Dienstag, 8. Mai 1945. In allen größeren algerischen Städten wird der Tag der Kapitulation mit feierlichen Demonstrationen begangen. So ist es auch im ostalgerischen Sétif geplant. Doch es kommt anders. Ein Zug von etwa 8000 Demonstranten bewegt sich um 9 Uhr aus der „muslimischen Stadt“ in das „europäische“ Zentrum. Sie singen das Lied „Min Djibalina“ („Von unseren Bergen kommt das Lied der Freiheit...“). Ein junger Mann trägt die grün-rote Fahne der Unabhängigkeitsbewegung. Ein Polizist schießt ihn nieder. Kollektive Wut. “Djihad“-Rufe. Außer sich verfolgen Demonstrierende anwesende Franzosen. Es gibt Tote auf beiden Seiten. Erst um 11.30 Uhr ist die Ordnung wieder hergestellt.
Am Nachmittag setzen sich die Unruhen fort. Algerische Bauern und Landarbeiter bewaffnen sich. Sie massakrieren französische Forstbeamte und Siedler. In Guelma ist die muslimische Demonstration verboten worden. Bei der Zeremonie sind die Europäer unter sich, geschützt von Maschinengewehren. Trotzdem dringt eine 2.000-köpfige Menge vor. Die Polizei schießt. Wieder gibt es Tote auf beiden Seiten.
Die Repression der Kolonialmacht ist entsetzlich. Marine, Infanterie, Luftwaffe und Fremdenlegion, aber auch die rechten Milizen der Siedler treten in Aktion. Tausende Algerier werden blindwütig getötet. Es wird massenhaft gefoltert. Nicht wenige Folterer haben ihr Metier im Dienste des Vichy-Regimes gerlernt. Am 15. Mai schließlich erklärt der sozialistische Innenminister die „Wiederherstellung der Ordnung“. Eine Woche später finden Unterwerfungszeremonien statt. Vor der Trikolore knieend, müssen die Algerier erklären: Wir sind Hunde, und Ferhat Abbas ist ein Hund. Abbas, der gemäßigte, Gewalt ablehnende Führer der Unabhängigkeitsbewegung, wird von den Metropolmedien als der Agitator bezeichnet. Hinter ihm stünden viel Geld und Waffen mysteriöser Herkunft. Die kommunistische Humanité sieht gar Faschisten am Werk und fordert strenge Bestrafung. Wer gegen Frankreich ist, kann in dieser Zeit der Befreiung nur Nazi sein. Die traurige Bilanz von Aufstand und Unterdrückung: 102 getötete Europäer und 6.000-8.000 getötete Algerier. Der Innenminister spricht 1945 von 1.500 Toten, die algerischen Nationalisten später gar von 45.000. Auch der Bodycount ist eine Waffe.
Am 13. Mai 1945 beginnt der gerade von einem Aufenthalt in Algier zurückgekehrte Albert Camus im „Combat“ eine Artikelserie zur wirtschaftlichen und sozialen Situation in Algerien. Er beschreibt ein krisengeschütteltes Land. Grundlegende politische und ökonomische Reformen seien notwendig. Im Postscriptum geht er auf Sétif ein, vor allem auf die Hetze gegen Ferhat Abbas, dessen Programm er zu großen Teilen vertritt (mit Ausnahme der Unabhängigkeit). Für die Vorwürfe gebe es keine Beweise. Camus fordert für das arabische Volk die gleichen demokratischen Prinzipien, die wir für uns reklamieren. Im Grunde sei alles eine Frage der Gerechtigkeit. Nur ihre „unendliche Kraft“ könne helfen, Algerien und seine Bewohner zurückzugewinnen. „Justice“ ist das Schlüsselwort Camus' in den nächsten Jahren. Aber schon 1945 ist ihm deutlich, dass die Massaker von Sétif und Guelma bei den Algerienfranzosen ein tiefes Ressentiment und bei den Algeriern (die er weiterhin Araber nennen wird) Angst und Hass erzeugt, besser: verstärkt haben. Es gilt die Ursachen dieser Ressentiments zu bekämpfen, nicht die Menschen. In der veröffentlichten französischen Meinung der Zeit ist er der einzige, der dies formuliert. Vergeblich.
Neun Jahre später beginnt der algerische Unabhängigkeitskrieg. Frankreich hat Marokko und Tunesien die Unabhängigkeit zugesichert, bleibt aber bezüglich Algeriens hart. Am 1. November 1954 benutzt der bis dahin unbekannte „Front de líbération nationale“ den katholischen Feiertag bewusst für Attentate im ganzen Land. Von Kairo aus erklärt „Die Stimme der Araber“: Heute hat Algerien begonnen, ein würdiges und ehrbares Leben zu führen. Heute hat eine mächtige Elite freier Söhne Algeriens den Aufstand der algerischen Freiheit gegen den französischen Imperialismus in Nordafrika begonnen. Der Innenminister François Mitterand skizziert - wie immer - knapp seine Haltung: Meine Politik definiert sich in drei Worten: Willensstärke, Festigkeit, Militärpräsenz. Die nächste Eskalationsstufe ist erreicht.
Gut 10 Jahre nach Sétif kommt es in Ostalgerien zu einer erneuten Gewaltexplosion. Aufgebrachte Fellahs ermorden 123 Menschen, Europäer, aber auch Muslime. Und wieder wird die Repressionsmaschine in Gang gesetzt. In seinem wenige Wochen später geschriebenen „Lettre à un militant algérien“ reflektiert Camus die Massaker: Ich leide an Algerien wie andere an der Lunge leiden. Camus weiß, dass es für beide algerische Gruppen nicht die Chance des Vergessens geben wird. Jetzt sind wir also aufgestellt, die einen gegen die anderen, um uns soviel Leid wie möglich zuzufügen. Dieser Gedanke ist mir unerträglich. Beide Gruppen seien dazu gezwungen, „auf dieser Erde, die die unsere ist“, zusammen zu leben. Und auch die Franzosen haben ein Existenzrecht in Algerien. Camus entzieht sich dem Lagerdenken. Er differenziert, verweist auf die "soziale Frage": Achtzig Prozent der Algerienfranzosen sind keine Siedler, sondern Arbeiter und Händler. Auch sie werden von der Metropole ausgebeutet. Wieder setzt er sich für Reformen ein. Aber dies heute zu sagen, heißt, sich ins „no man's land“ zwischen die Armeen zu begeben und im Kugelhagel zu predigen, dass der Krieg eine Dummheit und das vergossene Blut uns nur einen Schritt weiter in die Geschichte der Barbarei bringt ... Und trotzdem muss man schreien.
Albert Camus weigert sich konsequent, Stellung für den FLN zu beziehen. Im „Express“ schreibt er 1955: Wenn der Unterdrückte im Namen der Gerechtigkeit zu den Waffen greift, ist dies ein weiterer Schritt auf dem Boden der Ungerechtigkeit. In den Räumen des Express diskutiert er mit algerischen Studenten – und enttäuscht diese mit seiner bitteren Ironie. Camus erklärt sich: Man muss sein Lager wählen, schreien sie voller Hass. Ah! Ich habe gewählt! Ich habe mein Land gewählt. Ich habe das Algerien der Gerechtigkeit gewählt, das Land, in dem Franzosen und Araber sich frei assoziieren. Und ich wünsche von Herzen, dass, um die Gerechtigkeit ihrer Sache zu bewahren, die militanten Araber, die Verurteilung der Massaker an Zivilpersonen wählen.
Camus engagiert sich für einen „zivilen Waffenstillstand“, um die Zivilbevölkerung (darunter auch seine Familie) zu schonen. Er fährt nach Algerien, trifft Ferhat Abbas. Am 22. Januar 1956 trägt er in Algier seinen „Appel pour une trêve civile en Algérie“ vor – in einer dramatischen Situation: Während des Vortrags demonstrieren draußen aufgebrachte rechtsextreme Algerienfranzosen. Lautstark fordern sie seinen Tod. Camus ruft – zum wievielten Male? – zum Verschonen der Zivilisten, zur Versöhnung, zum Dialog auf. Blamiert sich sein Denken vor der Wirklichkeit?
