Überall Antisemitismus. Auch in Frankreich.

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Diffamez, Diffamez! Il en restera toujours quelque chose. Irgendetwas wird schon hängen bleiben. Der Satz stammt vom Journalisten Dominique Vidal (1). Er bezieht sich auf die aus seiner Sicht fatalen Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs. Da ist zum Beispiel der linke Radiojournalist Daniel Mermet. Im Jahre 2002 muss er sich gleich zweimal vor Gericht verantworten, weil er in seiner Radiosendung angeblich antisemitische Hörerbotschaften sendete. Er wird freigesprochen, doch er fühlt sich danach als "beschmutzter Mensch" (so der Titel seines Buches). Viele Beispiele könnten genannt werden. Auch die beiden Autoren des im Februar 2011 erschienenen Büchleins "L'antisémitisme partout" (2), das wie ein Kommentar zur kleinen Kampagne wirkt, die die Zeitschrift konkret mit dem aktuellen Heft gegen Moshe Zuckermann führt.

Eric Hazan und Alain Badiou sind - wie ihre Gegner - Autoren von intellektuellem Gewicht. Überhaupt hat die Antisemitismusdebatte in Frankreich ein ganz anderes Niveau als bei uns, was die Sache nicht unbedingt angenehmer, aber geistreicher macht. Auf jeden Fall halten die Autoren die "Antisemitismuswelle" in Frankreich für "virulenter" als in Israel und "sogar" in Deutschland. Die Brutalität der Anklage "tetanisiere" die Angeklagten. Die einzig wirksame Reaktion sei die Attacke. Die ihre besteht vor allem aus folgenden Elementen.

Politische Analyse. Den Autoren zufolge existieren in Frankreich noch immer kleine Gruppen echter Antisemiten und Negationisten (Auschwitzleugner) - auch auf Seiten der extremen Linken übrigens. Daneben konstatieren sie einen "transzendentalen Pétainismus", der die historisch jeweils zuletzt Gekommenen stigmatisiert: im 19. Jahrhundert die Bretonen, nach dem Ersten Weltkrieg die Polen und osteuropäischen Juden, nach dem Zweiten Weltkrieg die Algerier und Marokaner, heute die Flüchtlinge aus Mali und dem Kongo.

Der evidente Judenhass in den Banlieues hat mit dem traditionellen Antisemitismus nichts zu tun. Darin stimmen die Autoren mit Zuckermann, der Ähnliches für die arabischen Gesellschaften postuliert, überein. Es gelingt - so Badiou und Hazan - den jungen Menschen der Vororte nicht, den repressiven vom jüdischen Staat Israel zu "dissoziieren". Dazu trage nicht wenig die offiziöse Meinung in Frankreich bei. Man erinnere sich der politischen Privilegierung der algerischen Juden gegenüber den anderen Kolonisierten im Imperialismus und sehe Kontinuitäten der Ungerechtigkeit. Diese Haltung als Antisemitismus zu bezeichnen, sei Teil einer "Stigmatisierungsoperation". Ob hier eine Verharmlosung (zumindest in Teilen) vorliegt, vermag ich nicht zu beurteilen.

Diskursanalyse. Die Autoren rekonstruieren die argumentativen Ketten, die den Diskurs der "Anti-Antisemiten" konstituieren - und falsifizierungssicher gestalten.

Da ist zunächst die Kette "Antikapitalismus" gleich "Antiamerikanismus" gleich "Antidemokratismus" gleich "Antisemitismus" mit der Variante: "Antiimperialismus" gleich "Antiamerikanismus" gleich "Antikapitalismus" gleich "Antisemitismus". Vereinfacht wird dies zu "Medienkritik" gleich "Antisemitismus".

Am eigenen Beispiel schildert Badiou, wie aus einem auf ehemals linke Politiker gemünzten Bild "Die Ratten verlassen das sinkende Schiff" eine antisemitische Aussage gemacht werden konnte, ausgerechnet, indem Badious Lieblingsautor Sartre zitiert wurde (Der Gebrauch zoologischer Metaphern als "marque du fascisme"). Ein Vorwurf, der etwas zu schnell abgeschüttelt wird, finde ich. Die NS-Verwendung von Tierbildern steht natürlich ihrerseits in einer Kontinuität, die nach 1945 nicht endete. Wie auch immer, ein schwer zu lösendes Problem für alle.

