frage immer auch eine soziale Frage ist, verdeutlicht Cyran anhand einer geschickten Mélange von historischen Beispielen und aktuellen Fallstudien. Sie zeigen: Bei den Zähnen geht es um viel mehr als die reine „Beißfähigkeit“. Es geht um den "sozialen Krieg".

Der Orden

Über das Paläolithikum weiß man recht wenig. Der Fund eines 14.000 Jahre alten Zahnes in den Dolomiten beweist jedoch: Die Jäger und Sammler waren in der Lage, einen Backenzahn „fachgerecht“ zu extrahieren. Es gab also Spezialisten (oder Spezialistinnen). Zum Zustand der Zähne der Menschen dieser Zeit schreibt der Archäogenetiker Johannes Krause:

Die Schädel alter Jäger und Sammler erstaunen wegen ihrer überwiegend tadellos hellen Zähne. Karies verursachende süße Nahrungsmittel aßen die Menschen damals kaum, und Brot, das vom Speichel in Zucker versetzt wird, kannten sie gar nicht. Dafür nutzten sie ihre Schneidezähne sehr stark ab. Wahrscheinlich benutzten sie die Steinzeitler als dritte Hand... Zahnverletzungen und deren Folgen gehörten daher bei den Jägern und Sammlern zu den häufigeren Todesursachen.

Die Verbreitung der Agrikultur hatte vor 10.000 Jahren hatte verheerende dentale Auswirkungen. Die Zähne unserer Vorfahren waren – wie die unseren – nicht besonders gut für Vollkornmüsli und Backwaren gemacht. Lange Zeit wurden die Körner beim Mahlen gar mit Sand vermischt. Die Zivilisationskrankheit Karies verwüstete die Gebisse der sesshaften gewordenen Menschheit. Trotz (und wegen?) ihrer Zahnschmerzen hinterließen uns die Neolithiker so fortschrittliche Dinge wie das Hamsterrad der Arbeit, schamlose Aneignung des Mehrprodukts, starre soziale Hierarchien und Befestigungsanlagen für den Vater aller Dinge, den Krieg. Eine „legitime Ordnung“ also. Die kranken Beißer ihrer geliebten Herrscher wurden, wie zahlreiche Funde zeigen, mit erstaunlicher Kunstfertigkeit behandelt (Perforierung, Prothesen). Damit sie (uns) besser „fressen“ konnten. Und die Zähne der arbeitenden Klassen? Cyrans lakonische Antwort:

Der Kunst des Dentisten geht es wie jeder Kunst: die großen Kunstwerke sind den Palästen vorbehalten.

Dafür genießt der Zahnkünstler die „Versorgung am Tisch des Herrn“ (Max Weber).. Auf dem luxuriösen Sarkophag des Zahnarztes Hévy-Ré (ca. 2.700 v.Chr.) liest man Titel wie „Führer der Schreiber Pharaons“ - „Mitglied der Großen Zehn Oberägyptens“ - „Großer der Dentisten und Großer der Mediziner“. Ein Mann des geschlossenen „Inneren Kreises“ also. Der „Stand“ der Dentisten war geboren. Ihm war ein sehr, sehr langes Leben beschert, ein graeco-romanisches, ein arabisches (sehr interessant der Arzt Al-Zahrawi, der das Prinzip der Erhaltung des kranken Zahnes formulierte) und – natürlich – ein christlich-europäisches. Um nur diese Zivilisationen zu nennen.