Regierungschef Mollet, ein Sozialist, der – traumatisiert durch München 1938 – im arabischen Nationalismus einen neuen Faschismus sieht (wie fast alle linken Politiker und Journalisten der Zeit), stockt das Militärkontingent auf. Es erreicht schließlich 400.000 Mann. Im Dezember 1956 wird Algier dem Fallschirmgeneral Massu zur „Befriedung“ übergeben. Es folgen Attentate, Exekutionen, Massaker, Folter – „Blut und Scheisse“, wie der Foltergeneral Bigeard es in seinem Fachjargon nennt. Über 3.000 Menschen verschwinden. Leichen liegen an den Stränden. Man nennt sie „Crevettes Bigeard“. Mitterand, mittlerweile Justizminister, lehnt innerhalb von 16 Monaten 45 Gnadengesuche algerischer Nationalisten ab. Sie werden guillotiniert.
Camus vermeidet eineinhalb Jahre lang öffentliche Stellungnahmen zu den Ereignissen in Algerien. Freunde berichten, dass er weiterhin die Unabhängigkeit ablehnt. Unerträglich sei ihm, dem algerischen Franzosen, die Vorstellung, mit einem Pass in seine Heimat reisen zu müsssen. Mehrfach äußert er seinen Abscheu vor dem Terror des FLN, der auch für ihn faschistisch ist. Und immer wieder gibt es entsetzliche Massaker. Im Mai 1957 töten FLN-Milizen 374 Bewohner des Dorfes Melouza, weil sie angeblich Anhänger des "Verräters" Messalji Hadj seien. Der FLN verordnet archaische Strafen: für „westliche Verhaltensweisen“. In zweieinhalb Jahren töten die Rebellen 1.035 „Europäer“ und 6.352 Muslime.
Ab 1956 nimmt Sartre Partei für den FLN. 1961, im Vorwort zu Frantz Fanons „Die Verdammten der Erde“, schreibt der Unerbittliche: Es muss getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen mit einem Streich zu treffen, gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten zu vernichten: Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch. Dagegen hat Camus in „L'Homme révolté“ (1951) – im konkreten Bezug auf Sklavenaufstände – das berühmte Ich revoltiere, also sind wir formuliert, aber auch gefragt, ob dieses „Wir sind“ mit der Tötung von Menschen vereinbar sei. Nein, sagt Camus – mit einer Ausnahme: der Revoltierende akzeptiert gleichzeitig seinen eigenen Tod. Francis Jeanson, ein Mitarbeiter Sartres, der später für den FLN in den Untergrund gehen wird, hat damals Camus' Werk scharf kritisiert und den Autor als „schöne Seele“ dargestellt. Schön, aber wirkungslos.
Der Bourgeois Sartre hat allerdings auch nichts zu verlieren. Es spottet sich leicht über den „Striptease des Humanismus“. Der Landarbeitersohn Camus ist viszeral mit seinem mediterranen Algerien verbunden und hat zudem ständige Angst um seine Mutter, die in einem europäischen Volksviertel von Algier lebt. Das Massaker, der Sartresche „Moment des Bumerang, die dritte Phase der Gewalt“, ist für ihn reale Gefahr. Camus schreibt seinen letzten Zeitungsartikel über Algerien im Juni 1956. Er beschränkt sich fortan auf diskrete, aber zahlreiche Interventionen zugunsten verurteilter Algerier. Er trifft sich auch mit dem klandestinen Führer des FLN in Frankreich zu einem Couscous. Beim Abschied sagt er: Mein Haus steht Ihnen offen. Sie finden dort Zuflucht, wann Sie wollen.
Stockholm. 12. Dezember 1957. Camus, der zwei Tage vorher den Nobelpreis empfangen hat, stellt sich den Fragen von Studenten. Die Enge solcher Veranstaltungen ist dem Lungenkranken schon immer unerträglich gewesen. Ein junger Algerier wirft ihm vor, Petitionen für die Unterdrückten in Ungarn unterschrieben zu haben, aber: Seit drei Jahren haben Sie nichts für Algerien getan. Er beendet seine lange Intervention mit den Worten: Algerien wird frei sein! Ein gereizter Camus antwortet, dass er zwar nichts mehr geschrieben, aber dennoch gehandelt habe. Ich war und bin immer noch Anhänger eines gerechten Algerien, in dem die beiden Bevölkerungen in Frieden und in Gleichheit leben können ... Ich kann Sie versichern, dass einige Ihrer Kameraden nur aufgrund von Aktionen, die Sie nicht kennen, noch leben ... Den Terror habe ich immer verurteilt. Ich muss auch den Terrorismus verurteilen, der blind in den Straßen von Algier wütet, zum Beispiel, und der eines Tages meine Mutter oder meine Familie treffen kann. Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber vor der Gerechtigkeit werde ich meine Mutter verteidigen. Der letzte Satz gehört zu den meistzitierten Camus'. Es existiert eine zweite Version: In diesem Augenblick werden Bomben in die Straßenbahnen von Algier geworfen. Meine Mutter kann sich in einem Abteil befinden. Wenn das die Gerechtigkeit sein soll, ziehe ich meine Mutter vor.
In einem Leserbrief an Le Monde erklärt Camus eine Woche später, er fühle sich diesem jungen Algerier (Le Monde hat vorher von einem Vertreter des FLN geschrieben) näher als vielen Franzosen, die über Algerien sprechen, ohne es zu kennen. Aber das Verdikt der Pariser Salons ist gesprochen. Schon die Verleihung des Nobelpreises hat dort Neid und ätzenden Spott hervorgerufen. Kundera erinnert sich, dass Camus als ein Bauer im Sontagsstaat, der zum ersten Mal einen Salon betritt, betrachtet wurde. Simone de Beauvoir urteilt, mit seinem Stockholmer Satz nehme Camus Partei für die rechten Siedler. „Bourgeoisen Humanismus“ nennt sie diese Haltung. Der Gescholtene kehrt in die Einsamkeit des Schriftstellers zurück. 1958 veröffentlicht er noch einmal seine Algerienartikel. In der Einleitung fordert er Frankreich auf die Realitäten anzuerkennen und endlich Reformen durchzuführen. Aber ist die Realität nicht die der Militärs? Ist sie damit nicht irreversibel? Camus erwirbt ein Haus im mediterranen Lourmarin, fern von Paris. Am 4. Januar 1960 verliert er bei einem Autounfall auf der Fahrt nach Paris sein Leben. Am 6. September erscheint das "Manifest der 121": Eine sehr wichtige Bewegung entwickelt sich in Frankreich ... Der Krieg wird gegen Menschen geführt, die der Staat als Franzosen zu betrachten vorgibt, aber sie kämpfen dafür, es nicht mehr zu sein ... Die Sache des algerischen Volkes, die entscheidend zum Zusammenbruch des Kolonialsystems beiträgt, ist die Sache aller freien Menschen. Alle haben unterschrieben: de Beauvoir, Boulez, Duras, Claude Lanzmann, Roy, Robbe-Grillet, Sartre, 'Vidal-Naquet, um nur diese zu nennen. Camus wäre wohl nicht dabei gewesen.
Der Algerienkrieg eskaliert weiter. Frankreich gerät in außen- und wirtschaftspolitische Isolation. Auch unter dem Druck der Militärs erklärt sich de Gaulle im Mai 1958 bereit, die „politische Macht in der Republik anzunehmen“. Schon im Juni fährt er nach Algerien, erklärt den Algerienfranzosen seine Solidarität („Je vous ai compris“ und „Vive l'Algérie française“!), verspricht aber auch den Algeriern gleiche Rechte. Im September wagt er es, in einer Fernsehrede von algerischer „Selbstbestimmung“ zu sprechen, und dies in einer Situation, in der die französische Armee die ALN mit ihrer brutalen Kriegsführung zu besiegen scheint. Umso größer ist die Empörung vieler Algerienfranzosen, die sich verloren fühlen: „Koffer oder Sarg“. Franzosen kämpfen gegen Franzosen, so wie radikale gegen gemäßigte Algerier, es sind die „Kriege im Krieg“ (Benjamin Stora). Trotz militärischer Niederlagen steigt die internationale Anerkennung des FLN. Im Januar 1961 legt de Gaulle der französischen Bevölkerung ein Referendum zur Unabhängigkeit Algeriens vor, das mit großer Mehrheit angenomen wird. Die terroristischen Attentate aller Seiten nehmen zu. Es gibt aber auch riesige Demonstrationen in der Metropole. Am 17. Oktober 1961 erstickt die Polizei eine friedliche Manifestation von Algeriern im Blut. Am 8. Februar 1962 demonstrieren die Gewerkschaften. Auch hier wütet die Polizei. Bei der Beerdigung der Opfer sind 500.000 Menschen anwesend. Für einen Tag wird der Generalstreik ausgerufen. In beiden Fällen ist der Polzeipräfekt ein alter Bekannter: der Vichyst Maurice Papon.
