Sterben für ein erfundenes Vaterland?

Mythenkritik Das neue Buch Shlomo Sands zeigt, von welchem Nutzen die Historie für eine Politik der Vernunft sein könnte. Dafür muss man sich vom "historischen Recht" lösen können.

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Wie (und warum) wurde Shlomo Sand erfunden? fragt Israel-Flash am 20. 10. 2012 und reiht den streitbaren israelischen Historiker und Citoyen in die Reihe von Renegaten, die von den Feinden so geschätzt werden ein. Ein Kommentator hat einen Vorschlag: Wäre ich Bibi, hätte ich schon lange aus Israel gefeuert und ihm die israelische Staatsbürgerschaft aberkannt. Der Kommentator Broder weiß schon, dass das nächste Werk des Autors, dessen Eltern mit Not den Nazischergen entkamen, "Die Erfindung des Holocaust" heißen wird.

Shlomo Sands "Erfindung des jüdischen Volkes" war 2008 in Israel 12 Wochen auf der Bestsellerliste, das neue Buch immerhin 10 Wochen (1). Es hat dem Autor neben Invektiven auch eine Morddrohung eingebracht.

Die De-Konstruktion nationaler Mythen ist immer noch eine politische Affaire; handelt es sich Israel/Palästina, wird es hochpolitisch. Und auch als Leser spiele man nicht den Unbeteiligten. Liegt der intellektuellen Genugtuung über die Mythenentzauberung wirklich kein Ressentiment zugrunde? Wie geht man damit um, dass der Beifall wieder einmal auch von der falschen Seite und die pauschale Ablehnung wieder einmal auch von der richtigen kommen wird? Aber zum Inhalt.

Mit der "Erfindung des jüdischen Volkes" hatte Sand den Vorwurf provoziert, er negiere das "Land der Vorfahren", die "tausendährigen nationalen Bestrebungen des Judentums" und dessen "historischen Rechte" auf das "Land Israel". Der vorliegende Band über die "Erfindung des Landes Israel" ist daher nur folgerichtig. Es ist allerdings eher ein langer historischer Essay, der nicht ganz die Materialdichte des Vorgängers erreicht, angesichts der Komplexität des Gegenstandes kein Wunder. Kritiker werden darauf verweisen, dass manches nicht neu sei. Aber Bekanntes ist häufig eben nicht erkannt.

Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen... Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit.

Diese bekannten Sätze aus der Unabhängigkeitserklärung von 1948 drücken den Anspruch auf das "historische Recht" des jüdischen Volkes auf das "Land Israel" aus. Ein erfundenes Recht, spitzt Sand zu und belegt dies mittels einer historischen Begriffsanalyse.

Das "Vaterland" ("Mutterland") in der heutigen Bedeutung ist erst gut 200 Jahre alt. Im Altertum bezeichnet zum Beispiel "Patria" (griech. "Patrida") in der Regel das kleine Gebiet, in dem man geboren wird, lebt und stirbt. In Athen bezieht es sich auf die Polis, im Rom des Horaz ("Süß und ehrenvoll ist es für das Vaterland zu sterben") und Cicero auf die oligarchische Res publica. Auch im Mittelalter ist "Patria" Synonym des deutschen Wohlfühlbegriffs "Heimat". Noch 1764 war es für einen Voltaire evident: Je größer das Vaterland wird, desto weniger liebt man es.

Das änderte sich mit den bürgerlichen Revolutionen: Allons Enfants de la Patrie! Im 19. Jahrhundert schließlich erfindet die Geschichte die Vergangenheit des Nationalkörpers, während die Geographie, wie Sand schreibt, den Territorialkörper baut und formt. Mit Anderson verweist er auf die Funktion der modernen Kommunikationsmittel und der ideologischen Staatsapparate bei der Implementierung nationaler "Normalität". Mittlerweile sind jedoch Abnutzungserscheinungen zu beobachten - zumindest in Westeuropa: Verdun, vielleicht das Symbol vaterländischer Dummheit des 20. Jahrhunderts ist heute ein beliebtes Tourismusziel... Die Franzosen, so scheint es, werden nicht mehr für Frankreich sterben, und die Deutschen nicht mehr für Deutschland töten (und umgekehrt).

Mit diesen Sätzen spielt der Autor natürlich auf die Situation in Israel/Palästina an. Und damit betritt er das hochpolitische Gelände. Folgendes Narrativ möchte er de-konstruieren:

Das Land Israel wurde Abraham von Gott versprochen. Bis heute blieben die Juden der ganzen Welt diesem Land verbunden. Nach dem ägyptischen Exil war Moses der "erste Zionist", dem viele folgten. Die Kraft der Juden zeigte sich etwa bei den Makkabäern und den nationalen Aufständen gegen die hellenistischen Unterdrücker und die Römer. Paradigmatisch der Historiker Baer: Das Exil widerspricht der göttlichen Ordnung..., die dem jüdischen Volk seinen natürlichen Ort, das Land Israel, zuwies.

