Spiegelblicke. Die Fremden sind wir.

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"The Orient was almost a European invention" - so lautet die bekannte und überreich belegte Hauptthese in Edward W. Saids "Orientalism" (1978). Der Autor war damit einer der Pioniere, die das 19. Jahrhundert als große Erfindungsmaschine von (Pseudo)Identitäten wie "Volk". "Nation" "Kulturkreis", "Abendland" und "Morgenland" analysierten. Hobsbawm, Anderson und Sand gehören ebenfalls in diese Reihe eminenter Historiker. Selbst die so genannte "Volkstracht" erwies sich als imaginierte Folklore - bis heute, wie die deutsche "Volksmusik", und nicht nur die, zeigt.

Jedoch hat es die selbst waffenlose "Kritik der Waffen" verdammt schwer, was Said im Nachwort (1995) seines Opus magnum resigniert feststellen ließ, noch immer gelte der "epistemological mistake" des Fundamentalismus "to think that 'fundamentals' are ahistorical categories, not subject to and therefore outside the critical scrutiny of true believers." Ein Fundamentalismus, der sich als Bedingung (und erst sekundär als Wirkung) der neueren "Integrationsdebatte" auch für die Bundesrepublik leicht nachweisen lässt. Albrecht von der Lucke stellt in den Blättern 10'10 fest, dass man das "Wir sind das Volk" auf einmal völlig anders verstehen muss. Nicht "wir" haben uns anzupassen", sondern "die Ausländer".

Wir verstört wären diese völkischen Fundamentalisten, wenn sie - was sie kaum tun werden - den in der FR vom 4.10.2010 erschienenen zweiseitigen Artikel des in Münster lehrenden Islamwissenschaftlers Thomas Bauers läsen, der die Essenz seines im nächsten Frühjahr erscheinenden Buches (1) enthält: "Musterschüler, Zauberlehrling. Wieviel Westen steckt im Orient?"

Bauer geht von einer neuen Problemlage aus. Hatten bisher die Kulturwissenschaftler das "Fremde" gegen das "Eigene" verteidigt, gelte es heute umgekehrt - nein, nein, nicht das "Eigene" gegen das "Fremde" - das dem "Eigenen" und dem "Fremden" Gemeinsame zu betonen. Der so genannte Kulturalismus vernachlässige das Übereinstimmende zugunsten kultureller Unterschiede, deren Hauptkriterium - natürlich - die Religion sei. Ich ergänze: erst diese transkulturelle Perspektive erlaubt eine sozialhistorische Untersuchung der Unterschiede - und nimmt unseren völkischen Fundis und deren ahistorischer Islam-Obsession die argumentative Basis.

Bauer zeigt überzeugend die Konsequenzen des Kulturalismus: ist ein Muslim "westlich" verstellt er sich, denn er handelt gegen seine "eigene" Kultur. Nur als dem orientalistischen Bild entsprechender Muslim kommt er zu dem Wesen seiner überhistorischen Kultur. Die historischen Zusammenhänge und Entwicklungslinien werden vernebelt.

Richtig spannend wird es im historischen Teil des Artikels. Bauer stellt das "Gesetz der Asynchronizität" vor. Es handelt sich dabei um eine mir ziemlich fruchtbar erscheinende Weiterentwicklung der Blochschen "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". Der Autor stellt distinktionssoziologisch und leider nur in der Kürze eines Zeitungsartikels dar, wie europäische "Werte und Normen" in den außereuropäischen Ländern nimmer wieder übernommen wurden - zunächst von der höheren Mittelschicht, die sich vom "Westlichsein" Prestigegewinne versprach, und dann - zeitverschoben - von der unteren Mittelschicht, die diese Werte jedoch als "autochton" interpretierte. Bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert muss man jedoch von einer kurzen Halbwertzeit der westlichen Werte ausgehen, was bedeutete - und dies ist entscheidend -, dass sie bei ihrem Ankommen im Großteil der Bevölkerung diese in Europa hoffnungslos veraltet waren. Was wiederum zu den von Said herausgearbeiteten Urteilen der Europäer über den "Orientalen" führte.

Bauer bekräftigt diese These an zwei Beispielen. 1000 Jahre lang war trotz streng formulierten Verbots Homosexualität gängige Praxis. Es gibt einen Fundus hunderttausender (!) homoerotischer Gedichte in der arabischen, osmanischen und persischen Literatur. Ab 1830 verschwanden sie urplötzlich und vollständig. Die Ursache liegt Bauer zufolge in der elitären Übernahme westlicher puritanischer Vorstellungen. Plötzlich erschien die eigene Literatur als dekadent und die "lockere" Moral als ursächlich für die evidente Rückschrittlichkeit der muslimischen Länder.

Heute - das Gesetz der Anchronizität wirkt - sind wir Europäer es, die einen "lockeren" Umgang mit Homosexualität von der islamischen Welt fordern, zu Recht, wie Bauer schreibt. Zu Unrecht aber, wenn wir vergessen, dass die Repression zu Beginn britisches Recht war.

Das zweite Beispiel ist um einiges komplizierter. Der Autor stellt fest, dass die "Ambiguitätstoleranz" (Vieldeutigkeit, traditionelle Meinungspluralität in der Koranauslegung) mittels der Rezeption der europäischen Moderne durch eine "Ambiguitätsvernichtung" abgelöst wurde. Der Europäer will bekanntlich klare Verhältnisse. Er erträgt ein Sowohl als Auch nur schwer. Dies hatte jedoch fatale Folgen. Nach den bekannten europäischen Vorbildern versuchte man zum Beispiel, islamisches Recht zu "kodifizieren".

Bauer bringt in diesem Kontext ein erstaunliches Beispiel. Für 1200 Jahre ist nur eine einzige Steinigung in den islamischen Ländern dokumentiert. Sie fand im Jahre 1670 statt. Der Quellenautor ist über die Strafe moralisch empört. Mit anderen Worten: "Die Steinigung ist ein Modernisierungsphänomen", wie Bauer prägnant formuliert. Und eben nicht archaisch oder mittelalterlich, möchte man ergänzen.

Es scheint so zu sein: Im "rückschrittlichen" Islam erblicken wir "fortschrittlichen" Europäer uns selbst.

Ein schwieriges Feld mit komplizierter Quellenlage, das wohl noch viele Diskussionen auslösen wird. Ich erwarte das Buch mit Ungeduld.

1) Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam (Verlag der Weltreligionen). Erscheint im Frühjahr 2011.

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