Im März 1962 kann – endlich – auf der Grundlage der Verhandlungen von Evian der Waffenstillstand ausgerufen werden. Er wird mit Terroranschlägen der rechtsextremen OAS beantwortet. Die französischen „Pied noirs“ verlassen fluchtartig das Land. Die algerischen Nationalisten suchen (und brauchen?) Kollaborateure und finden sie in den „Harki“, den algerischen Hilfstruppen Frankreichs. Zehntausende werden getötet. Die Bilanz des Krieges ist niederschmetternd. Die französische Regierung geht 1962 offiziell von 250.000 Toten aus, die FLN von 1 Million für die Sache der Unabhängigkeit gefallenen Märtyrern. Der Historiker Benjamin Stora spricht von einer halben Million Getöteten.
Albert Camus hat die letzten dramatischen Jahre nicht mehr erlebt. Wir wissen also nicht, wie er die Unabhängigkeit Algeriens beurteilt hätte. Der endgültige Verlust seiner Heimat hätte ihn wohl tief getroffen. Die politische Praxis des nun herrschenden FLN hätte ihn in seiner Warnung bestätigt, dass jeder Revolte die Gefahr der Unterdrückung, ja des Terrorismus innewohnt. Der Kampf für die Gerechtigkeit hat eine nicht überschreitbare Grenze: das Leben und die Unversehrtheit jedes Einzelnen. Und schon vermeint man, ihren Hohn zu vernehmen, den der Realisten, der Mächtigen und ihrer Krieger, aber auch den der Ohnmächtigen und ihrer Sprecher.
Der junge Algerier aus Stockholm hat 1957 noch nichts von Camus gelesen. Später, so berichtet er, habe ihn die Lektüre erschüttert. Er fährt nach Lourmarin und legt an Camus' schlichtem, mit Rosmarin bewachsenem Grab Blumen nieder.
Kommentare 54
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Danke! Sie haben sicher gemerkt, dass sich der Text auch ein wenig auf die "schrecklichen Vereinfacher".der heutigen Situation(en) bezieht.
Ja, man sollte Kolonialismus wohl auch differenziert sehen; gegen die schrecklichen Vereinfacher.
Dennoch gern gelesen, Danke! Sind doch "Algerische Skizzen" von Pierre Bourdieu nach wie vor auf meiner "must read" Liste.
Gefällt mir sehr: instruktiv, anregend. Danke. Ich las vor Wochen, dass sich Le Pen gelegentlich auf Albert Camus beziehe, positiv. Das kann doch nicht wahr sein. Wissen Sie etwas darüber?
Schließe mich an, was den Zuspruch angeht - und überhaupt.
Die schrecklichen Vereinfacher… Vieles erinnert an die heutige Lage, oder vielleicht besser: Vieles erinnert daran, wie sehr die Politik von damals nachwirkt.
Dramatische Debatten.
Dieses Sartre Zitat - da friert es einen aber ordentlich. Mir fällt ein, dass ich mal wieder de Beauvoirs "Die Mandarine von Paris" lesen sollte. Da geht es ja auch u. a. um die Machtkämpfe zwischen Sartre und Camus. Die pflanzten sich offensichtlich dann im Algerienkrieg weiter fort. Es gibt eben keine einfachen Wahrheiten.
Früher war er nicht weniger blutig, der Kolonialismus/Imperialismus und seine Folgen. Und die Debatten und erhitzten Auseinandersetzungen im Zentrum der Gewalt nicht weniger moralisch.
Im Januar veröffentlichte die New York Times eine "Tribune" marine Le Pens, in der sie schrieb (schreiben ließ?):
Die Dinge schlecht zu benennen, bedeutet zum Unglück (malheurs, also Plural)der Welt beizutragen. Auch wenn Albert Camus dies gesagt haben sollte , so beschreibt dieser Satz doch erstaunlich gut die Situation, in der sich die aktuelle Regierung Frankreichs befindet.
Natürlich hat Camus dies so nicht gesagt. Er schrieb (wie die nicht wenigen Kundigen in Frankreich sofort herausgefunden haben) in einem Essay von 1944: Ein Objekt schlecht zu benennen, bedeutet, zum Unglück (malheur, also Singular) dieser Welt beizutragen. Ein kleiner feiner Unterschied.
Natürlich ist es andererseits erfreulich, dass eine rechtspopulistische Politikerin Camus zitiert, um sich international als ernsthafte Politikerin zu präsentieren. Auf Sartre würde sich Le Pen wohl kaum beziehen. Das hängt aber auch mit der Instrumentalisierbarkeit des Bildes Camus' als Algerienfranzose zusammen. Der damalige Vorwurf von Simone de Beauvoir z.B. wird einfach positiv gewendet.
Natürlich hat Camus dies so nicht gesagt. Er schrieb (wie die nicht wenigen Kundigen in Frankreich sofort herausgefunden haben) in einem Essay von 1944: Ein Objekt schlecht zu benennen, bedeutet, zum Unglück (malheur, also Singular) dieser Welt beizutragen. Ein kleiner feiner Unterschied.
Das ist ein bisschen sophistisch. Denn abgesehen davon, dass Camus fraglos von der damaligen Welt sprach, trägt es doch zu jeder Zeit zum Unglück der Welt bei, wenn man die Dinge schlecht benennt. Was Frau Le Pen dazu zu sagen hat, ist kaum von Interesse, zumal sie bekanntlich als Meisterin der falschen Benennung gelten kann.
Der Kampf für die Gerechtigkeit hat eine nicht überschreitbare Grenze: das Leben und die Unversehrtheit jedes Einzelnen.
So ist es. Aber das ist auch die Achillesverse jedes Kampfes um Gerechtigkeit (die freilich zu definieren ist). Wer in seinem Kampf das Leben und die Unversehrtheit jedes Einzelnen achtet, muss gewissermaßen mit der angezogenen Handbremse kämpfen. Aber als Moralist hat man dazu keine Alternative. Das ist das Problem.
Zum Sartre-Zitat.
Zur Erklärung ist vielleicht Claude Lanzmann hilfreich, der in seiner Autobiographie schreibt:
ich fühle mich zum Teil für das Vorwort der "Verdammten der Erde" verantwortlich, weil ich die Begegnung zwischen Fanon und Sartre arrangiert habe... Man hat Sartre dieses Vorwort oft zum Vorwurf gemacht. Mein Gefühl beim Wiederlesen nach 45 Jahren sagt mir, dass Sartre beim Schreiben des Textes nicht frei entschieden hat. Ein Zwang hat seine Hand geführt..., und es war wie immer, wenn er eine Arbeit vor sich hatte, die ihre Quelle nicht in ihm selbst hatte, er ließ er sich zum Einfachsten hinreißen: zur Rhetorik. Der Text ist zu lang, emphatisch... Der Aufruf zur Gewalt klingt, übertrieben, wie er ist, falsch. Er will offensichtlich Fanon gefallen, mit Formulierungen wie "die Geduld des Messers" und anderen, die unerträglich exzessiv und unverantwortlich sind, wenn man sie im Licht aller Nächte der langen Messer wiederliest, die das unabhängige Algerien im Blut der Unschuldigen baden. Ich konnte mit Fanon nicht darüber diskutieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob er über dieses Vorwort begeistert war... (Der Hase von Patagonien).
Dagegen hat Camus in „L'Homme révolté“ (1951) – im konkreten Bezug auf Sklavenaufstände – das berühmte Ich revoltiere, also sind wir formuliert, aber auch gefragt,ob dieses „Wir sind“ mit der Tötung von Menschen vereinbar sei. Nein, sagt Camus – mit einer Ausnahme: der Revoltierende akzeptiert gleichzeitig seinen eigenen Tod.
Eine Ausnahme, die Camus heute gewiss nicht mehr machen würde, wenn man nur an sog. Selbstmordattentäter denkt. Aber es war auch damals schon inkonsequent. Denn auch Gewalt gegen sich selbst ist aus moralischer Sicht abzulehnen. Gleichwohl ist der Kampf gegen die Ungerechtigkeit ein Muss und sicherlich - auch - identitätsstiftend. Den Zynismus der Unterdrücker muss man aushalten, was nicht einfach ist, erst recht, wenn sie sich als die eigentlichen Gerechten aufspielen.