Die Autoren gehen übrigens nicht auf ein konkret-typisches Verfahren: das zustimmende Zitieren durch offensichtliche Israelfeinde als Symptom für Antisemitismus.

Die Ankläger. Badiou und Hazan sprechen von den "neuen Inquisitoren". Und es sind eminente Ankläger und Richter in Personalunion: Lanzmann (der in der konkret-Zuckermann-Diskussion eine Rolle spielen sollte), Finkielkraut, Taguieff, Bernard-Henri Lévy, Glucksmann sind anderen Kalibers als Broder, Gremliza oder Feuerherdt. Zumeist kommen sie von der extremen , oft maoistischen Linken. Und sie zeigen die gleichen Urteilsicherheit wie vor vierzig Jahren, immer noch dieses Entweder-Oder: nun also für den Imperialismus, für die Polizei, für die israelische Regierung, für Abschiebungen - für das Establishment (wie Zuckermann dies noch nennt).

Sie sind immer noch die "Objektiven": Wie die alten Stalinisten feststellen konnten, dass eine bestimmte Musik objektiv imperialistisch war, ... schaffen sie nun den objektiven Antisemitismus, was die interessante Möglichkeit ergibt, fast alles und fast jeden als antisemitisch zu erklären.

Die Autoren sprechen, implizit an Adorno anknüpfend, von einem "sekundären Nationalismus". Die "neuen Inquisitoren" kämpfen mit strukturell ähnlichen Argumenten für Israel, wie sie sich früher für die SU oder die VR China eingesetzt haben. Wer dieses zweite Vaterland kritisiert, hat mit heftigen medialen Angriffen zu rechnen. Auf einen solchen reagierte der Historiker Shlomo Sand in der Monde bitter-verzweifelt: In Israel ist während der stürmsichen Debatte über mein Buch niemals ein solcher Vergleich (Sand als Chemielehrling, der Zyklon B für unschädlich erklärt) gezogen worden. Aber Paris ist nicht Tel-Aviv, In Frankreich ist nichts leichter, als Widersprechende durch Andeuten eines angeblichen Antisemitismus zum Schweigen zu bringen.

Französische Zustände. Mit Jacques Rancière distanzieren sich die Autoren von der Auffassung, dass Rassismus in Frankreich eine "passion populaire" sei. Damit werde der historisch staatliche Rassismus weiß gewaschen. Es seien die Pétainbehörden gewesen, die den Holocaust unterstützten, während auf dem französischen Lande Juden versteckt wurden. Pogrome habe es in Frankreich nicht gegeben. Dieser Buchabschnitt kam mir bei der Lektüre etwas romantisierend vor. Die Tradition Sartres zeigt sich: Das Proletariat ist nicht antisemitisch. Für Nazideutschland zumindest gilt dies so nicht.

Hazan und Badiou zeigen das Heuchlerische einer Politik auf, die sich auf Geheiß Sarkozys der Erinnerungspolitik verschreibt, aber simultan die Banlieues der Verwüstung und ihre Bewohner rassistischen Assoziationen der braven Bürger überlässt: der Machismus, die Homophobie, der Islamismus und - hinzukommend - der Antisemitismus.

Perspektiven. Viele werden - so die Autoren - mundtot gemacht. Wie soll man angesichts der "Infallibilität" der Argumentationsketten "beweisen", dass man kein Antisemit ist? Weder der Hinweis auf jüdische Freunde helfe (im Gegenteil!) noch die eigene jüdische Identität (der "jüdische Selbsthass"!). Juristische Schritte bringen Stigmata mit sich. Es helfe nur der Angriff. Zum Beispiel eine Kampfschrift wie diese.

(1) Dominique Vidal, Le Mal-Etre Juif, Marseille 2003

(2)Alain Badiou/Eric Hazan, L'antisémitisme partout. Aujourd'hui en France, Paris 2011 (la fabrique éditions)

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