Unersättlichkeit

Ökonomie im Roman In seinem letzten Buch untersucht der linke Ökonom Bernard Maris das Ökonomische im Werk Houellebecqs.

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Nehmt doch einmal euren Mut zusammen und schaut euch an, wer ihr seid: kleine wohlgenährte Sklaven. Schaut euch doch einmal die Ruinen an, zu der euch euer Wettlauf gemacht hat. Als Konkurrenten stürzt ihr euch die Felsen hinunter. Habt doch einmal den Mut, euren kollektiven Suizid zu sehen.

Sicherlich - solche Sätze schockieren heute kaum noch. Es sei denn, sie stammen von einem Wirtschatswissenschaftler. Keinem deutschen, natürlich nicht, denn die denken fast immer positiv. Ihr Verfasser ist Bernard Maris, einer der (nicht wenigen) kapitalismuskritischen französischen Ökonomen. Maris war zudem Berater der Partei "Les Verts", Romancier, Journalist. Am 7. Januar fiel "Oncle Bernard" dem brutalen Anschlag auf Charlie Hebdo zum Opfer. Und so wird dieses Besprechung seines Buches über einen Autor gleichzeitig eine Art Abschied von einem Autor.

Bernard Maris nimmt auch in seinem letzten Buch keine Rücksicht auf seine Zunft:

Ein Wirtschaftswissenschaftler, das ist jener Typ, der immer in der Lage ist, ex post zu erklären, warum er sich schon wieder geirrt hat.

Und:

Um das Leben zu verstehen, treiben die Ökonomen diesem ständig das Salz aus, die Liebe, das Begehren, die Gewalt, den Schrecken - und dies alles im Namen der Verhaltensrationalität.

Oder:

Sie verstehen nichts? Seien Sie beruhigt: es gibt nichts zu verstehen. Dass ein internationaler Preis, den man Nobelpreis nennt, für mit Gleichungen garniertes Geschwätz von Schimärenforschern verliehen wird, wird uns eines Tages so merkwürdig vorkommen wie der Eintrag des Rekordes im Bierdosenöffnen mit den Zähnen in einem in zweihundert Sprachen veröffentlichten Bestseller.

Es nimmt also nicht wunder, dass Bernard Maris für das http://media.rtl.fr/cache/MAzYnzcIAKEWdPTf052JnQ/795x530-2/online/image/2015/0108/7776145207_michel-houellebecq-devait-etre-l-invite-du-canal-ce-jeudi-8-janvier.jpgVerstehen des Lebens andere Quellen vorzieht. Die Kunst zum Beispiel, genauer: die Romane und die Gedichte Michel Houellebcqs. Dieser, so Maris, zeige uns, dass der Klebstoff, der unsere Schritte bremst, uns weich, traurig oder zu Widerlingen macht, die Wirtschaft ist. Houellebecq verarbeite und zerstöre das ökonomische Denken der Gegenwart mit literarischen Mitteln. Man könnte erweitern: So "wie die Parole "Enrichissez-vous" die Figuren Balzacs zum Tanzen bringt" (Adorno), zwingt die scheinbare Naturwüchsigkeit neoliberaler Ideologeme die Protagonisten Houellebecqs in die Depression und die Menschheit in den möglichen Untergang.

Im gesamten literarischen Werk Houellebecqs finden sich Stege zu den herrschenden Ökonomen. Viele seiner Figuren sind Kopien von Alfred Marshalls utilitaristischen Individuen, die nach dem "banalen" (Maris) Gesetz von Angebot und Nachfrage agieren. "There is not such a thing like a society", dekretierte Thatcher. Entsprechend gibt es keine Klassenkulturen mehr. Alles Kollektive ist oder wird gebrochen. Übrig bleiben Hass, Eitelkeit, Begehren. Letzteres wird - als Gegensatz zum autonomen oder kollektiven Genießen - von der Ökonomie permanent angeheizt. Und so sind die Houellebecqschen Figuren zutiefst unbefriedigt und unglücklich. Der schamlose alte Sexualtourist weint bittere Tränen - und kann wie sein Opfer doch der eisernen Moral der Ökonomen nicht entgehen:

Du sollst rational nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül handeln. Du sollst das Geld lieben. Du sollst dein Leben monetarisieren.