Vielen Dank für diesen erhellenden Beitrag, mit Gewinn gelesen!
So sehe ich es auch, Balsamico. Das Beispiel der Selbstmordterroristen ging mir auch durch den Kopf. Camus hält die Fahne des "freien Willens" hoch - und das ist gut so - trotz der Perfektionierung der Manipulationstechniken, auf die er selbst hinweist. Zum Beispiel in seiner Forderung eines kritischen, wahrhaftigen Journalismus (auch unter seinen Résistancekollegen): Ich denke nicht, dass in Kriegszeiten das kapriziöse Verhalten eines Filmstars notwendigerweise interessanter ist als der Schmerz der Völker, das Blut der Armeen oder die Anstrengung einer Nation, ihre Wahrheit zu finden (1944).
Da hat sich nichts geändert.
Also mein Gefühl hat mir soeben mitgeteilt, dass Camus beim Schreiben des Textes nicht frei entschieden hat. Ein Zwang hat seine Hand geführt…auch beim Hochhalten der Fahne des freien Willens.
Und was antworten Sie Ihrem Gefühl?
Ganz dasselbe was auch Lanzmann seinem Gefühl antwortete: für diese interessante Info mein allerherzlichstes Dankeschön. Allerdings antwortet daraufhin mein Gefühl immer noch einmal und sagt: keine Ursache und dann fühle ich mich wieder schlecht.
Solche Debatten wie die zwischen Camus und Sartre bzw. dessen Mitarbeiter haben Bewegung hervorgerufen. Heute ist dies kaum denkbar in dem Wust der Texte, die heute allenthalben produziert werden. Camus' Text wurde in "Moderne Zeiten" verrissen. Manche sagen im Auftrag Sartres, weil er seinen damals jungen Mitarbeiter Jeanson vorgeschickt haben soll. Camus wandte sich von der (marxistischen) Vorstellung ab, die Geschichte verlaufe in Stufen hin zur vollkommenen Gesellschaft. "Der Mensch in der Revolte" spricht wohl eher das sozialdemokratische Denkmodell der Dauerreformierung einer Gesellschaft, weil jegliche Veränderung - auch in Richtung Gleichheit und Gerechtigkeit - wieder neue Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten hervorbringe, die es zu reformieren gelte. Der verärgerte Camus, der der Apologie des Kapitalismus geziehen wurde, fühlte sich missverstanden und absichtsvoll verfälscht: "Ich habe es wirklich langsam ein bisschen satt unablässig Lektionen in Wirksamkeit zu erhalten, und zwar von Kritikern, die ihr Mäntelchen immer nur nach dem Wind gehängt haben." Das Sartre mehrmals in seinem Leben seine grundlegenden Positionen geändert hat, ist nicht von der Hand zu weisen. In seiner darauf folgenden eigenen Antwort kündigte Sartre die Freundschaft mit dem "Konterrevolutionär" Camus auf, nicht ohne den abschätzigen Hinweis auf dessen einfache Herkunft. Camus hat seine formulierte Replik nicht veröffentlicht. Das Tischtuch war für immer zerrissen. Daraus entstanden ist jedoch eine Serie von Büchern und Artikeln, die sich diesem Streit widmeten.
Ein wenig spiegelt das von Ihnen Beschriebene die heutige Situation - retrospekive Spiegelung sozusagen. Sartre und Camus waren beide (Camus mehr als Sartre) Résistants. Sie trennten sich mit dem Kalten Krieg. Sartre, der Compagnon de route der Kommunstischen Partei, nahm rasant und brilliant so manche Kurve auf dem Motorrad der Marke KPF, später der Firma Mao. Camus blieb sich, oft verzweifelnd, treu - und saß schnell zwischen allen Stühlen. Dieser Konflikt zwischen - vereinfacht formuliert - antiimperialistischem Aktionismus und Beharren auf der Dignität jedes Einzelnen setzt sich bis heute fort. Selbst die sozialen Bezüge, hier der Bourgeois, der sich Generosität locker erlauben kann, dort der Arbeitersohn, der Angst um seine Verwandten hat, findet sich wieder. Camus' Haltung ist die schwierigere.
Auch ich finde des Zitat von Sartre bemerkenswert. Man stelle sich das heute einmal vor. Als öffentliche Person wäre man damit abgemeldet - für immer.
Ein lesenswerter und interessanter Beitrag. Ärgerlich finde, dass die Positionen Sartres sehr schematisch und vereinfachend dargestellt werden, so daß für mich der Eindruck entsteht, dass es dem Autor um eine (persönliche) Abrechnung mit "der Linken" geht (v.a. dieser Kommentar). Ich vermute, die Diskussion könnte an diesen Punkt weiter sein (auf die schnelle würde ich diese Darstellung dagegen setzen ->http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/sartre-contra-camus-er-bewunderte-ihn-und-wollte-ihn-verletzen-12644399.html )
Ich will nicht verschweigen dass ich ja zu den "Vereinfachern" ("Polarisierern") gehoere und will anmerken dass ich nachdem ich 35 Jahre in Deutschland gelebt habe und nun bald 16 Jahre in einem ganz anderen Land lebe sagen kann es ist teilweise gar nicht so schwer und man muss es nicht verkomplizieren.
Das deutsche GG (Bj. 1949) wuerde Weltweit komplett ausreichen fuer ein friedliches Zusammenleben, aber es wird noch nicht einmal in Deutschland angewendet. Trotzdem freue ich mich natuerlich wenn geschichtliche Zusammenhaenge und Facetten er- und aufgeklaert werden.
Gruss
Sartre kommt hier etwas schlecht weg, zugegeben. Vor 15 Jahren wäre es (bei mir) wohl umgekehrt gewesen. Der Text ist keine "Abrechnung" mit "der Linken", sondern Teil eines vorsichtiges Befragens auch von gegenwärtigen als "links" geltenden Postionen und Haltungen, zum Beispiel diese schreckliche Unbedingtheit, die schon kurze Zeit später locker wieder relativiert wird (nach wievielen Opfern?). Balsamico hat daraus in einem Kommentar die Konsequenz des "Kampfs mit angezogener Handbremse" gezogen. Und wir dürfen nicht übersehen: historisch kämpft die "Linke" in Rückzugsgefechten.
Sartre lese ich heute immer noch, aber etwas anders. Es gibt ja diesen berühmten Spruch: "Lieber mit Sartre irren, als mit Aron recht haben."
Ich bezweifele, dass dieser vordergründige geschichtspädagogische Betrachtungsweise, die nach einer moralisch überlegenen Position sucht, um schnell gut und böse, richtig und falsch bei der Hand zu haben, nicht sehr weit führt. So zeigt Camus Begegnung mit dem algerischen Studenten mitnichten die moralische Überlegenheit seiner Position. Vielmehr wird ihr scheitern offenbar. Die Geschichte zeigt auch das Scheitern der FLN und von Sartre. Der Wunsch des jungen Algeriers seine Heimat von der brutalen Herrschaft des "Mutterlandes" zu befreien und Sartres Versuch, die Selbstbezogenheit europäischer Linksintellektueller zu überwinden, sind ebenso legitim und moralisch, wie Camus Angst um das Leben seiner Nächsten.
Solange sich die große Mehrheit den Brandstiftern anbiedert, bleibt das Wort Gerechtigkeit eine widerliche Phrase, benutzt von jenen, die ihre Sache voran treiben, egal wie viele Leichen in den Grundfesten verwesen, auf denen die Villa gebaut werden soll.
Eure Ehrfurcht vor den etablierten Bohemiens jener Zeit, die in Paris ihre Eitelkeit auslebten, sie ist ein Teil jener Anbiederung, jener Willigkeit, mit der sich die Menschen in Lager kauern, dort hoffend nicht geopfert, sondern belohnt zu werden.
Camus schrieb grandios, doch er war nicht besser oder schlechter als ein algerischer Bauer, uns sicher auch nicht schlechter als Satre, doch die Pariser Bohemiens ließen ihn stehts ihre Überheblichkeit und Arroganz spüren!
Sein Unfall war nicht zu letzt ein Fanal seiner eigenen Eitelkeit, hätte er den Zug und nicht das Luxusauto eine Freundes benutzt (das Ticket lag schon in seinem Koffer), hätte er vielleicht Satre eines Tages noch in die Fresse hauen können!