Die Kunst der mittelalterlichen Hofdentisten bestand darin, dem kirchlichen Postulat des „Ecclesia abhorret a sanguine“ (Die Kirche verabscheut das Blut) zu entsprechen. Das „blaue Blut“ war zu bewahren. Das rote Blut gehört zum Animalischen (wie die Sexualität, der Schmutz, das plebejische Lachen). Es ist den „Zahnausreißern“ vorbehalten, den Barbieren, die faulen Zähne des noch fauleren Pöbels zu mal-trätieren. Die „Dentistes de robe“ folgen ihren antiken Vorbildern. Ihre Sprache ist Latein. Ihre Welt ist die Theorie. Den Barbieren ist in der kollektiven Imagerie die Rolle des vulgären Scharlatans zugeschrieben, der dem dummen Volk in seiner Sprache ein blutiges Spektakel bietet. Die Bilder sollen uns daran erinnern, wie weit wir doch fortgeschritten sind. Und wie dankbar wir unseren Ärzten sein müssen, für die prompte Behandlung und die gerechten Preise für ihre Kunst.

Schließlich profitieren wir doch alle von der medizinischen „Demokratisierung“. Dank ausgefeilter Dentaltechnik und artgerechter Anästhesierung muss keiner mehr Schmerzen leiden. Und es fällt auch keiner in tiefe Armut. Schließlich gibt es die Grundversicherung. Aber ach! Die Verhältnisse, sie sind nicht so. La „Guerre sociale“ continue. Selbst die Stände existieren weiter. Cyran stellt uns den heutigen „Ordre national des chirurgiens dentistes“ (ONCD) vor , eine im Wortsinn exklusive Ständevertretung. Die Mitglieder, “konservativ aus Tradition und aus Interesse“, lassen sich zünftig entlohnen: mit durchschnittlich 90.000 Euros netto erarbeiten sie sich mehr als das Dreifache des französischen Durchschnittsgehalts. Das verhindert allerdings nicht neidvolle Dentistenblicke auf die deutschen Standeskollegen, die es auf 161.000 Euro bringen. Die Welt ist ungerecht... auf jeder Etage.

Ein Arzt, der die Armen behandelt wie die Reichen, kann allerdings nicht reich werden. Und Diskriminierung ist zum Glück verboten. Also bemüht man sich –- mit allen Mitteln der Kommunikation – Patienten der einfachen „Protection universelle maladie“ abzuwimmeln. Das aber verhindert oder verzögert notwendige konservative Behandlungen. Verinnerlicht haben viele Dentisten zudem die banale Erkenntnis, dass die tarifierten Behandlungen langer Dauer (die konservierende Methode) weniger einbringen als prothetische Maßnahmen (deren Preis sie zum Teil bestimmen können). Auch hier gilt das eherne Gesetz: Time is money.

Die Klassenverachtung lässt manche Dentisten den Hippokrates in sich vergessen: „Mit denen da macht man nichts“. Für ihre schlechten Zähne sind „die da“ selbst verantwortlich. Cyran gibt ein Gespräch mit einer Dentistin wieder, die immerhin freiwillig im „Bus social“ des ONCD arbeitet (Wohltaten zahlen sich bekanntlich aus, im Mittelalter vor Gott, heute vor dem Markt):

Ich sage den Leuten, die mit einer tiefen Karies ankommen, "Aber Madame! Das ist doch ihr Verschulden! Und Sie belasten die Gesellschaft!“ Ich sage ihnen: „Vive la France, nicht wahr? Die Behandlungskosten werden Ihnen zu 100% ersetzt, selbst Ihre Krone wird Ihnen nur zum Teil in Rechnung gestellt.“

Der Blick auf die Armen ist fast immer moralisch. Und wenn diese nicht „einsichtig“ sind, sind sie „undankbar“. Nein, nicht alle Dentisten denken so „instinktiv“ ideologisch. Es fahren auch nicht alle Jaguar. Und nicht jeder kennt die Aktienkurse so gut wie die Behandlungstarife. Deswegen hat Cyran tatsächlich ein langes Gespräch mit einem linken Zahnarzt führen können. Aber auch dieser „seltene Vogel“ scheut angesichts der „Oktroyierungsmacht“ (Max Weber) des Syndikats die offene Auseinandersetzung. Paul Lafargue, so das sympathische Pseudonym, das ihm der Autor gibt, kennt die Klassenverachtung vieler Kollegen:

Der Respekt, den der authentische Bourgeois fordert, ist der Respekt, den man ihm zu schulden hat. Er selbst fühlt sich nur dem Respekt gegenüber den anderen respektablen Menschen verpflichtet, seiner Klasse also. Diese Mentalität findet sich vor allem bei den Dentisten..