Houellebecq bezieht sich explizit auf Schumpeters Theorem der "schöpferischen Zerstörung". Die Angestellten (Proletarier kommen bei ihm weniger vor) zerstören und werden zerstört. In Unternehmerkreisen, so wiederum Maris, teilt man die Menschen in "Risikophile" und "Risikophobe" ein. Bruno, der Held der "Elementarteilchen", hat diese Angst internalisiert. Er lebt in ständiger Unsicherheit von Arbeit, Gehalt, Warensobsoleszenz. Unsere Warengesellschaft hält uns bis zum Tod in infantiler Abhängigkeit. Wir kompensieren selbst die Kompensation:

Sie essen, sie essen. Was sollen sie auch sonst machen? (Plattform)

Jed, der Held von "Die Karte und das Territorium",

hatte manchmal den Hypermarché ganz für sich allein - was ihm als eine ziemlich gute Annäherung ans Glück erschien.

Der Supermarkt, so Maris, wird "zum Naturpark unserer Gattung".

Der Künstler Jed sehnt sich ein Leben lang danach, "nützlich" sein zu dürfen. So wie sein Klempner, der jedoch, wie er entsetzt erfährt, einen Job als Meeres-Scooter-Verleiher in Aussicht hat. Darauf zerreißt Jed sein letztes Kunstwerk mit dem bezeichnenden Titel: "Damien Hirst und Jeff Koons teilen sich den Kunstmarkt". Die Houellebecqschen Protagonisten, Werbeleute, Manager, Romanciers, sind im Sinne Saint-Simons überflüssig. Was sie tröstet, ist banal: le fric, der Zaster. Maris erinnert an die alte Marxsche Unterscheidung: die Handwerker und Arbeiter sind es, die den Gebrauchswert herstellen - den Wert des Lebens, so Maris. Der Neoliberalismus zerstört die (alten) Berufe und dien alten Landschaften. Sie werden ersetzt durch Pappmascheepuppen, um den chinesischen Millionären auf Europatour die typischen Franzosen in typsch französischer Landschaft zu verkaufen.

Der Leser wird damit folgerichtig zu Fourier und Marx geführt. Der verdinglichten Arbeit ist die Leidenschaft entzogen. Houellebecq plädiert vehement für die Auffassung eines William Morris, der Abschaffung des Unterschieds zwischen Kunst und Handwerk, zwischen Konzeption und Exekution. Er nähert sichromantisch, weil verzweifelt dem vorindustriellen Produktionsmodus und - dies sei hinzugefügt -dem Philosophen Jean-Claude Michéa mit dessen Referenz an die "Common Decency" (Orwell) der "einfachen Leute". Es geht um nichts weniger als die Würde, um die gut gemachte Arbeit, und nicht darum der "reichste Mann auf dem Friedhof" zu werden (Max Weber).

Aber: Die Dinge verlaufen im Sinne von Malthus, den Maris zitiert:

Ein Mann,der in einer schon besetzten Welt lebt, ist überflüssig. Beim großen Bankett der Natur gibt es kein Gedeck für ihn.

Die "Natur" wird die Armen dezimieren - durch Krankheiten, Hunger, Kriege, Klimakatastrophen. Irgendwann werden die Menschen ihre Sinne nicht mehr anregen können. In Analogie zum Marxschen tendenziellen Fall der Profitrate findet sich bei Houellebecq eine Art "tendenzieller Fall der Begehrensrate". In "Die Möglichkeit einer Insel" existiert schließlich nur noch ein brutaler, stupider Menschenrest.

Ein pessimistisch gewordener Maris schreibt am Ende im Stil seines Freundes:

In den leerenStraßen von Rouen irren Banden junger Analphabeten umher, unbestimmt gewalttätig. Die Aufzüge der Défense transportieren gestresste betriebstreue Angestellte zu ihren Chefs, feingliedrig und unglücklich, dumm trotz ihrer Exeltabellen. Unten schlagen sich die Clochards. Alte Männer kaufen jungen Sex. Heranwachsende quälen einen Jüngeren. Eine Hippiefrau lässt ihr Kind in dessen Exkrementen. Snuff-Movies zeigen unglaubliche barbarische Taten - und die ganze Welt schminkt sich mit Wörtern der Ökonomie: Wachstum, Wettbewerb, Handel, Export... Was für eine Farce!

Das ironische Lachen von Oncle Bernard werden wir nicht mehr hören. Schon vor seiner Ermordung schien ihm das Lächeln nicht mehr zu gelingen.

Bernard Maris, Houellebecq économiste. Paris 2014 (Flammarion)

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