So aber endete sein Leben in den Trümmern eine dümmlichen Spielzeugs für eher beschränkte Zeitgenossen.
Wer weiß, vielleicht war es eine Art von Suizid?
Noch einmal aus einer anderen Perspektive: Ich finde viele Sichtweise auf die Unabhängigkeitsbewegung und den Kolonialkrieg, die im Artikel vorgestellt werden, bedenkswerts und relevant für die gegenwärtige polit. Diskussionen. Doch dafür muss ich ihn nicht moralisch überhöhen...
Fini nimmt "wenn" er die Qual der Wahl "haette" natuerlich den Zug.
:-D
So ist das mit Legenden. Sogar der KKB sollte seine schmutzigen Finger im Todesspiel gehabt haben. Nein, es war ein gewöhnlicher Verkehrsunfall. Camus hatte eigentlich den Zug nach Paris nehmen wollen. Der Neffe seines Verlegers überredete ihn, ihn in seinem Sportwagen nach Paris zu begleiten. Und der fuhr das schwer zu steuernde Geschoss (für damalige Verhältnisse) gegen eine Platane.
Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre, soll Freud gesagt haben.
»Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre, soll Freud gesagt haben.«
"Kein Sieger glaubt an den Zufall" soll Nietzsche gesagt haben. Wie Verlierer darüber denken, konnte von Camus nicht in Erfahrung gebracht werden...
Fast ist es schon Normalität, dass Sie besonders erhellende Texte einstellen, Wwalkie.
Ich musste sofort an Olivier Todds Camus- Biografie denken. Er widmete den Auseinandersetzungen rund um die algerische Unabhängigkeit und Camus´ Reaktionen sehr viel Raum. Fast von Tag zu Tag, zitiert er die verschiedenen Forenauftritte, die Zeitungsbeiträge aus L´Express und schließlich die unüberwindlichen Gegensätze, die sich in der französischen Linken und unter den Intellektuellen (paradigmatisch Sartre und Camus) auftaten. Die Herausforderung Camus´ durch die auf Unabhängigkeit pochenden Algerier und ihrer Anhänger, die sich von ihm, zur Zeit seiner größten öffentlichen Beachtung, eher verraten fühlten, war eher schon die Regel, für ihn, den Schriftsteller und bis dahin auch Journalisten, als politische Person, der auf eine illusionäre Friedenslösung setzte.
Interessant, dass Camus selbst, mit "La Chutte"/ "Der Fall", auf seine und Sartres Rolle in der Debatte literarisch reagierte. U.a. für dieses Buch, bekam er den Literaturnobelpreis. - Das knappe Werkchen amalgamiert in seinem Protagonisten, dem Pariser Rechtsanwalt Clamans, der sich nach Amsterdam (Camus war zwei Jahre vorher in die Stadt gereist), in ein anrüchiges Viertel zurückgezogen hat, Charaktereigenschaften und Haltungen der beiden Hauptexponenten im Streit um das Bekenntnis zu Algeriens Unabhängigkeit.
Camus (Clamans) diagnostiziert bei sich, dem Frauenhelden und vollendeten Gourmet (Camus: Essen mit Jean Grenier bei "Lipp", Couscous mit einem Sprecherr der FLN), viel Eitelkeit, den ewigen Blick aus der Ferne und der bürgerlichen Sicherheit, ohne sich je wirklich einzulassen, seinen Zynismus, selbst im Guten, aber vor allem das ständige Entscheidungsdilemma des Intellektuellen und eine Unfähigkeit zu mehr Engagement, obwohl gerade letzteres für ihn und für Sartre, aber auch für viele andere französische Intellektuelle, gewiss nie zutraf. - So setzte sich Camus mehrfach und entschieden für inhaftierte Algerier ein und ist selbstverständlich gegen die Folter. So halfen französische Schriftsteller, sowie ihre Verleger- und Herausgebernetzwerke, an allen Ecken und Enden, die sich nur denken lassen, damit sich die algerische Opposition zur kolonialen Regierung und die Fürsprecher des Befreiungskampfes zu Wort melden konnten.
Ob das heute noch so wäre und so intensiv gepflegt würde, einmal ganz abgesehen davon, wie wenig politisch und offen zugänglich unsere Tages- und Wochenpresse für ausformulierte kontroverse Ansichten ist?
In diesem, einpersonalen, völlig aus der Ich- Perspektive geschriebenen ´Roman´, der viel eher einer reflektierten Selbstanalyse des gut situierten Pariser Intellektuellen gleichkommt, lässt Camus seinen Protagonisten, als “Buss-Richter” im Amsterdamer Hafen- und Hurenviertel, “Mexiko- City”, auftreten, der an praktisch allen Haltungen des aufgeklärten Europäers und der Linken zweifelt.
Wie sich das liest, mag man an zwei längeren Zitaten ahnen:
“(...)Indessen erinnere ich mich an bedenklichere Ausbrüche. Ich begann eine Ode an die Polizei und eine Apologie des Fallbeils zu verfassen. Vor allem machte ich es mir zur Pflicht, mich regelmäßig in bestimmten Kaffeehäusern zu den Zusammenkünften der Zeitgenossen einzufinden, die Menschenliebe auf ihr Panier geschreiben hatten. Mein guter Ruf gewährleistete mir natürlich einen wohlwollenden Empfang. Im Verlauf des Gesprächs ließ ich dann gleichsam unabsichtlich ein unanständiges Wort fallen: <<Gott sei Dank!>>, sagte ich oder ganz einfach <<Mein Gott...>> Sie wissen, was für schüchterne Konfirmanden unsere Biertischatheisten sind.(...)”
“(...) Ich habe einen Mann mit reinem Herzen gekannt, der sich weigerte, den Menschen zu misstrauen. Er war ein Pazifist und Anarchist, seien unteilbare Liebe galt der gesamten Menschheit und der Tierwelt natürlich auch. Ganz fraglos eine erlesene Seele. Nun, während der letzten europäischen Glaubenskriege zog er sich aufs Land zurück. Über der Tür seines Hauses stand zu lesen: << Woher du auch kommen magst, tritt ein und sei willkommen.>> Was glauben Sie, wer dieser hochherzigen Einladung Folge leistete? Ein paar Angehörige der französischen Miliz. Sie traten ein, ohne anzuklopfen und rissen ihm die Gedärme aus dem Leib.(...)”
Beste Grüße und nur weiter
Christoph Leusch
Fini reist nicht, er nimmt weder Zug noch Auto, er ist nicht wo wichtig, als dass er ständig seinen Verweilort über weite Strecken zu verändern hätte.
Heutzutage wäre Camus geflogen - oder hätte den TGV genutzt, da schlicht das luxuriöseste Auto inzwischen als Spiegel der völligen Verblödung seines Nutzers dient.
Der reichte Verlegerfreund hätte ihm vielleicht seinen Privatjet angedient - diese Aluzigarette hätte er dann statt des TGV genommen - die Dinger stürzen jedoch wirklich relativ selten ab (die Privatjets meine ich.....).
Die Idol-Alpah-Plus-Menschen sind keine Erfindung von Huxley, die gibt es wohl seit jenem Moment, da sich die Menschen in größeren Gruppen zusammenrotteten, zu Erhöhung der "Schlagkraft".
Camus war schlicht ein solches Alpa-Plus-Exemplar - ein Idol - die wenigsten talentierten Menschen können sich diesem Saal der Eitelkeit entziehen, vermute ich mal, so die Gesellschaft, das Schicksal, Ihnen die Pforte dorthin öffnet.
Manche kommen tatsächlich wegen ihrer Talente dort hinein, manche haben uns Trost und Halt hinterlassen, Werke an denen wir uns festkalmmern können und die hellen Seiten unseres Intellekts entdecken dürfen, ich würde Camus so sehen, viele kommen jedoch in diese Säale, da sie schlicht verschlagene und zielstrebige Soziopathen sind.
Mein Motto jedoch lautet, niemand ist weniger, niemand ist mehr als ich - für mich ist Gleichheit keine Phrase, sondern ich versuche es zu leben. (Ist einfach, da ich ein asoziales Wesen bin - mehr mit Kräutern, den mit Menschen kommuniziere und interagiere - die Kräuter jedoch massakriere ich, sobald ich Lust dazu habe - tja, Despot und grausam dazu, so bin ich!)