Und im „Oikos“ (der Praxis) des Unternehmer-Arztes gilt als „Nomos“ das Gesetz der Rentabilität. Paul Lafargue gibt ein Beispiel:

Mit der Collagetechnik könnte man Prothesen dauerhaft ersetzen. Aber ein Komposit wird nur mit 30 bis 80 Euro berechnet. Das bringt dir nichts ein. Verdienen kanns tdu aber an den Prothesen... Ein Prothesenzyklus dauert ungefähr 10 Jahre. Man kann aber nicht x Mal eine Krone aufsetzen. Irgendwann wird dann der Zahn gezogen – und ein Implantat gesetzt. Mit konservierender Behandlung hätte der Zahn aber eine längere Lebensdauer gehabt. In Bezug auf die Kosten und die öffentliche Gesundheit gehen wir völlig auf dem Kopf.

Im Land des Lächelns

Vielleicht ist es ein Trost: Die Reichen und Schönen leiden oft mehr als der dritte und vierte Stand an Zahnweh. Ein anschauliches Beispiel liefert der Spätabsolutismus. Der Sonnenkönig (der eine entsetzliche Zahngeschichte hatte) verhalf dem Dentistenstand zu einem enormen Aufschwung. Mit der neuen Sensibilität der herrschenden Klassen begann Mitte des 18. Jahrhunderts die „Smile Revolution“, inklusive Benutzung von Zahnbürsten aus Schweinehaar, Mundspülungen (auch mit Urin) und Goldblattfüllungen. Und man konsumierte – auch dies zu Distinktionszwecken – Unmengen an (Rohr-)Zucker. Letzteres jedoch mit entsprechenden Folgen. Ironisch könnte man die schmerzhafte und stinkende Zahnfäulnis der Reichen als Rache der kolonialen Sklavenarbeiter bezeichnen. Das Zeitalter der Aufklärung war tatsächlich auch das Zeitalter von Karies. Der arme Voltaire verlor zwischen 1743 und 1753 insgesamt 20 Zähne.

Und dann kam die Revolution. Just während der Einnahme der Bastille durch die „Zahnlosen“ präsentierte der Zahnarzt Nicolas Dubois de Chémant seine Erfindung: ein Gebiss aus Porzellan. Kurze Zeit später veröffentlichte er eine „Dissertation über die Vorteile der neuen nicht zerstörbaren und geruchsfreien Zähne und künstlichen Gebisse“. Ein marktstrategischer Titel. Die damaligen Ersatzzähne aus Pferdezähnen oder Flusspferdelfenbein waren schnell porös, ihre TrägerInnen stanken beim modischen Lächeln erbärmlich aus dem Mund. Die dentale Revolution in der Revolution hatte aber einen gewaltigen, recht nervigen Nachteil: die Porzellangebisse waren ungemein teuer (das machte einigen nichts) und klapperten gewaltig (das war schlimmer). Und so fledderte man denn weiterhin die Leichen der Soldaten auf den Schlachtfeldern, um junge, gesunde Zähne zu gewinnen („Waterloo-Teeth“). Zum Glück war der (technische) Fortschritt nicht aufzuhalten. Die Erfindung der Vulkanisierung im Jahre 1822 ermöglichte individuelle Kautschukprothesen, in die die Porzellanbeißer eingefügt wurden. Und gut 100 Jahre später erblickten die ersten Kunststoffzähne das Licht der Welt ...wenn ihre Besitzer lächelten.