Diesem Verständnis setzt Sand quellenbasierte ideologiekritik entgegen. Er stellt fest: auch der Begriff "Land Israel" mit seinen Konnotationen ist ein modernes Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Zionistische Theoretiker pflanzten eine patriotisches Imaginaire auf theologische Werke, das diesen völlig fremd war. Das heilige Buch wurde in ein nationales Buch transformiert. Das Heilige Land wurde zum Land Israel.

Die "Patria" (im alten Sinn) kommt in den biblischen Texten als "Moledet" vor, nicht aber als "Land Israel". "Land" ist hingegen sehr häufig, z.B. als zu eroberndes Land Kanaan. Auch die zionistischen Referenzautoren der Antike (Philon von Alexandria, Flavius Josephus) identifizieren an keiner Stelle "Heiliges Land" mit dem "irdischen Vaterland" und vertreten eine kosmopolitische Position. Auch die Aufstände in der "Diaspora" hatten, so Sand nie die "Rückkehr" ins Land der Vorväter zum Ziel.

Erst im 2. Jahrhundert n.Chr. wird der Begriff "Land Israel" frequent. Sand vermutet, dies liege an der Umbenennung der Provincia Iudaea in Palestina nach dem Bar-Kohkba-Aufstand (135). In der Mischna findet sich die Formel: Das Land Israel ist das Heiligste unter allen Ländern. Im hegemonialen babylonischen Talmud ist zu lesen: Der Tempel ist größer als das Land Israel, und das Land Israel ist größer als alle anderen Länder. Daraus folge aber kein Rückkehrgebot, vielmehr gelten die drei fundamentalen Gesetze:

Erstens das Verbot, vor der Ankunft des Messias zur heiligen Stätte zu emigrieren, zweitens das Verbot, sich gegen die Völker der Götzenanbeter zu erheben, und drittens der Befehl an diese, das jüdische Leben zu respektieren.

Daran haben sich Sand zufolge die Juden (ich möchte ergänzen: aber nicht alle anderen Völker) mit wenigen Ausnahmen gehalten. Die Beziehung zum Heiligen Land wird mehr und mehr symbolisch. Und so lebten Ende des 18. Jahrhunderts weniger als 5000 Juden in Palästina, die meisten von diesen in Jerusalem. The Jews without European backing sufferend bitterly, schreibt jedoch der Historiker Montefiore in seiner Geschichte Jerusalems.

Ausführlichbeschäftigt sich Sand mit den ideologischen Wegbereitern des "historischen und natürlichen Rechts" auf das "Land Israel" ein, die "christlichen Zionisten". Der Autor analysiert das englische Modell: die unhinterfragbare Wahrhaftigkeit des Alten Testaments, der Gebote Jahwes, des zornigen Gottes, das versprochene Land. Dabei interagieren religiöse und ökonomische Faktoren in "wunderbarer" Weise.

Nach und nach wird der Blick immer stärker auf das reale Land Palästina gelenkt. Sand arbeitet die wichtige Rolle Shaftesburys (angeblich Erfinder der Parole "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land") und Lord Palmerstones heraus, der 1838 ein britisches Konsultat in Jerusalem einrichtet. Das permanente Schwächeln des Osmanischen Reiches verspricht reiche Beute und zukünftige Gewinne. What the English mind surveyed was an imperial domain which by the 1880s had become an unbroken patch of Britis-held territory, from the Mediterranean to India, so Edward Said. Dies alles wird von einem orientalistischen Diskurs begleitet, in dem die arabischen Palestinenser bestenfalls als Staffage auftauchen.

In diesem Kontext sind die Migrationswellen zu interpretieren. 2,5 Millionen Juden müssen aus dem Zarenreich und Rumänien fliehen, was in West- und Mitteleuropa einen (willkommenen) antisemitischen Schub auslöst, auch in England. Die meisten Flüchtlinge orientieren sich in Richtung Vereinigte Staaten, nicht wenige aber auch nach Palästina: Vor Beginn des Ersten Weltkrieges leben dort 80000 Juden, von denen viele aber wieder auswandern.

Bekanntlich kommt es am 2. November 1917 zur entscheidenden "Balfour-Erklärung" an Lord Rothschild: Die Errichtung einer nationalen Heimstätte (national home) für das jüdische Volk in Palästina wird von der Regierung seiner Majestät mit Wohlwollen betrachtet. Sie wird die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern... Ich bitte Sie, diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Konföderation zu bringen.