Gut, dass Sie "La chute" ansprechen, lieber Herr Leusch. Darin sieht man sich von Bußrichter Clamans ja selbst auf Schritt und Tritt angesprochen. Ich möchte den von Ihnen zitierten Stellen nur eine weitere hinzufügen, wobei es natürlich besser wäre, die ganze Erzählung zu zitieren:
"Es wollte mir schon immer scheinen, unsere Mitbürger frönten zwei Leidenschaften: den Ideen und der Hurerei. Kunterbunt durcheinander, möchte man sagen. Hüten wir uns übrigens, sie zu verurteilen; sie stehen keineswegs einzig da, in ganz Europa ist man heute so weit. Manchmal suche ich mir vorzustellen, was wohl die künftigen Geschichtsschreiber von uns sagen werden. Ein einziger Satz wird ihnen zur Beschreibung des modernen Menschen genügen: Er hurte und las Zeitungen. Mit welcher bündigen Definition der Gegenstand, wenn ich so sagen darf, erschöpft wäre."
Die marginale Ergänzung, dass inzwischen das Internet an die Stelle der Zeitungen getreten ist, ist geschenkt.
Das ganze Werkchen ist durchzogen von feinen Anspielungen und Zynismen. Camus entfaltet seine Ironie, und sein einziger Protagonist ist so manches Mal ein eher unausstehlicher Selbstbezichtiger, Balsamico. - Gerade auch ihre Stelle zeigt, wie hilflos und verzweifelt Camus mit seiner Haltung blieb.
Allzu viele Freunde und ehemalige Mitstreiter, hatten gar kein Verständnis für seine durchgehaltene Position gegen die Unabhängigkeit. Wiewohl die persönlichen (Mutter) und nationalen Gründe (1,2 Mio Algerienfranzosen) einfühlbar waren und sind.
Zum Ende reduziert er die Rolle des bußpredigenden Intellektuellen auf eine Art, ewige, in der Öffentlichkeit stattfindende Selbstkritik, als Stellvertretung für die Bürger. Gleichzeitig klagt sich für diese nebensächliche Funktion an.
Ganz zum Ende dann, vielleicht mit direktem Blick auf Sartre:
"Stellen Sie sich doch vor, lieber Herr Kollege, man nähme uns beim Wort! Dann müssten wir ja springen! Brr, das Wasser ist so kalt! Aber keine Bange! Jetzt ist es zu spät, es wird immer zu spät sein. Zum Glück!"
Das ist, bei allem Geschick, mit dem der "Bußrichter"/Camus argumentiert, keine sehr linke und keine motivierende Position, die also weder von Sartre, der die Existenz als Freiheit zum Engagement verstand, noch von Fanon, den Wwalkie ebenfalls erwähnt, geteilt wurde. Das Glück des Fatalisten oder seiner fröhlichen Kölner Ausgabe, "Et kütt, wie ´s kütt", war eigentlich nie eine linke Haltung. Vor allem diese kaschierte Misanthropie, sie passt nicht.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Das Glück des Fatalisten oder seiner fröhlichen Kölner Ausgabe, "Et kütt, wie ´s kütt", war eigentlich nie eine linke Haltung.
Ja. Es ist freilich auch weder die Haltung Camus noch die des Bußrichters Clamans.
"Wer weiß, vielleicht war es eine Art von Suizid?"
Eine steile These! Es ist ja sicher nicht ganz einfach, als Beifahrer Selbstmord zu begehen.
(Nebenbei: Jemand, der Sisyphos als "gluecklichen Menschen" erkannt hat, wird wohl kaum sein Leben freiwillig beenden wollen. Und in einem am Baum zerfetzten Auto schon gar nicht!)
Zum Beitrag: Es ist irrefuehrend, die Situation in Algerien mit der von Marokko und Tunesien zu vergleichen. Algerien wurde - im Gegensatz zu M. u.T. - von Frankreich nie als Kolonie (oder Mandatsgebiet) betrachtet, sondern als genuin franzoesisches Gebiet (siehe Departements)!
Die Demonstration am 8/5/45 war von den Behoerden genehmigt worden - unter der Auflage, keine nationalen algerischen Symbole zu zeigen.
Schon am Datum der Demonstration zeigt sich das fuerchterliche Missverstaendnis vieler Algerier (von denen ja gerade tausende im Kampf fuer das besetzte Frankreich gefallen waren). Ihnen schien dieser Tag den Anbruch einer neuen Zeit zu verheissen. Auch aus diesem Grunde erklaert sich die unvorstellbar brutale Reaktion der verunsicherten franzoesischen Behoerden, die - obwohl gerade selbst wieder souveraen - ihren nordafrikanischen Departements keine Souveraenitaet zubilligen wollten.
An anderer Stelle nennt das Clamans stellvertreternd "Asche aufs Haupt" streuen, als letzte Leistung des Intellektuellen. Ich lese den Roman an sehr ehrliche Aussage über Camus und auch Sartres Verunsicherung, den das ganze intellektuelle Engagement für und gegen, von den Franzosen sicher nicht in der Absicht betrieben, die Gewalt zu befördern, endete, auch wegen der vielen Fehleinschätzungen, in extremer Brutalität.
Die Unabhängigkeit abzulehnen, statt den Übergang zu organisieren - warum es nicht möglich war, wäre eine eigene Geschichte - war aber die wichtigste Eskalationsursache.
Beste Grüße
Christoph Leusch
So wie überliefert, wußte Camus von Gallimards Hang zu leitsinniger Raserei. Camus selbst war bezüglich Automobilen kein Narr!
Der Facel Vega war ein Spielzeug für eitle Angeber!
Der Schriftsteller und Philosoph Camus ist für mich nicht der eitle Mensch Camus - natürlich ist es eine steile These.......
Es stimmt natürlich, dass die französischen Behörden - auch aufgrund der Einteilung Algeriens in (doch) französische Départements - sich in der Illusion befanden, Algerien sei keine Kolonie. Das war - und ist - historisch ein folgenschweres "Malentendu". Schon 1936, zur Zeit des Front populaire, hatte Léon Blum seinen Algerienbeauftragen Maurice Viollette gewarnt: Passen Sie auf! Die indigenen Algerier haben noch kein Vaterland. Sie suchen aber eines. Geben Sie es ihnen schnell, sonst machen sie ein anderes daraus. Auch für Camus war schon vor dem 2. Weltkrieg der koloniale Charakter klar. Er setzte sich in der kommunistschen Partei Algeriens für Gleichberechtigung ein - und wurde ausgeschlossen.
Jede nach 1945 versuchte Reform scheiterte am Widerstand der Siedler (eine gewisse Analogie zum Widerstand der Plantagenbesitzer gegen die Sklavenbefreiung während der Franz. Revolution). Beispiel: 1947 wurden gleichberechtigte Parlamente für beide zahlenmäßig allerdings unterschiedene Bevölkerungsgruppen eingeführt. Im "Collège" der Algerienfranzosen siegte die erwartungsgemäß Rechte. Im "Collège" der Algerier siegten eben nich, wie ebenfalls zu erwarten, die algerischen Nationalisten (dank Wahlfälschungen! Das ist gut untersucht). 1951 griff "man" wieder zu diesem bewährten Mittel.
Zu den Demonstrationen des 8. Mai 1945, von denen es viele in Algerien gab. Die muslimische Demonstration war - nach vielen Verhandlungen - unter Auflagen genehmigt worden (keine antikolonialistischen Symbole und Parolen), die von Guelma nicht. Ein Problem war die kolonialistische Struktur der algerischen Städte, eine Struktur der Segregation. Die Algerier mussten sich aus ihren Cités in das französische Zentrum bewegen. In Guelma wurden sie mit gut postierten Maschinengewehren konfrontiert.
Natuerlich betraf mein Hinweis nur die juristische Position, die sich (weil Sie es erwaehnten) grundlegend von der Tunesiens/Marokkos unterschied. Und diese willkuerliche Einverleibung rechtfertigt keineswegs die Kolonisierung! Ich denke, Sie haben es auch so verstanden.
18 Jahre nach der (Teil-) Eroberung des Landes wurde Algerien so 1848 durch franzoesische Deklaration intergraler Bestandteil Frankreichs. Der Widerstand war da ja schon - unter der Fuehrung des genialen Emir Abd el-Kader (Sie werden es wissen) im Gange. Dieser "meilleur ennemi de la Françe" ist auch deswegen eine der bedeutendsten politischen Figuren der algerischen Geschichte.