Aber was ist, wenn man nicht lächeln kann oder mag? Cyran begibt sich in die danteske Welt der „Sans Dents“ (wie der Sozialist Hollande sie zu benennen pflegte). Es ist eine Reise, die den Herrschenden die Schamesröte ins Gesicht treiben sollte. Da sind jene Gilets jaunes, denen Polisten die Zähne ausgeschlagen haben. Der Kellner Yann (39 Jahre) hat zum Beispiel mit einem Schlag 19 Zähne verloren:

Mit der Schnauze, die ich heute vorweise, kann ich die Leute nicht mehr bedienen. Um mein Lächeln zurückzugewinnen, hätte ich Zahnarztkosten, die ich mir einfach nicht leisten kann.

„Auf den Boden lächeln“

Der Schauspielerin Sandrine Bonnaire, der ihr Lebensgefährte acht Zähne ausgeschlagen hatte, konnte Zahnarztkunst ihr berühmtes Lächeln zurückgeben. Die Sozialarbeiterin Nordy hatte nicht dieses Chance. Sie ist aufgewachsen in der tiefen Auvergne. Die Eltern waren Kleinbauern, die Mutter hatte drei zusätzliche Minijobs. Nordy hatte als Kind gelbe Zähne, wohl eine „Nebenfolge“ des Medikaments Tetracynin, das ihre Mutter während der Schwangerschaft nahm. Nordy ist begabt, besucht als Interne ein Provinzgymnasium:

Es war verrückt. Die soziale Zugehörigkeit konnte man am Mund ablesen. Die Städter hatten einwandfreie Zähne, und die Jugendlichen vom Land erkannten sich an ihren zerstörten Zähnen und Löchern im Gebiss. Es gab die Lächelnden und die Kopfsenker, die nicht lächelten und sich beim Sprechen die Hand vor den Mund hielten. Ich schrieb damals ein Gedicht: „Auf den Boden lächeln“.

Während des Studiums heiratet Nordy und wird Mutter. Ihr Mann haut ihr nach und nach die meisten Zähne heraus. Sie habe einen Unfall gehabt, erzählt sie den Dentisten. Man will ihr Implantate einsetzen, doch ihr fehlt das nötige Geld. So läuft sie lange Jahre fast zahnlos herum, gewöhnt es sich an, niemals den Mund zu öffnen und muss nach der endlichen Entscheidung für Implantate mühsam lernen, wieder zu lächeln.

Der Biochemiker Abdel hatte wegen einer akuten Parodontitis mit 20 Jahren seine gesamten Backenzähne verloren :

Man hat mir einen endgültigen Apparat eingebaut. Das heißt,, äh... nach 6 Monaten war er hin. Beim Essen lag der ganze Druck auf meinen Schneidezähnen, die sich ihrerseits lösten. Mein Gebiss hatte keinen Halt mehr, rutschte hin und her. Mein Zahnarzt war umgezogen. Die Krankenversicherung weigerte sich, nach so kurzer Zeit schon wieder zu bezahlen. Und da ich kein Geld hatte, blieb ich ein Jahr lang ohne Gebiss. Ich lebte von Suppen und Pürees...

Abel ist bei weitem kein Einzelfall. 10-20% der Bevölkerung leiden an (oft unbemerkter) Parodontitis. Das hat nicht nur genetische, sondern auch soziale Gründe. Abdel resümiert:

Ich brauchte lange, um die Moral der Geschichte zu verstehen. Bei einer Zahnkrankheit ist man immer der Dumme... Du kannst Zeit gewinnen, einige Tage, vielleicht auch Monate, am Ende verlierst du immer. Erst mit 30 ist mir bewusst geworden, dass es niemals aufhören würde.

Das Gebiss zu rekonstruieren, hätte in einem traditionellen Dentistenkabinett 27.000 Euro gekostet. „Dentaltourismus“ nach Ungarn oder in die Türkei kam nicht in Frage. Abdel entdeckte eine zeitgemäßere Behandlungsart. Seitdem im Jahre 2009 die Gesundheitsministerin Sarkozys, Roselyne Bachelot (sie sollte unter Macron Kulturministerin werden), private, aber „nicht-lukrative Gesundheitsprojekte“ ermöglicht hatte, schossen Unternahmen, deren Namen stets mit „Dent“ begann, aus dem neoliberalen Boden. Abdel vertraute sich „Dentexia“ an. Die Firma versprach,

allen Sozialschichten, und vor allem den am wenigstens Vermögenden Zugang zur Zahnbehandlung zu verschaffen, und zwar in für alle zugänglichen Zahngesundheitszentren,und zu moderaten Preisen.