Sand interpretiert den Text vor dem Hintergrund der Konvergenz dreier "ideologischer und politischer Achsen":

Erstens der Verbindung des christlichen Zionismus mit britischen Kolonialvisionen, zweitens dem tiefen Elend der osteuropäischen Juden angesichts des zunehmenden Antisemitismus und drittens des modernen jüdischen Nationalismus.

Letzterer unterscheide sich diametral vom alten und reformerischen Judaismus. 88 von 90 deutschen Rabbinern unterzeichnen eine Petition gegen den ersten zionistischen Kongress in Basel. Der Wiener Rabbiner und Historiker Güdemann schreibt damals in direkter Auseinandersetzung mit Theodor Herzl: Es wäre ein gr0ßer Irrtum gegen den Geist der Juden und seiner Geschichte, diese Kolonisierung, so schätzenswert sie sein mag, mit nationalen Bestrebungen zu verbinden und darin die Verwirklichung des göttlichen Versprechens zu sehen.

Aber, so Sand, der Zionismus hat das traditionelle Judentum besiegt - mit der schrecklichen Hilfe der Geschichte. Der jüdische Nationalismus übersieht tragischerweise mit wenigen Ausnahmen (Ginsberg, Leibowitz), dass er die Kolonialperspektive des imperialistischen Europäers einnimmt, für den die außereuropäische Welt quasi menschenleer ist. Sand parallelisiert das "historische Recht" auf das "Land Israel" mit anderen damaligen nationalen "Rechtsansprüchen" (Elsass-Lothringen, Südtirol, Istrien, Kosovo... ).

Am Ende des Haupteils legt der Autor dar, wie sich in der Konsequenz der Kriege ab 1948 und dder Staatsideologie des Zionismus das, was er polemisch die "Judaisierung des Landes" nennt, installiert. Er erwähnt aber auch , dass es gleichzeitig gelungen sei, die Holocaust-Überlebenden und einen Großteil der jüdischen Araber zu integrieren. Hier hätte er sich ausführlicher der Frage stellen sollen, ob der von ihm de-konstruierte und entmythologisierte Zionismus historisch eine Zeitlang nicht doch eine positive Funktion gehabt hat. Zudem wäre das Einbeziehen anderer als ideologischer Faktoren in den Gewaltprozess, wie es etwa Christian Gerlach in der Analyse von Massengewalt tut, wünschenswert. Dies würde aber die Grenzen dieses Essays überschreiten.

Einen fatalen Wendepunkt stellt für Sand der Krieg von 1967 dar. Das Land Israel ist jetzt in den Händen des jüdischen Volkes, triumphiert das hegemoniale "Manifest für Groß-Israel". Allerdings fliehen - anders als in den Kriegen zuvor - die Bewohner des Westjordanlands und des Gazastreifens nicht. Sand beschreibt die folgenden Kolonisierungen als strategisch motivierte Landnahme, sich legitimierend durch den terroristischen Widerstand der ersten und zweiten Intifada, auf dessen historische Kontinuität Sand, ebenso wie auf die Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft und Politik stärker hätte eingehen sollen.

Schon im letzten Buch war die Verknüpfung des Politischen und Privaten eine der Stärken des Autors. Das zeigt sich auch hier. Zu Beginn beschreibt er sich als jungen Soldaten bei der Eroberung Jerusalems und im Epilog als Wissenschaftler der Universität Tel Aviv, der feststellt, dass seine Wirkungsstätte auf den vergessenen Resten eines 1948 fluchtartig verlassenen Dorfes steht und mit seinen Mitteln gegen das Vergessen kämpft.

Es bleiben mehrere jeweils historisch begründete Wahrheiten:

Die Wahrheit wohl der Mehrheit der Israelis, sich einem permanenten Verteidigungskrieg im Kampf um ihr "historisches Recht" zu befinden, und

die Wahrheit der (?) arabischen Palästinenser, ein Recht auf nationale Souveränität zu haben, auf dem Territorium, das von vielen Israelis in zionistischer Tradition als "Land Israel" nicht verhandelbar ist.

Sand zeigt in seinem neuen Buch, dass diese Wahrheiten als historisch "erfundene" relativierbar sind. Und gibt damit der Vernunft eine Chance. Die Tragödie hat kein Recht geschaffen, aber eine Realität, sagt er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Es wird Israel und einen Palästinenserstaat geben und eine Konföderation der beiden. Das ist die einzige Überlebenschance für uns. Woher nehmen Sie die Hoffnung? Ich habe nicht das Recht aufzugeben. Meine Eltern gaben nicht einmal 1941 in Lodz auf.

(1) Shlomo Sand, Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit. Berlin 2012 (Propyläen). Ich zitiere nach der französischen Ausgabe, deren Titel mir trefffender erscheint: Shlomo Sand, Comment la Terre d'Israel fut inventée. De la Terre sainte à la mère patrie. Paris2012 (Flammarion)

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