Die wesentliche Problematik, vor der de Gaulle nach dem Krieg stand, war das volle Wahlrecht fuer Algerier, welches ihnen auf Dauer nicht verwehrt werden konnte. Das haette aber die Nationalversammlung erheblich veraendert. Hier liegt auch der Grund fuer die "Doppelzuengigkeit" des Praesidenten bei seiner beruehmten Ansprache in Algier.
(Nebenbei: Ich habe das grosse Glueck, dieses wunderbare Land durch eigenes Erleben intensiv zu kennen.)
Es ist Ihr unbezweifeltes Recht, Sportwagen nicht zu moegen. Sie sollten dann aber Ihre Aversion nicht gerade dann "personalisieren", wenn es um Camus (von dem Sie nicht unbedingt viel verstanden haben) und seinen tragischen Tod geht!
Na, da scheinen Sie von meinen Einlassungen nun wirklich gar nichts verstanden zu haben. (Aber Sie wissen wie ich das Werk von Camus reflektiere - sie sind mir schon ein schlauer Artgenosse.....) sein Tod war nicht tragisch, das war schlicht das Ende einer wilden Raserei.
Tragisch ist, dass Ihresgleichen nichts kapiert!
Sartre ist nie selbst gesprungen, er hat das kalte Wasser (- ob Moskauer Schauprozesse oder die RAF-Mörder) nur von seiner hohen Warte her gepriesen. Ja, die linken Mandarine.
Ich glaube, Nordlicht, da wissen Sie einfach zu wenig. Das ist nicht schlimm, denn der Anspruch alles zu wissen und bemeinen zu können, steckt in jedem von uns.
Sartre und Camus, aber auch Foucault und Derrida, ebenso wie eher konservative Intellektuelle, z.B. Raymond Aron, engagierten sich, weit über ihre schriftstellerische oder akademische Tätigkeit oder über pure Solidarisierungskampagnen hinaus, einschließlich Spenden, Geldgeschenken und aktiver Unterstützung bei der Herstellung von Öffentlichkeit.
So taten sich z.B. Aron und Sartre zusammen, als es in den späten 1970er Jahren um die Aufnahme vietnamesischer, meist antikommunistischer, Flüchtlinge ging. Foucault setzte sich für gewöhnliche Gefängnisinsassen ein, pp..
Ich persönlich denke, dass genau hier auch ein großer Unterschied zwischen deutschen Intellektuellen und Künstlern, sowie ihren französischen und britischen Pendants besteht. Völlig unabhängig von der Wertorientierung, kann man das z.B. bei unserem Nachbarn bezüglich des Einsatzes für die "Sans-papiers" beobachten.
Interessant ist übrigens auch, dass deren Engagement die Kirchen nicht ausschließt.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Sehr freundlich, Columbus, Ihre Nachsicht und Teilhabe an Ihrer Meinung zu Sartres div. Haltungen.
Meine Meinung zu den politischen Urteilen Sartres hatte sie oben im Hinblick auf seine Begeisterung für gewalttätiges Handeln von Helden wie Stalin und der RAF geäussert; politische motivierte Brutalität scheint ihn so stark fasziniert zu haben, dass er dabei die Menschlichkeit vergass.
Stalin samt Schauprozesse bejubeln, das taten in den Dreissigern und Vierzigern mehrere "Mandarine", was Sartre in meinen Augen ehrte war, dass er sich nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes gegen die sowjetische Darstellung gewandt hatte.
Als er sich von der RAF mit dem "Folter"-Bewertung instumentalisieren liess, sank meine vorherige Hochachtung für den Dichter und Philosophen auf Null.
Lässt sich von den Unterstützern des A..loch Baader und der anderen Mörder zu Urteilen wie "Folter" etc. überreden, ohne etwas genaueres zu wissen. Solche Sprüche haben der Gewaltszene sehr geholfen.
Für mich und andere Studenten war er damals (1974) ein übler Schreibtischtäter geworden. Die meisten aus der sozialwissenschaftlichen Fakultät haben ihn und "Helden" wie Mao, manche auch später Pol Pot (- bekanntlich ein früherer Mitarbeiter Stratres) weiter bewundert.
Freundlichen Gruss
Petersen
Sie können doch, wie ich, meinen was Sie wollen.
Hier geht es aber um ihren Vorwurf, Sartre u.a. öffentliche, (linke) Intellektuelle hätten sich nicht nassgemacht, sich nicht aktiv engagiert, nur immer geredet.
Das ist, besonders mit Bezug auf französische Intellektuelle, egal wo diese politisch zu verorten sind, sehr häufig völlig falsch.
Der Rest ist mir ziemlich egal, weil ich es mittlerweile gut verstanden habe, dass Diskutanten in Foren sich nicht in ihrer Meinung beeinflussen, höchstens bestätigen lassen wollen. "Einen Voltaire verhaftet man nicht", sagte einst DeGaulle und meinte damit Sartre. Warum wohl?
Damit sind die Unterschiede der Erfassung von Gegenmeinungen und Gegenpositionen, hierzulande und bei unseren besten Nachbarn, die derzeit wieder einem ganz anderen Druck ausgesetzt sind, doch bestens beschrieben.
Bei einem Teil unserer Mitbürger und auch einigen Foristen der dFC, kommt ja schnell und mit erstaunlicher Sicherheit ein Vorschlag, welche "Verbrecher" sie verhaften und haftbar machen wollen. - Ich habe von dieser Gesinnung, solange ich denken kann, die Nase voll.
Nun noch zur ideologischen Ausschlachtung berühmter Intellektueller, Künstler und Schriftsteller: Noch immer hält sich die Mär, die Nazis hätten Friedrich Nietzsches Philosophie in eine schreckliche Realität gebracht. Noch immer glauben Millionen Menschen, der Existenzialismus sei eine Form des Nihilismus. Genauso hat Sartre, mit seinem eindeutigen Vorwort zu Franz Fanons "Verdammten der Erde" nicht willkürliche und terroristische Gewalt grundsätzlich befürwortet, sondern sehr treffend die Situation gekennzeichnet, aus der es ohne Gewalt keinen Ausweg gab, außer vielleicht das Mittel der Flucht. Sklaven befreien sich nicht aus ihrem Zustand, wenn sie bei ihrer Sklavenmoral bleiben, sondern nur dann, wenn sie die Herrenmoral gegen die Herren anwenden. Diese Empfehlung gilt auch heute.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Ich stimme Ihren Bemerkungen ausdruecklich zu!
Besonders der Passus:"...weil ich es mittlerweile gut verstanden habe, dass Diskutanten in Foren sich nicht in ihrer Meinung beeinflussen, höchstens bestätigen lassen wollen." entspricht leider der Realitaet.
Die franzoesischen Debatten sind traditionell erheblicher lebhafter - leider aber auch oft erbittert. Dennoch ist ihr Niveau immer noch ueberwiegend deutlich hoeher.
Schlimm wird es nur dort, wo Salon-Philosophen ihren direkten Zugang zur politischen Fuehrung missbrauchen. Beispiel: BHL, der seinerzeit Sarkozy - mit den bekannt schlimmen Folgen (Libyen) - innerhalb weniger Stunden in der Tasche hatte (was freilich nur gelang, weil der Praesident bereits aehnliche Plaene hegte!). Aber auch hier werden die Hintergruende - und damit die Verantwortlichen - auf Dauer nicht nur von der Geschichte verurteilt sein.
Sie antworten auf meine Kritik an S.´ Nähe zu Terror und Gewalt in Begriffen und Äusserungen mit dem Verweis auf das höhere intellektuelle Nievau der französischen Intellektuellen und deren Engagement z. B. für "sans-papiers".
Das wird alles zutreffen, was sie sagen, allerdings trifft das nicht meinen Punkt. Was mich zu der Zeit, in den 70ern, getroffen hat war der Flirt von Intellektuellen mit dem RAF-Terror, konkret in der Bundesrepublik. Dass Sartre jemanden wie Baader durch seinen Besuch adelt und dann die der Rekrutierung dienende Mär Isolierfolter in die Mikrophone spricht - ohne von der Zellenausstattung mit Radio und TV zu wissen, oder die Tagesabläufe noch die regelmässigen Treffen, das hat mich damals schockiert. Im Licht der Aufmerksamkeit stehen die Täter, nicht die Opfer.