Was Abdel nicht wusste, als er 2013 zum ersten Mal die Räume von Dentexia betrat, um seine Behandlung in Höhe von 10.800 Euro zu beginnen: Der Eigentümer war kein Arzt, sondern ein „Master of business administration“, ein cleverer Ökonom, der als Berater für L'Oréal, als Immobilienagent und als Inhaber einer Filmprodzuktionsfirma Geld gemacht hatte. Cyran kommentiert die Produktionsweise des Unternehmens wie folgt:

Unter dem Dirigentenstab von X... hecheln die Stachanovisten des Behandlungsstuhls unerreichbaren Zielen hinterher, von einem Mund zum anderen. Die Religion der Ziffer vergibt alle Gesten, die Geld bringen, auch das Herausreißen gesunder Zähne und das Einhämmern schlechter Prothesen.

Für Abdel bedeutete dies: 3 Jahre Blutungen, Infektionen, Schwellungen, unerträgliche Schmerzen.

Wenn man psychologisch zerstört ist, so Abdel, haben Sie keine Lust auf Forderungen. Sie wollen sich nur verstecken. Was mir geholfen hat, waren meine rasenden Zahnschmerzen. Ich konnte mich nicht mehr hinlegen. Ich musste etwas tun.

Ein anderes Opfer, Christine, berichtet:

Da sind die schrecklichen Schmerzen. Wenn die Funktion verschwindet, verkümmert das Organ. Wenn Ihr Mund seine Kaufunktion verliert, wird er schwach, die Muskeln ebenfalls. Ich hatte damals ein Gesicht ohne Mund. Alles rutscht hinunter. Dann kommen die Falten um den Mund, das ist verrückt...

Erst die Gründung einer Selbsthilfegruppe befreite Abdel und 3.000 andere Opfer. Es war ein langer, oft demütigender „Kampf der Zahnlosen“ mit den gleichgültigen Behörden, bis Dentexia liquidiert wurde und der Inhaber verhaftet wurde. Den Opfern wurde eine Entschädigung gewährt. Abdels neue Behandlung kostete 20.000 Euro. Er bekam 12.000 Euro erstattet. Immerhin wurde die staatliche Aufsicht über die Dentalzentren verstärkt. Die Firma wurde verkauft. An eine andere Kette.

Dentaler Neofordismus

Das Beispiel zeigt, dass die Zahnbehandlung im Kapitalismus ein neues Stadium erreicht hat. So wie um 1900 die Aktiengesellschaft den paternalistischen Unternehmer ablöste, wird die alte Form der Zahnarztpraxis durch neo-fordistische Großpraxen ersetzt, die sich ,begünstigt durch die Gesetzgebung, als Anbieter von Dienstleistungen „für alle“ vermarkten. „Low cost“ für die Massen, „High profits“ für die Finanziers. Und die „Happy few“ haben weiterhin ihren teuren Hofdentisten.

Die Standesvertretungen sind alarmiert. Ihren Mitgliedern geht es mittelfristig an den (weißen) Kragen. Also kämpfen sie an zwei Fronten für ihre Freiheit: gegen die „Sozialisten“, die für nicht wenige Dentisten links von Lindner/Macron beginnen, und gegen die am Finanzkapital orientierten Dentalfabriken. Den politischen Kampf gewinnen sie mit links, aber gegen die neoliberale Dampfwalze sind sie machtlos. Die oft internationalen Unternehmen bieten „Partnernetzwerke“ an. Ihre Offerten gehen von der „Beratung“ bis zum großzügigen Praxenaufkauf. Geführt werden sie von CEOs, Managing Directors, Chief Operating Officers, Business Managin Directors … und – immer dabei – einem Syndicus. Es ist paradox: die Zahnarzt-Verbände kämpfen gegen ein (Finanz-)System, dem ihre Mitglieder an normalen Tagen ihr eigenes Kapital zwecks Vermehrung anvertrauen. Auf einmal nehmen sie sogar Partei für die „kleinen Leute“, gegen das Kapital.

