Schleyer in Prag. Eine Rezension.

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Er ist jung, gerade einmal 26 Jahre alt. Er ist dynamisch und voller Ideale, das heißt, "er gibt sich zeittypisch antisemitisch", wie ein Historiker so niedlich über ihn schreibt. Er ist seit zwei Jahren verheiratet, prominent verheiratet, versteht sich. Er hat sich in seinen bisherigen Aufgaben bewährt, in seiner schlagenden Studentenvereinigung und nach seinem ersten Examen in den Studentenwerken Heidelberg und - nach dem Anschluss 1938 - Innsbruck. Ein SS-Mann zudem, schon seit 1933.

Nun also Prag. Am 1. Mai 1941 tritt Hanns Martin Schleyer seinen Dienst beim Studentwerk der Deutschen und Technischen Universität Prag an. Er will und soll in der Hauptstadt des "Reichsprotektorates Böhmen und Mähren" Karriere machen, wie viele andere seiner "Volksgenossen" auch.

Den Zusammenhang von Besonderem und Allgemeinem darzustellen, hat sich der KONKRET-Autor Erich Später mit seinem neuen Buch "Die Villa Waigner" vorgenommen. Zunächst stellt er in einem kurzen Abschnitt die Vorgeschichte der Besatzung Tschechiens, die Rolle der angeblich "bedrohten" deutschen Minderheit, die Erpressung des tschechischen Staatspräsidenten und schließlich den Einmarsch von 350000 deutschen Soldaten dar, denen - die Weltkriegsstrategie vorwegnehmend - die Sondertruppen von SP und SD folgten.

Faktenreich wird die Okkupationspolitik beschrieben. Der "Reichsprotektor", der als "gemäßigt" geltende von Neurath residiert selbstverständlich auf dem Hradschin. Sein Stellvertreter wird 1941 Reinhard Heydrich, der die Terrorpolitik radikalisiert. Nach seiner Tötung werden als "Vergeltung" sofort 3000 jüdische Bürger deportiert und ermordet. Lidice wird zur traurigen Chiffre deutscher Okkupationspolitik.

Ausführlich beschäftigt sich Später mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Er beschreibt die Phasen der Verfolgung bis zur Vernichtung. Dabei geht er auch auf deren ökonomischen Aspekte ein. Die "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" verwaltet zum 1. Oktober nicht weniger als 14920 Häuser und Wohnungen jüdischer Bürger. Und damit gelangt der Autor wieder zum Besonderen.

Später hat auf der Basis eigener Archivforschung die Geschichte der Villa Waigner erforscht. Sie gehört bis 1940 dem jüdischen Bankdirektor Emil Waigner, dessen Bank für Handel und Industrie ein Objekt der Begierde der Dresdner Bank ist. Die Villa Waigners wird im August 1940 als jüdischer Besitz enteignet. Neuer Bewohner wird der ehrgeizige Professor für Bank- und Kreditrecht Klausing. Prof. Dr. Klausing macht in Prag Karriere und wird im November 1943 sogar Rektor der Reichsuniversität Prag. Er hat aber einen mißratenen Sohn, der in das Attentat des 20. Juli 1944 involviert ist. Aufgrund dieser Schande muss sich Klausing zwangsweise erschießen.

Des einen Pech ... Und jetzt kommt wieder Hanns Martin Schleyer ins Spiel, der mittlerweile den Arbeitgeber gewechselt hat. Wofür hat man Beziehungen? Er wird Referent im Zentralverband der Industrie in Böhmen und Mähren. Und er wird wohnpolitisch Nachfolger Klausings. Am 1. Oktober 1944 bezieht er mit seiner jungen Familie die Villa Waigner. Die Waigners sind damals schon lange tot, ermordet im Konzentrationslager.

Später hat ein außergewöhnlich spannendes Buch geschrieben. Über die Gliederung zu streiten, wäre müßig. Auf den Erkenntniswert kommt es an. Und der ist groß.

Erich Später, Villa Waigner. Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1935 - 45. Hamburg 2009 (konkret texte 50)

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