Nun, letztlich ist jeder selbst verantwortlich; wer sich von "Mandarinen" anregen liess, sich in die Gewaltspirale zu begeben, um Revolution in Europa zu spielen, kann aus dem gedruckten Papier keine mildernden Umstände ableiten.
Insofern bleibt das Wort das Wort und ist nicht schuldig für die - teilweise blutige - Tat. Oder?
Freundlichen Gruss
Petersen
Das ist, Herr Petersen, so nicht richtig.
Sartre hatte sich, gerichtet an die Weltöffentlichkeit (Pressekonferenz, Artikel), schon vor dem Treffen entschieden gegen die Terrorakte der RAF ausgesprochen und diese Haltung nochmals, direkt im Nachgang, im Rahmen seines Berichtes zu dem Gespräch - das übrigens chaotisch verlief, weil Baader kein Französich sprach, Sartre wenig Deutsch und der Dolmetscher Daniel Cohn- Bendit keinen Zugang erhielt - geschildert.
Baader sei enttäuscht gewesen, keine ideologische Unterstützung bekommen zu haben. - Die Übersetzung oder Teile davon, wurden damals auch in der deutschen Presse, z.B. SPIEGEL, zitiert. Daraus, wie aus Veröffentlichungen in der Liberation, pp., vor dem Besuch, geht hervor, dass Sartre sich keinesfalls zum Verteidiger der Taten der RAF machte.
Was allerdings zutrifft: Der Philosoph fiel auf die These Baader- Ensslins und einiger Anwälte von der "Isolationsfolter" herein.
Beim Interview saß er mit Baader in einer normalen Einzelzelle des Stammheimer Gefängnisses und eben nicht auf Stockwerk 7. Dort hatten die RAF- Leute erhebliche Hafterleichterungen und unterhielten eine Art Wohngruppe. - Sehr interessant übrigens, dass die damaligen Haftbedingungen, kurz vorher, vor der Zusammenlegung, waren sie noch andere, sowohl von den Staatsstellen, wie auch vom Umfeld der Terroristen und ihren Anwälten, in der Öffentlichkeit nicht korrekt vorgestellt wurden.
Zum Zeitpunkt des Interviews mit Baader, konnte weder ein deutscher Bürger, noch ein franzöischer Bürger etwas über die tatsächlichen Haftbedingungen wissen, die von beiden Seiten, Staat und Terroristen- Umfeld, sowie von der Presse, ausgemalt wurden. Sie also auch nicht, selbst wenn ihre Erinnerung ihnen anderes vorgaukeln sollte.
Es ging, das geht aus Sartres Veröffentlichungen klar hervor, in der aufgeheizten Atmosphäre der Zeit, vor allem um die Haftbedingungen und mögliche Folter.
Ich würde sagen, die Fehleinschätzungen Sartres, stellen eher e lässliche Sünden dar und rechtfertigen keinesfalls ein Verdikt. "Les Mandarins" sind viel weniger skrupellos, als es ihnen untergeschoben wird und sie treten mit Schuldgefühlen an, weil sie in entscheidenden Momenten der Geschichte eben nicht entschieden genug aufraten.
Sie müssen bei allem Engagement der französischen Nachkriegs- Intellektuellen, auch außerhalb ihrer Gesellschaft, beachten, wie sehr dieses sich wünschten, nicht erneut den Verrat der Intellektuellen zu begehen, wie ihn Julien Benda, mit Bezug auf den hetzenden europäischen Nationalismus des späten 19.Jhs und der ersten Jahrzehnte des 20. Jhs., 1927, und dann in Neuauflage 1947, bitter beklagte (Im Original: La Trahison des clercs).
Beste Grüße
Christoph Leusch
Kleine Anekdote:
..."Warum der Streit über die Frage, ob in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 Mord oder Selbstmord begangen wurde, Jahrzehnte hat überdauern können, ist vermutlich einem bestimmten Umstand zu verdanken. Angesichts der in Stammheim geübten Abhörpraxis darf gemutmaßt werden, dass sich der Staat nur deshalb so schwer getan hat und noch immer tut, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften, weil er damit möglicherweise ein doppeltes Vergehen einräumen müsste – zum einen die Zellen der im 7. Stock untergebrachten RAF-Gefangenen abgehört zu haben und zum anderen nicht eingeschritten zu sein, um das, was als "suicide action" längst angekündigt war, noch in letzter Minute zu verhindern"...
Gruesse von Schily, Croissont, Mahler, etc. etc. etc. etc.
Quelle:
http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/geschichte-der-raf/49223/mythen-der-raf?p=all
UUUPPS...
P.S. Als Mainzer muesste man den Holger Meins noch gut im Kopf haben, das war schon eine astreine Sache, ich kann mich an die Demo's noch sehr gut erinnern, auch wenn ich ein wenig klein war...
:-(
Gruss
Ok. Ich hatte mein Gedächtnis zur Rekonstruktion der Stimmung, der Zeitungsmeldungen u. a. bemüht. Was Sie aus Dokumenten zitieren, wird sicherlich richtig sein.
Die Diskussionen im Club Voltaire waren aufgeladen (- auch in Hannover gab es einen), und bei der Mischung aus akad. Nachwuchs und Aktionsbegierigkeit hatten grundlegende Absagen an Gewalt keine guten Stand.
Aber glücklicherweise blieben die meisten Revoluzzer auf der verbalen Ebene. (Damals war´s, vor 40 bis 50 Jahren ...)
MG Petersen
Ich gehöre zu denjenigen, die mit ein wenig Neid nach Frankreich schauen, Roger Tecumseh. Dort ist der engagierte Intellektuelle, Schriftsteller oder Künstler noch nicht ganz ein Einzelkämpfer und Außenseiter oder aber einer, der sich über Stiftungen und Hilfekampagnen ein persönliches Image aufbaut. - Vor allem stehen nicht nur die sprichwörtlich populären Unterhaltungsstars für Initiativen ein, sondern es ist eine Mischung aus Universitätsangehörigen, von Schulen, Gewerkschaftern, aus Parteien, aus Kunst und Literatur, von NGOs, die ihre "Projets" wirklich ernst nehmen und langfristig am Ball bleiben.
Wie Sie es schreiben: Selbst die öffentlichen Debatten im allgemeinen Programm haben eine andere intellektuelle Qualität. Aber es gibt ja ein paar kleine Möglichkeiten, meist am späten Abend, kurz einmal hineinzublicken, in den andere Diskussionskultur, die nicht weniger hart ist, aber doch meist differenzierter zelebriert wird.
Letztlich haben aber die Einflussmöglichkeiten aller Wissenschaftler und Kulturschaffenden in den westlichen Gesellschaften und in den Transformationsländern massiv abgenommen, vergleicht man das mit dem eher stillen, kontinuierlichen und wirkungsvollen, verdeckten Einfluss der Wirtschaft, besonders der Finanz- und Anlegerwirtschaft.
Ausnahmen kommen aus dem Starsystem nach dem Muster der USA und aus der internationalen Populärkultur. Die sind aber auch mit den negativen Folgen belastet, dass ihre Aktionen und Bündnisse oft nur kurzfristig zustande kommen und die Differenzierung der Debatte ausbleibt.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Kleine Ergänzung aus aktuellem Anlass.
Heute,am 8. Mai 2019, begeht das politische Frankreich den Tag der Kapitulation Nazideutschlands, den Tag der Befreiung. Camus war einer der ersten Journalisten, der auf das Massaker von Setif hinwies, das am selben Tag begann und mit dem Tod von bis zu 10000 Algeriern endete. Erwähnt wird es bis heute kaum. Passt auch nicht in die Inszenierung militärischer Wellness.
Traditionell begrüßt der französische Präsident bei der Feier vor dem Triumphbogen ausgesuchte "Anciens Combattants", so auch heute. Das Problem: Die allermeisten Anciens Combattants aus der Zeit der Befreiung leben nicht mehr. Man greift also auf Kämpfer neuerer Kriege zurück, Kombattanten der Kolonialkriege, wahrscheinlich auch aus dem algerischen.
Alles kein Problem?
erst heute habe ich Ihren damaligen, schönen beitrag
und die anschließende ernsthafte erörterung gelesen.
zweifellos ist die dürftigkeit des öffentlichen bewußtsein für europas geschichte
der boden-lose grund für zerr-bilder und geschönte selfies.
wiki:-->massaker von sétif.