Dabei sind die Kleinpraxen vom Standpunkt öffentlicher Gesundheit offensichtlich obsolet, wie ein Tante-Emma-Laden. Eine Zahnarz- Assoziative wäre tatsächlich die Lösung. Das setzt aber Zahnärzte voraus, die sich von der bourgeoisen Idee, ihr „eigener Chef“ zu sein, lösen könnten. Paul Lafargues Lösung:

Man muss die Dinge radikal ändern wollen. Dann hat die Erfindungskraft keine Grenzen. Man könnte Zentren für öffentliche Gesundheit schaffen, mit 10, 20 oder 30 Dentisten, die abgestimmt arbeiten, mit einem freien Stuhl für Notfälle, wo jeder im Wechsel arbeitet. Vor allem muss das öffentliche Interesse vor der Rentabilität stehen.

Man darf, man muss träumen. Die schnelle, schmerzlose und für jeden bezahlbare Behandlung durch Experten, das ist jedoch genau der Traum, den die Dentalfabriken „bedienen“, bevor sie ihre „Kunden“ in der tristen Realität allein lassen. Oft mit permanenten Schmerzen, die bei längerer Dauern manchmal zu Suizidgedanken führen.

Am Ende schaut der Autor in die USA. Und wenn deren Gegenwart „unsere“ Zukunft abbildet, sieht es düster aus. 114 Millionen Menschen müssen dort ohne jede Zahnbehandlung auskommen. Darunter sind – wie zu erwarten – viele Afroamerikaner. Noch immer, so Cyran, tragen sie die Spuren der weißen Herrschaft. Washingtons Prothese aus Sklavenzähnen war wahrlich kein Einzelfall. Vielen Sklaven wurden darüber hinaus Schneidezähne herausgerissen, um sie im Falle der Flucht leichter identifizieren zu können.„Teethless“ zu sein. ist immer auch ein Zeichen der Ohnmacht und "rechtfertigt" Demütigungen. Nach der Befreiung ging die Diskriminierung weiter. Es gab Dentisten für Weiße und – wenige – Dentisten für Schwarze. Heute sind die Diskriminierungsmechanismen zumeist subtiler: Einschüchterung, Abwimmeln, überhöhte Behandlungskosten, unzureichende Versicherung, etc. Resultat: 25% aller schwarzen Jugendlichen leiden an unbehandelter Karies.

Auf der anderen Seite ist man von weißem Lächeln umgeben. Die Reichen und Schönen zeigen ihre „Smile power“, ihren sozialen Erfolg. Sie nehmen oft sogar schmerzliche Behandlungen dafür in Kauf, wie einst die Herrschenden des Ancien Régimes. Wie damals gibt es einen Top-Down-Mechanismus: für viele Tätigkeiten gehört ein makelloses weißes Lächeln zum Berufsmerkmal. Die 36 Millionen, die über keinen einzigen Zahn verfügen, sieht man nicht. Von ihrem Leiden will man nichts wissen. Schließlich sind sie für ihr Schicksal selbst verantwortlich.

Man wünscht Olivier Cyrans Buch eine Übersetzung ins Deutsche, vielleicht mit einem Kapitel über deutsche Zahngeschichten. Denn es ist klar und deutlich: Man muss dem Übel an die Wurzel gehen – ganz radikal.

Olivier Cyran, Sur les Dents. Ce qu'ils disent de nous et de la guerre sociale. Paris 2021 (la découverte)

Johannes Krause, Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Berlin 2019 (Propyläen)

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